#1

Die Lesung

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 22.06.2005 10:38
von sEweil (gelöscht)
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Die Lesung.

Oft hört sich die Wahrheit viel mehr nach einer Ausrede an, als die Ausrede selbst.
Aber ich musste gar nichts sagen. Ihr strafender Blick, gepaart mit dem strafenden Blick des Lesenden ließen mich verstehen, dass Ausrede oder Wahrheit hier keine Rolle spielten.
Ich kam zu spät, platzte hinein, als hätte ich es zuvor trainiert, im Geiste durchgespielt, mit Freunden zu Hause geprobt.
Und da war er wieder, dieser strafende Blick, der mich traf.
Ruhig klappte er das Buch zu, legte es auf die Seite und holte ein kleines, Handgebundenes aus seiner Tasche.
Der Blick las laut daraus vor.
Geballte Gedichtsfluten brachen über uns herein. Weder Sinfonie, noch Klang, nur klingender Stahl hämmerte er uns in die Köpfe.
„Schitzngrbmn, Schitzngrbmn!“ Wie ein Hammer auf den Amboss. „Schitzngrbmn, Schitzngrbmn!“
„Das ist große Kunst!“ schrie einer euphorisch und wurde aus dem Saal getragen.
Ohne Unterbrechung ging das Bombardement weiter. Es hagelte auf uns herab, wie Kanonensalven, die Wolken auseinander reissen.
„Rrrrrtt-t-tt-t.“ Wieder dieser strafende Blick.
Ihre Fingernägel gruben sich in mein Fleisch. Verwunderung, pure Verwunderung und Ehrerbietung. Stilisiert in ihrem Geiste wurde er auf einen Thron gehoben, der bereits lackschwarz und braun glänzte.
Er zerlas unsere Gesichter, zerlas unseren Verstand, zerlas den Stolz unserer Väter.
Das Knallen, als er das Buch schloss ließ uns wieder zur Besinnung kommen.
Eine Pause wurde angesagt. Alle drängten in die Vorhalle. „Wahrlich ein Künstler.“ Kam es aus dem Mund des Einen. „Ein Genie!“ vom Anderen.
Die Kritikerstimmen in den Köpfen der Zuhörer schlugen Purzelbäume.
Zügig verließen sie das Gebäude, schwappten durch die Türen, über den Randstein. Verloren sich in alle Richtungen.
Wir waren sitzen geblieben. Die Letzten im Hörsaal.
Der Lesende beschloss selbst eine Pause einzulegen. Rasch packte er die Bücher ein und drängte aus der Hintertür, über den Hinterhof.
„Hinterrücks! Ein Dolchstoß!“ fantasierte sie, als ich bereits den Wischmopp ins Wasser tauchte und begann den Boden zu wischen.

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#2

Die Lesung

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 23.06.2005 09:44
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
Hi sEweil

Originelle Idee, eine Lesung aus der Sicht der "Putzkolonne" zu erzählen. Der Anfang gefällt mir ausserordentlich und auch die Wendung am Schluss. Dass jedoch der Autor, als einer der Letzten, den Saal verlässt, habe ich noch nie erlebt. Vor allem, weil ja alle so begeistert sind, die würden ihn doch um(b)ringen.

Gruss
Margot

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#3

Die Lesung

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 12.07.2005 10:25
von sEweil (gelöscht)
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Hallo Margot.

Danke fürs Feedback.

Sind die Lesenden immer so schnell im Abhauen wenns Pausen gibt?

Und wenn die Begeisterten in der Pause alle abhaun und der Author selbst und nur die Kritikerstimmen in den Köpfen sprechen, nicht sie selbst, würden sie ihn dann um(b)ringen? kA

Lg sEweil.

btw: Ich erlebte noch kaum welche, erzähl mir davon. pm oder mail.

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