#1

Eisland

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 02.11.2006 11:37
von Motte (gelöscht)
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Wie kann sich innerhalb einer einzigen Nacht die Straße in eine Miniaturgebirgslandschaft aus Gletschereis verwandeln? Die Kälte treibt uns Schrecken ein, jagt uns und wir bleiben auf der Strecke, wenn wir über die eiswüste Straße stolpern und sich die spitzen Gipfel in unsere Schuhsohlen bohren. Vor lauter Eile kommen wir nicht vorwärts und es ist schwer, sich zusammenzuhalten, wenn die Glieder so sehr am Rumpf zittern, dass man nicht mehr für die Haltbarkeit der Fügstellen garantieren würde und Gelenke zu einfachen, schwergängigen Scharnieren werden, die sich nur noch mit großem Kraftaufwand in einer Richtung auf und ab bewegen lassen. Dann, wenn ein Teil noch hingestreckt daliegt, ein Bein, ein Knie, während ein anderer, der ausgefahrene Arm, halb ausgerenkt auch der Blick schon weiterhastet, unbeweglich und steif wie eine alte Puppe aus dünnem Plastik, deren Glieder mit überdehnten Gummibändern im Inneren verbunden sind.
Man muss sich ganz klein machen und die Luft anhalten, zusammenschrumpfen wie Trauben zu Rosinen, Gewicht verlieren wie trocknendes Obst, nichts in sich behalten, das gefrieren könnte und ganz konzentriert sein.
Zuerst verliert man den Sommer, das Verständnis dafür, wie man sich jemals so zerstreuen konnte, sich gehen lassen und die Grenzen des eigenen Körpers vergessen, der übergangslos mit Luft und Landschaft zu verschmelzen schien und ohne Zutun die Temperatur in wohlig-angenehmen Graden hielt. Er ist das Reiseziel des Jahres, die Zeit der Ankunft von Erwartetem mit der Aufregung darüber, ob das Hoffen – gezüchteten Hunger zu stillen, selbst gegebene Versprechen zu erfüllen – etwas wert war und ob die Wunschmarken, die vom langen In-der-Hand-drehen zu Hartgeld geworden sind und nun auf die Tische rollen, eingelöst werden können.
Der Sommer: nicht mehr über Brücken begehbare Vergangenheit, die Landzunge, nach der man sich bis dahin noch umdrehen konnte. Sie bricht ab wie zur Eisscholle geworden und treibt davon, uns am Pol zurücklassend, als sei das immer schon der eigentliche Bestimmungsort gewesen, der einzige Ort an den man gelangen kann, wenn man immer weiter läuft. Nicht mehr groß verschwindet er da am Horizont wie eine Kindheit und man selbst – versetzt, verstellt – ist irgendwohin vom Katapult der Nordwinde gesprungen.
Wie kann es da anders sein: Bei solcher Plötzlichkeit habe ich meine Mütze vergessen und durch mein Hirn zucken sekundenlange Krämpfe wie kleine elektrische Ladungen, Impulse, Eisschocktherapie, die den Verstand kurzschliessen, bis er angesprungen oder unwiderruflich lahmgelegt ist.
Der Winter klopft hier nicht an eine Tür, er ist unvermittelt, direkt, hat nicht viel Interesse an unseren Reaktionen. Vielleicht wirkt sich sein Charakter auf mich aus und ich höre auf, die Leute abzuschätzen, das Maß von mir, das sie vertragen können, nach dem ich mich immer viel zu freundlich richte, als hätte ich zuviel gute Erziehung genossen, verzogen, weil überzogen. Wieso symphatisiert man mit der Weichheit und ist bereit die Heuchelei für Höflichkeit zu halten, wobei Charakter doch immer schon in Härtegraden gemessen wurde? Sich reduzieren und dosieren ist die Gabe, das unverdiente Geschenk an die anderen. So einem Winter gegenüber kann jedoch niemand verlogen bleiben, denn er selbst behält nichts im Hinterhalt und zeigt sich frontal. Was soll man verbergen, er kennt ja schon die Schreckhaftigkeit, die Panik, die Grenze bis zu der wir seine kalte Umarmung ertragen, seinen Griff tief in unsere Eingeweide hinein.
Zwischen uns bleibt dennoch etwas Verlogenes stehen, verbissener vielleicht, in Posen verfroren und weniger kokett als im Sommer. Es macht uns keinen Spass, weil unsere erlernten Spielkünste - Sozialverhalten genannt - für das menschliche Miteinander nachlassen, auch was es an Herzlichkeit darin gibt, und unsere Beweglichkeit überall eingeschränkt ist, wobei wir doch wissen, dass wir es viel besser könnten. Aber so ist es eine ständige Kränkung der Eitelkeit, die Erfahrung der eigenen Ungenügsamkeit.
Mag sein, dass uns da die neue Art sich verbergen zu können gerade recht kommt. Wir haben so viele neue Nähte: den Mützenrand, den quergewickelten Schal unter der Nase entlang und unter den Knien endende Mäntel, sodass wir uns ganz fremd werden, als hätte man uns auseinandergenommen und wieder anders zusammengesetzt. Begegnet man sich auf der Straße, erkennt man sich nicht mehr sofort. Die neuen Kleidungsstücke verbergen das Charakteristische, die Körperlinie, die Wölbung des Hinterkopfs. Auch der Gang hat sich verändert, sich angeglichen, wenn jeder leicht vornübergebeugt mit zusammengezogenen Schultern läuft, genau wie die Blicke, die immer auf dieselbe Weise von unten mit den Augenlidern hochgeworfen werden. Sie finden keinen direkten Weg mehr in andere Gesichter, sind flüchtig und oftmals rutschen sie ab, ehe sie sich scharfgestellt haben. Man muss neue Erkenntniskataloge anlegen: nach Farben und Formen von Mützen und Mänteln.
Man muss sich überhaupt neu organisieren, Techniken entwickeln, um die Buskarte mit Handschuhen aus dem Portemonaie ziehen zu können, die neue Fühllosigkeit ausgleichen mit größerer Bedachtheit. Das macht uns langsam und behäbig. Aber die Trägheit ist nicht nur Folge, sie scheint etwas Selbstständiges zu bergen, das ihr Sinn und ein Existenzrecht gibt. Wir schmiegen uns in sie hinein wie in Kissen, als wenn ihr soetwas wie Nestwärme anhaften würde.
Nur kann das kaum reichen. Was machen wir mit unseren zappelnden Körpern? Ich würde dich gerne als Decke benutzen, deine Gänsehaut glattstreichen, verzweifelt, weil meine Hände nicht alle Stellen zugleich bedecken können. Aber gibt es noch eine Nacktheit unter all den Schichten von Kleidung? Von all den Lagen, in die wir eingehüllt sind, muss eine Haut sein. Wund vielleicht, wollezerkratzt. Aber diese Schichten setzen sich bis ins Unendliche fort, zwischen zwei Lagen ist immernoch eine dritte. Man hat uns auseinandergeschoben und die Kälte dazwischengestellt, welche Lebensbedingungen verschluckt, einen toten Raum bildet, in den man die Finger nicht lange ausstrecken sollte zur eigenen Gesund- und Sicherheit. Es bleibt also kein Raus- nur ein Reingehen und wo kann man durchgehend und bequem drinnenbleiben, als in sich selbst? Da haben wir unser inneres Asyl. Und wenn wir bis jetzt nicht gelernt haben wie wir uns besuchen können, ohne durch den toten Raum zu müssen, wird es einsam und monologisch werden, wir uns mit Blicketauschen aus Augenschlitzen begnügen, die irgendwann abbrechen müssen, weil sie sich zu missverstehen beginnen.
Haut hält den Entzug anderer Haut am Besten draußen aus, wenn sie sich schließt. Wenn sie im Warmen wieder halbdurchlässig wird, taut auch die Entzugserscheinung auf, sodass sie den Mangel fühlt wie eine Wundheit, als würde eine Hautschicht fehlen. So ähnlich, wie sich dem Raucher die Lust auf eine Zigarette durch ein im Hals steckengebliebenes Gähnen ankündigt, das man nicht verschlucken kann und das niemals herauskommt. Ein Pulsieren an der Oberfläche.
Aber das Schlimmste ist, wenn man sich daran gewöhnt und zu glauben beginnt, dass sich Haut eben so anfühlt, eine andauernde Störung: Das fehlende Gleichgewicht zwischen Draußen und Drinnen, das Drinnen, das immer absorbieren will, was das Draußen nicht hat und dafür alles andere einsaugt, viel zu dünne Luft, die den Tasthärchen nichts engegenzusetzen hat. Nichts lehnt sich an einen an und verbindet mit irgendetwas anderem, alles flieht. In einer heißen Badewanne ließe es sich für eine Weile aushalten, in einer Warmwasserkapsel ließe es sich leben, auch wenn dadurch nichts geheilt wird und man sich höchstens den winterlichen Bedingungen entwöhnt. Besser ist doch die Eisschocktherapie. Der Winter formuliert alles um und die Umwelt, wie man sie sich wünscht, hat es vielleicht auch vormals nie gegeben – besser man stellt sich: als Teil der Welt, die er verändert.
Mit der Zeit werden wir mutiger werden, ein neues Laufen lernen - wenn die Anspannung endlich zur Verteidigung taugt und wir etwas gefunden haben, das dazu dienen kann, sich von innen zu beheizen. (Auch wenn nicht du das sein kannst, weil mir da stattdessen die blaue Flamme ein Loch in die Bauchhöhle friert. Selbst wenn die Kälte manchmal bis an die Grenze der Erträglichkeit gerät und das Branndtgefühl mit der einsetzenden Taubheit nicht mehr von Hitze zu unterscheiden ist.)
Wenn nach Tagen die Gebirge abgetreten sind und sich die Fußwege in unregelmäßige Scheiben aus Plexiglas verwandelt haben, dann ahmen wir die Bewegungen von Skiläufern nach, finden heraus, wie man vorankommt – durch die Kälte und vor der Kälte davon.
Aber es gibt Wärmekanäle zwischen Menschen, auch wenn man sie selten zu sehen bekommt. Heimlich wird viel darüber spekuliert! Man darf nur nicht den Zeitpunkt verpassen, sie zu bauen, denn wer fängt mit Kanalbauarbeiten an, wenn es draußen längst schon friert?
Wenn jemand fragte: wann? - bei aller Amnesie des verlorenen Sommers - kann man nur antworten: Man muss sie immer schon gebaut haben in seinem ganzen Unvorbereitet-sein, seiner mangelnden Weitsicht und Ahnungslosigkeit über die Ausmaße der Witterung hinein in die ewige Wiederkehr derselben Überraschung und bevor diese sie erschüttern und ruinieren kann - und wobei man selber doch Baukörper ist mit unberechenbarer Statik.
Die Frage lautet: Wie weit sind wir damit gekommen? – Fertig ist man doch nie!
Vielleicht muss ich das, was ich für dich übrig habe für immer in mir verschliessen, in die blaue Flamme werfen oder es geht auf dem Weg zu dir in Rauch auf wie kondensierender Atem. Und wenn ich doch den Mut aufbringe, mich durch deine Jacken zu graben, ohne zu wissen, ob du noch da bist und wenn ich dich nicht mehr finden kann, dann nähre ich mich von deinem Geruch, der durch die Stoffe flüchtet bis ich feststelle, dass Kälte keine Gerüche trägt. Dann werde ich mich darüber wundern müssen, dass auch dieses schon eine Erinnerung ist, die mir etwas Gegenwärtiges vortäuscht, und darüber, dass es tatsächlich ein Gedächtnis dafür gibt. Und so werde ich hingehalten sein, auf verlorener Fährte bleiben, werde sein wie eine halbausgeführte Handlung, in der Haltung zwischen Aufstehen und Sitzenbleiben verharren. Und du wirst verblassen, ein von Schnee überwehtes Bild, ein Gewussthaben, etwas wieder zur Ahnung zurückgestuftes, eine an Schärfe verlierende Erkenntnis. Dein Geruch, zu dem vielleicht am Ende des Winters kein Gesicht mehr gehört, weil nichts so gut vergessen lehrt – wie die Kälte.

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#2

Eisland

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 07.11.2006 11:02
von kein Name angegeben • ( Gast )
Hallo Motte,

im ersten Moment bin ich sehr angetan von Deinen Ausschmückungen. Man könnte denken du studierst die Menschen tief im Inneren und schreckst nicht davor zurück, so eine Frage die lautet, "Wie geht es dir?", aus wahrem Interesse zu stellen.
Sorry, ich versuch mir gerade ein Bild von Deiner Person zu machen und eigentlich sollen ja hier die Werke konstruktiv kritisiert werden.
Aber eben genau diese eisig direkte Geschichte entfacht das Feuer meines Herzens, sodass ich zweifellos über Dich nachdenken musste. Soll nicht heißen, dass ich mich auf diesem Wege einschleimen mag.
Ich bin sehr bewegt von Deinen Zeilen. Sie sind eiskalt, weil wir Menschen nackt vor Deiner Betrachtungsweise stehen und doch gewärmt werden von einer menschlichen Sehnsucht, die Du gut zu kleiden vermagst.

WEITER SO!!!

Grüßle Huhmannfrau

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#3

Eisland

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 17.11.2006 14:08
von Motte (gelöscht)
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liebe huhmannfrau,

ich freue mich sehr ueber dein feedback und dass dich dieser text mitnehmen konnte. schön, wenn mir das gleichgewicht zwischen "kaltem und warmem blick" auf die menschen geglueckt sein sollte und dass sich das auch nicht aufhebt, irgendwie relativiert oder nicht zusammenpasst.. nun habe ich den text noch ein bisschen ausgebaut und kippe dieses gleichgewicht hoffentlich nicht.
das problem, dass der text sehr persönlich erscheinen muss, habe ich oft. es wäre mir selbst schon lieber, wenn autor-text distanz deutlicher wären, obwohl ich mich vielleicht auch ein bisschen hinter dieser strikten trennung verbergen möchte. es gibt hier keine richtige figur, auch der ich-erzähler ist kaum definiert, sondern viel beobachtung und innenleben. daran wird es wohl liegen..
danke fuer das kompliment und bestärkung braucht man immer!

liebe gruesse,
motte

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