#1

Kurt Tucholsky (1890 - 1935)

in Rumpelkammer 13.01.2008 17:02
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte


Augen in der Großstadt

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
dann zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? Vielleicht dein Lebensglück...
vorbei, verweht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast's gefunden,
nur für Sekunden...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück...
vorbei, verweht, nie wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es sieht hinüber
und zieht vorüber...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.

Die Frau in Rot

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#2

Kurt Tucholsky (1890 - 1935)

in Rumpelkammer 13.01.2008 17:31
von Joame Plebis | 3.690 Beiträge | 3826 Punkte
Ich weiß nicht, in welchem Jahr es geschrieben wurde;
es hätte auch gestern geschrieben worden sein können,
das Thema ist zeitlos.
Es ist ein Werk, das gefällt, aber nicht fasziniert ein 'Hach' hervorruft. So etwas kannst Du auch schreiben, dann würde ich ein 'Hach!' dazubemerken.

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#3

Kurt Tucholsky (1890 - 1935)

in Rumpelkammer 14.01.2008 18:42
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
... nur nicht übertreiben, Joame!

Genau, zeitloses Thema. Aus diesem Grund habe ich's eingestellt, weil ich es faszinierend finde, dass viele Dichter - Rilkes 'Begegnung in der Kastanienallee', oder Mattes 'sekundenschlaf' sind ähnliche Beispiele - sich diesem Thema widmen.

Ich habe selbst mal diesen, ominösen Augenblick einzufangen versucht, der so kurz ist und doch voller Möglichkeiten wäre. Leider ist mein Gedicht grottenschlecht geworden... also nichts mit Hach! Trotzdem ein Thema, das mir Gänsehaut verursacht. Evtl. probiere ich's mal wieder.

Die Frau in Rot

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#4

Kurt Tucholsky (1890 - 1935)

in Rumpelkammer 15.01.2008 16:04
von bas[ti]an (gelöscht)
avatar
hallo margot,

also ich finde das Werk hier gar nicht mal so schlecht und habe dann auch andere Tucholsky Werke gelesen...erinnert alles sehr an naturalistische werke, die mir irgendwo im hinterstübchen rumflattern...die anderen Werke von Rilke habe ich zwar gefunden, aber von Mattes nicht? ich habe zwar einen in heidelberg ansässigen dichter mit diesem namen gefunden, aber nicht das werk... dennoch tucholsky gefällt, vllt ein wenig ruppig...aber das ist auch genau meine fresse

LG basti
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#5

Kurt Tucholsky (1890 - 1935)

in Rumpelkammer 15.01.2008 22:41
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
Ah ja, der Dichter Mattes. Ein recht publikumsscheues Kerlchen. Kein Wunder, hast Du ihn nicht ergoogeln können. Ruppig? In der Tat!

Die Frau in Rot

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#6

Kurt Tucholsky (1890 - 1935)

in Rumpelkammer 15.01.2008 23:20
von Fabian Probst (gelöscht)
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wie gemein, Margot!!!

hier, bastian, findest du den großen mattes (der er wirklich ist, oder war)
sekundenschlaf
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#7

Kurt Tucholsky (1890 - 1935)

in Rumpelkammer 16.01.2008 00:26
von bas[ti]an (gelöscht)
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o manno

und ich bin hier gelandet

http://www.dilsberger.de/Kuenstler/Mattes/Mattes.htm

ich weiß jetzt nicht ob das erlaubt is aber kann ich ja morgen wieder löschen die url...jo den mattes den habe ich mir jetzt do a mal durchgelesen und ich bin von dem werk echt begeistert..na mal schaun wenn morgen zeit finger oder hand hergibt dann lese ich es mir noch mal in ruhe durch, ausser der "sekundenschlaf" *gähn* übermannt mich jetzt schon wie gleich...

also bis danni basti
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#8

Kurt Tucholsky (1890 - 1935)

in Rumpelkammer 28.09.2008 20:47
von Simone • Mitglied | 1.674 Beiträge | 1674 Punkte

Danach

Es wird nach einem happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt.
Man sieht bloß noch in ihre Lippen
den Helden seinen Schnurrbart stippen --
da hat sie nu den Schentelmen.
Na, un denn --?

Denn jehn die Beeden brav ins Bett.
Na ja ... diss is ja auch janz nett.
A manchmal möcht man doch jern wissn:
Wat tun se, wenn se sich nich kissn?
Die könn ja doch nich immer penn ...!
Na, un denn --?

Denn säuselt im Kamin der Wind.
Denn kricht det junge Paar 'n Kind.
Denn kocht sie Milch. Die Milch looft üba.
Denn macht er Krach. Denn weent sie drüba.
Denn wolln sich Beede jänzlich trenn ...
Na, un denn --?

Denn is det Kind nich uffn Damm.
Denn bleihm die Beeden doch zesamm.
Denn quäln se sich noch manche Jahre.
Er will noch wat mit blonde Haare:
vorn dof und hinten minorenn ...
Na, un denn --?

Denn sind se alt.
Der Sohn haut ab.
Der Olle macht nu ooch bald schlapp.
Vajessen Kuß und Schnurrbartzeit --
Ach, Menschenskind, wie liecht det weit!
Wie der noch scharf uff Muttern war,
det is schon beinah nich mehr wahr!

Der olle Mann denkt so zurück:
Wat hat er nu von seinen Jlück?
Die Ehe war zum jrößten Teile
vabrühte Milch un Langeweile.
Und darum wird beim happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt.



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#9

Kurt Tucholsky (1890 - 1935)

in Rumpelkammer 07.10.2008 19:43
von Maya (gelöscht)
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An das Baby

Alle stehn um dich herum:
Fotograf und Mutti
und ein Kasten, schwarz und stumm,
Felix, Tante Putti...
Sie wackeln mit dem Schlüsselbund,
fröhlich quietscht ein Gummihund.
"Baby, lach mal!" ruft Mama.
"Guck", ruft Tante, "eiala!"
Aber du, mein kleiner Mann,
siehst dir die Gesellschaft an...
Na, und dann - was meinste?
Weinste.

Später stehn um dich herum
Vaterland und Fahnen;
Kirche, Ministerium,
Welsche und Germanen.
Jeder stiert nur unverwandt
auf das eigne kleine Land.
Jeder kräht auf seinem Mist,
weiß genau, was Wahrheit ist.
Aber du, mein guter Mann,
siehst dir die Gesellschaft an...
Na, und dann - was machste?
Lachste.
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#10

Kurt Tucholsky (1890 - 1935)

in Rumpelkammer 30.10.2008 10:47
von Pog Mo Thon (gelöscht)
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Wenn die Börsenkurse fallen


Wenn die Börsenkurse fallen,
regt sich Kummer fast bei allen,
aber manche blühen auf:
Ihr Rezept heißt Leerverkauf.

Keck verhökern diese Knaben
Dinge, die sie gar nicht haben,
treten selbst den Absturz los,
den sie brauchen - echt famos!

Leichter noch bei solchen Taten
tun sie sich mit Derivaten:
Wenn Papier den Wert frisiert,
wird die Wirkung potenziert.

Wenn in Folge Banken krachen,
haben Sparer nichts zu lachen,
und die Hypothek aufs Haus
heißt, Bewohner müssen raus.

Trifft's hingegen große Banken,
kommt die ganze Welt ins Wanken -
auch die Spekulantenbrut
zittert jetzt um Hab und Gut!

Soll man das System gefährden?
Da muß eingeschritten werden:
Der Gewinn, der bleibt privat,
die Verluste kauft der Staat.

Dazu braucht der Staat Kredite,
und das bringt erneut Profite,
hat man doch in jenem Land
die Regierung in der Hand.

Für die Zechen dieser Frechen
hat der Kleine Mann zu blechen
und - das ist das Feine ja -
nicht nur in Amerika!

Und wenn Kurse wieder steigen,
fängt von vorne an der Reigen -
ist halt Umverteilung pur,
stets in eine Richtung nur.

Aber sollten sich die Massen
das mal nimmer bieten lassen,
ist der Ausweg längst bedacht:
Dann wird bisschen Krieg gemacht.

Kurt Tucholsky, 1930, veröffentlicht in "Die Weltbühne"
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#11

RE: Kurt Tucholsky (1890 - 1935)

in Rumpelkammer 15.10.2009 23:19
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte

Das Ideal

Ja, das möchste:
Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße;
mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn -
aber abends zum Kino hast dus nicht weit.
Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit:

Neun Zimmer - nein, doch lieber zehn!
Ein Dachgarten, wo die Eichen drauf stehn,
Radio, Zentralheizung, Vakuum,
eine Dienerschaft, gut gezogen und stumm,
eine süße Frau voller Rasse und Verve -
(und eine fürs Wochenend, zur Reserve) -
eine Bibliothek und drumherum
Einsamkeit und Hummelgesumm.

Im Stall: Zwei Ponies, vier Vollbluthengste,
acht Autos, Motorrad - alles lenkste
natürlich selber - das wär ja gelacht!
Und zwischendurch gehst du auf Hochwildjagd.

Ja, und das hab ich ganz vergessen:
Prima Küche - erstes Essen -
alte Weine aus schönem Pokal -
und egalweg bleibst du dünn wie ein Aal.
Und Geld. Und an Schmuck eine richtige Portion.
Und noch ne Million und noch ne Million.
Und Reisen. Und fröhliche Lebensbuntheit.
Und famose Kinder. Und ewige Gesundheit.

Ja, das möchste!

Aber, wie das so ist hienieden:
manchmal scheints so, als sei es beschieden
nur pöapö, das irdische Glück.
Immer fehlt dir irgendein Stück.
Hast du Geld, dann hast du nicht Käten;
hast du die Frau, dann fehln dir Moneten -
hast du die Geisha, dann stört dich der Fächer:
bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher.

Etwas ist immer.
Tröste dich.

Jedes Glück hat einen kleinen Stich.
Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten.
Daß einer alles hat:
das ist selten.

(1927)


Die Frau in Rot

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