#1

Hybrid

in Gesellschaft 01.04.2006 20:50
von Motte (gelöscht)
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I.

„Die Vertikale ist ein Zentrum.
Sie verweist auf etwas, das in die Tiefe geht.“
(Jannis Kounellis)


Verästelnd Auseinanderlaufen wie der
Tintenklecks auf Pergamentpapier,
in jede Richtung orientiert.
Etwas zu schaffen heißt,
es abzustecken, nicht,
es aufzurichten.

Es gibt keinen Turm zu Babel,
keinen Leuchtturm von Alexandria,
keinen Mittelpunkt der Welt.

Wir müssen alles selber sein,
wir haben keine Form,
wir sind grotesk.
Wir ragen nicht,
wir häufen nur und brökeln dann,
wir sieben, sammeln, filtern.

Wir sind die Medien der Medien,
sich anzapfende Netzwerke,
sind Absorbtionskammern
und Think-tank-Endveredlungslager,
Antennenbehangene
Nervensystemerweiterungen
mit Kapillarenkarma.

Es gibt keine Brunnen, keine tiefen,
es gibt keine vereinzelten Quellen,
Es gibt keinen Nabel, keinen Schoß.
Wir sind auf Streckbanken Gebundene,
da wir die Welt umfassen wollen
in nervenzerreißenden Umarmungen.


II.

Und sie dreht sich weiter.
Wir hätten sie gerne
Wie auf Zahnstochern gespießt
Zwischen Daumen und Zeigefinger.
Sie dreht sich weiter
Sich immer aus unserem
Zugreifen entwindend.


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#2

Hybrid

in Gesellschaft 01.04.2006 23:58
von Ulli Nois | 554 Beiträge | 554 Punkte
vier mal Motte,

obwohl mir alle Texte was sagen, beschränke ich mich erst mal auf zwei. Um 23.40 kann ich mich nur noch sehr reduziert äußern.

Heißt: weitgehende Zustimmung in der Aussage. Einige sehr schöne Bilder, z.B. die "nervenzerreißenden Umarmungen". Ästhetisch kommt es etwas karg daher, aber das entspricht wohl auch dem desillusionierenden antihybridalen Tonfall.

Kleiner Schreibfehler: "bröckeln" statt "brökeln"

Werde morgen noch mal reinschauen. Wer gegen die schreiber-eigene Hybris anschreibt ( was ich auch immer wieder versuche) läuft Gefahr, dabei selbst wieder besserwisserisch überlegen zu klingen (was ich bei mir oft erlebe). Bei deinem Text bin ich noch nicht ganz sicher, ob die vielen Behauptungssätze nur Ausdruck von Entschlossenheit sind oder ob da nicht auch ein bißchen Oberlehrerin durchschimmert...

Liebe Grüße, Ulli


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#3

Hybrid

in Gesellschaft 02.04.2006 16:26
von Motte (gelöscht)
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Hallo Ulli,

dank dir für die schnelle Rückmeldung zu später Stunde. Ja, diesen Buchstabendreher hab ich öfter drin, der Ringfinger ist immer schneller als der Zeigefinger..
..apropro Zeigefinger: den wollte ich mit dem Text eigentlich nicht erheben. Hybrid sollte hier eher im Sinne von zusammengesetzt-sein verstanden werden. Und die Aussagen sollten zwar schon absolut wirken, aber eher, weil das lyrIch sie laut und nachdrücklich aussprechen muss, um sein ratlos- und überfordert-sein auszudrücken..
Naja, vielleicht ist hier wirklich meine Hybris mit mir durchgegangen..

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#4

Hybrid

in Gesellschaft 02.04.2006 17:14
von Ulli Nois | 554 Beiträge | 554 Punkte
Guten Morgen Motte,

beim Lesen meines Kommentars von gestern habe ich den dringenden Wunsch zu betonen, dass der positive Gesamteindruck deines Gedichtes alles andere überwiegt.

Für Gedanken wie "Antennenbehangene
Nervensystemerweiterungen mit Kapillarenkarma" brauchen andere ein ganzes Buch. Danke auch für den Hinweis auf die griechische Etymologie von "hybrid": "gemischt, zweierlei Herkunft."

Ich denke dabei an unsere doppelte Herkunft aus Geist und Materie und wie wenig wir wissen über die Schnittstellen von Gehirn und Geist, den immer und überall statffindenden Austausch von Informationen zwischen Zellen, elektromagnetischen "Erregungen", "Quanten" ... oder der Wirkungsweise von Meridianen, Chakren ...

und trotzdem überwiegend so rumlaufen als sei das mit dem Leben (vor dem Tod und nach dem Tod) im Prinzip geklärt.

Die Forderung nach Selbstbescheidung, die aus deinem Gedicht spricht, spricht mir aus dem allertiefsten Herzen (auch wenn sie mir oft genug selbst nicht gelingt) und die Bilder, die du dafür findest, z.B. den "auseinanderlaufenden Tintenklecks", gehen mir mit jedem Lesen tiefer ein.

Meine Einwände sind weniger philosophische als ästhetische. Lassen sich diese Gedanken noch pointierter verdichteter formulieren? Beraubst du dich mit deinen affirmativen Sätzen möglicherweise deiner Wirkung auf den Leser?

Aber das war gestern. Auf mich haben diese Zeilen eine sehr große Wirkung und ich werde ihnen weiter nachdenken.

Liebe Grüße, Ulli

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#5

Hybrid

in Gesellschaft 05.04.2006 11:54
von Motte (gelöscht)
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Liebe/r Ulli,
schön, dass Thema und Inhalt dich erreichen konnten. Da das Bild (vom auseinanderlaufenden Tintenkleks) ziemlich frei interpretiert werden kann und dadurch vielleicht nicht so richtig fassbar wird, was eigentlich gemeint ist, freut mich das sehr. Weil es stattdessen die Phantasie des Lesers anregen kann und bei dir ist das gelungen.
Ja, es geht um die Wesenhaftigkeit des Menschen bzw. soll das Bild eine Sichtweise auf sein Wesen wiederspiegeln und den Leser dazu bringen, sich in irgend einer Weise mit diesem Bild zu indentifizieren. Ich selber habe dabei an den Menschen als Informationsverwerter gedacht.

Ja, die Form. Ehrlich gesagt hab ich nicht viele Gedanken daran verschwendet, außer dass ich mit den Anaphern für ein wenig Nachdrücklichkeit sorgen wollte. Bei gebundenen Gedichten weiß ich, wo was hin muss. Bei der freien Form ist da wohl ein bißchen Kreativität gefragt..

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