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Boxer

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 02.01.2008 13:28
von Brotnic2um • Mitglied | 645 Beiträge | 645 Punkte
Constantin


Constatntin – Tino, Timo – Varela wurde 1975 in Hamburg Altona geboren. Er wuchs
gleich neben der Holsten Brauerei auf. Für seine Mutter Anita blieb er das einzige
Kind, weil kurz nach seiner Geburt ihre Gebärmutter entfernt werden musste.
Fußball- und sportverrückt nervte er mit seinem Freund Klaus-Dieter schon bald die
Nachbarn, weil sie stundenlang mit der Pille im Hof rumditschten. Sein Vater, Elias
Varela, ist gebürtiger Portugiese und Zimmermann von Beruf. Er ist selten zu Hause.
Nur im Winter ist er länger daheim. Ansonsten lebt er das Nomadenleben dieser
Gesellen. Er ist ein mürrischer, wortkarger Mann. Aber es sprudelt nur so aus ihm
raus, wenn man ihn nach der Zündapp fragt.

Die Zündapp


Die Zündapp war das Mofa, dass statt ihm sein damaliger Kumpan Armando
bekommen hatte. Elias war am 10.9.1964 mit Italienern, Spaniern, Türken und
seinem Kollegen Armando in Deutschland angekommen. Als sie im Bahnhof Köln
Deutz einfuhren, waren sie vollkommen verwirrt, weil sie erst nicht kapierten warum
so ein Trubel am Bahnsteig war und sogar eine Blaskapelle aufspielte. Sie hatten
keine Ahnung, dass in ihrem Zug auch der eine millionste Gastarbeiter war. Die
Deutschen hatten Pi mal Daumen ausgerechnet, dass in dem Zug der Millionste sein
müsste und dann hatten sie willkürlich auf einen Namen auf der Liste getippt:
Armando. Armando sollte der Millionste sein, einen Blumenstrauß, ein Diplom und
eben eine zweisitzige Zündapp geschenkt bekommen.
Aber eigentliche sei er, Elias, der eine millionste Gastarbeiter gewesen. Denn wenn
er nicht so dumm gewesen wäre, Armando bei der Odyssee nach Deutschland zu
beschützen, dann wäre Armando nie angekommen. Und dann hätte er, Elias Varela,
die Zündapp bekommen. Denn es war tatsächlich so, dass auch Varela ausgesucht
worden war. Auf die gleiche Art wie Armando. Nur eben als dessen Ersatzmann, falls
Armando es – aus welchen Gründen auch immer - nicht bis nach Deutschland
geschafft hätte. Und wäre Elias nicht gewesen, dann hätte es Armando auch gar
nicht geschafft. Sehr viel Glück hatte es Armando aber nicht gebracht. Er starb früh
an Magenkrebs.
Als Elias ein Jahr später erfahren hatte, dass er die Nummer Zwei war, hatte ihn das
tief getroffen. Zwei Wochen sprach er mit niemandem. Er war beleidigt.
Dieser Armando hatte damals doch schon Krebs. Überall. Vor allem im Kopf.
Armando hat gar nix in seinem Leben hinbekommen. Wäre ich nicht gewesen, wäre
er in den falschen Zug gestiegen, das wäre er. In dieser Art echauffierte sich Elias
dann immer wenn er diese Geschichte erzählte und immer wenn Elias diese
Geschichte erzählte, hatte Tino genau zugehört.

Erste Verdienste


Mit seinem Freund Klaus Dieter begann Timo - wie er auch gerufen wurde – dann im
zarten Alter von 10 Jahren seine Karriere als Kleinkrimineller. Sein erstes Opfer war
die Holsten Brauerei.
Durch ein Loch im Zaun sind die beiden Freunde hinten in die Brauerei rein, haben
leere Bierkisten rausgeholt und vorne gegen fettes Pfand wieder eingelöst. Das war
ganz einfach und es hat keine Sau interessiert. Das ging ein paar Wochen so. Hier
mal eine Kiste, da mal eine Kiste.
Als Tino in einer ruhigen Minute die Möglichkeiten überschlug, kam er zu dem
Ergebnis, dass er und Klaus Gewinne viel größer sein könnten. Der ganze Hof der
Brauerei stand ja schließlich voll mit diesen Kisten und auf jeder von ihnen stand in
Leuchtbuchstaben Taschengeld. Da hat Tino dann zugeschlagen. Gut organisiert mit
je einem Bollerwagen und Halteseilen, wurde die Sache angepackt. Es lief auch alles
prächtig nur dass zwei knapp elfjährige mit fünfundzwanzig Kisten doch auffällig sind.
Sein Papa war außer sich. Tino hatte drei Tage lang nicht sitzen können. Und dann
waren da auch noch Klaus Dieters Eltern, die seinen Vater und seine Mutter
beschimpften. Ihr Klausi sei angestiftet worden. Es war schrecklich. Aber am
allerschlimmsten war für Constantin, dass die zusätzlichen Einnahmen versiegt
waren. Taschengeld hatte es so gut wie keines gegeben. Mal ‚nen Groschen und
wenn Papa in Stimmung war, mal eine Mark – das war’s. Papa war selten in
Stimmung.
Während der Zeit des Pfandhandels hatte sich Constantins Lebensfreude stark
verbessert. Wie schön es war Geld in der Tasche zu haben – vor allem so leicht
verdientes - das hatte er in der kurzen Zeit erfahren dürfen. Danach kannte er den
Unterschied wischen Geld haben und Geld nicht haben. Geld haben, so befand Tino
trotz der bezogenen Prügel und eines roten Hinterns, Geld haben, war eindeutig
besser.
Es wurde ihm schnell klar, dass er an der Schule nicht lernen würde wie man schnell
Geld verdienen könnte. Im Gegenteil. Tino verstand nicht warum die Lehrer oder die
Streber so wenig aus sich machen wollten. Worauf warteten sie? Warum lernten sie
so lange, um dann nichts aus ihren Fähigkeiten zu machen? Jedenfalls sahen sie
nicht so aus als würde sich ihr Aufwand lohnen. Es gab doch genug Gelegenheiten
und Löcher im Zaun?


Onkel Oswald

Einen Lehrer schätzte er aber besonders: Onkel Oswald. Mutters jüngerer Bruder.
Ein Mann wie ein Klotz. Aus einem Guß und mit breitem Schädel. Damals war er
noch muskulös. Breite Hände, aber nicht plump. Er kam einmal im Monat vorbei,
schlug sich die Wampe voll, lobte Mutter über den grünen Klee für das Essen und
dass sie doch endlich ein einfaches Restaurant, mit einfachen Speisen und keinem
Schickimicki aufmachen sollten. Der Einemillionenundeinste – wie Oswald Papa
immer nannte – solle nicht so ein romanischer Chauvi sein und in etwas investieren
was mehr Zukunft hätte, als fremde Dächer zu bauen.
Wenn Oswald satt war, dann spielte er mit Tino Spielchen. Oswald kam schnell
dahinter, dass Tino eine Gabe hatte. Eine Gabe die Oswald hoch spannend fand.
Tino war schnell. Verdammt schnell. Als Oswald sich wieder vollgehauen hatte und
bräsig in der Mittagssonne auf dem Küchenstuhl sass, winkte er Tino heran. Pass
auf, sagte er und holte ein Fünfmarkstück aus der Tasche. Der Heiermann gehört dir,
wenn Du ihn mir aus der Hand nehmen kannst. Aber Du darfst erst zugreifen wenn
ich los gesagt habe. Anita wollte einschreiten. Fünf Mark. Das sei viel zu viel Geld für
den Kleinen. Papperlapapp meinte Oswald nur. Also spielten sie.
Tino wollte zunächst aber wissen was passiert, wenn er es nicht schaffen würde. Die
eine oder andere Lektion hatte er ja schon gemacht. Oswald schnalzte anerkennend
mit der Zunge. Kluger Junge, lobte er anerkennend. Kluger Junge. Regel Nummer
Eins: Das erste mal ist immer umsonst. Und dann hielt Oswald seine linke Hand auf.
Sie war leer.
Doch ehe Tino sich versah, griff Oswald an Tinos rechtes Ohr und zauberte den
Fünfer hervor. Oswald grinste ihn an. Sein Onkel hatte schiefe Zähne, kurzes
flachsblondes Haar und leuchtend blaue Augen. Der Silberling glänzte in der Sonne.
Sein Onkel platzierte den Taler aufreizend langsam auf seiner große Pranke. Dann
schaute er seinen Neffen an. Lächelte und sagte nichts mehr. Tino wusste instinktiv
worauf es ankam. Nur auf das Zeichen warten. Nicht irritieren lassen.
Oswald wartete lange. Aufreizend lange. Dann endlich sagt er los. Oswald hatte nur
einen ganz leichten Wischer über seiner Hand bemerkt und sah dann gerade noch
wie Tino mit dem Geldstück aus der Küche rannte und immerzu rief: Gewonnen,
gewonnen.
Dein Junge ist ein Ass, Anita. Kann was großes aus ihm werden. Red ihm keine
Dummheiten ein, war stattdessen Anitas Antwort. Anita liebte ihren Bruder, aber
wusste, dass er ein Hallodri war.
Als der Onkel wegging, an dem Tag als Tino das Geld gewonnen hatte, nahm er
seinen Neffen noch mal beiseite und flüsterte ihm zu, dass er noch viele andere
Regeln kennen würde. Viel tollere Regeln und ob Tino die lernen wolle? Natürlich
wollte Tino, beseelt von dem Glauben, dass jede Regel einen Fünfer bringen würde.
Gut, sagte Oswald, aber nur unter einer Bedingung. Welche?, wollte Timo wissen. Zu
keinem ein Wort über die Regeln. Nicht zu Papa und schon gar nicht zu Deiner
Mutter. Gibst Du mir Dein Wort drauf? Ja, antwortete der Kleine Junge. Gut. Dann
erzähle ich Dir jetzt Regel Nummer zwei: Brich niemals Dein Wort!

Erziehung


Es sollten noch viele Regeln folgen, die Constantin sammelte und sorgfältig in ein
kleines Oktavheft übertrug und auch später noch immer bei sich trug. Er, Oswald und
der dritte Mann, Javier aus Havanna, trafen sich häufiger. So lange Constantin ein
niedlicher Junge war, war er ein idealer Lockvogel und bald auch ein flinker,
unauffälliger Taschendieb. Oswald und Javier zeigten Tino eine Welt voller
Menschen, die nur darauf warteten, beschissen und wie Gänse ausgenommen zu
werden. Je reicher und klüger sie aussahen umso gieriger waren sie.
Einen Moment sah es für ihn so aus, dass über den Jungfernstieg nicht Menschen
sondern offene Brieftaschen flanierten. Es war wie mit den Kisten der Holsten
Brauerei: Überall stand klau mich drauf.
Es gab drei Dinge auf die Oswald bei Tino achtete. Tino musste lesen, schreiben und
rechnen können. Oswald schwor auf diese Tugenden und den Dreisatz. Wenn Du
den kapiert hast, kannst Du Geschäfte machen und Du musst das Geschäft im Kopf
ausrechnen können. Wenn Du auf der Straße den Taschenrechner zückst, bist Du
nicht nur ein Trottel, du zeigst dem anderen auch noch, dass du ihm nicht traust. Das
muss im Kopf geschehen – und es muss schnell geschehen. Darauf folgten zwei
neue Regeln: Nummer siebzehn: Ein Geschäft mit einem Idioten ist ein gutes
Geschäft. Nummer 18: Lerne, dass Du nicht der Idiot bist.
Drogen - auch Alkohol - verbot Oswald Constantin. Oswald selbst war kein Heiliger.
Er kokste – nicht übermäßig aber regelmäßig – und nicht selten kippte er auch
Schnäpse. Er fand dass hier und da ein „g“ in der Nase, den Druck erträglicher
machte. Niemals aber im Beisein des Jungen. Er hielt die Fassade aufrecht, um
seinen Neffen zu beeindrucken und anzutreiben. Und er sollte noch mehr und
anderen Sport machen als nur mit der Pille rumzuditschen.

Neuer Sport


Als Tino vierzehn Jahre wurde, kam Kollege Javier – der gelernte Langfinger und
Beutelschneider ihrer Gruppe - vorbei und holte ihn im Auftrag Oswalds ab, um
Constantin Og Ma vorzustellen. Og Ma sollte den Kleinen in der Technik des Muay
Boran ausbilden.
Sein Onkel, der Javier und seinen Neffen, vor einem ausnahmsweise mal nicht mit
Sexschildchen bepflasterten Wohnhaus in der Schmuckstraße erwartete, empfing
Constantin mit den Worten: Mach mir jetzt keinen Ärger und benimm Dich anständig.
Ich werde Dich jetzt zu Deiner Lehrerin bringen. Constantin war enttäuscht. Og Ma
war also eine Frau. Tino wusste, dass er Privatunterricht in irgendsoeiner
Kampfsportart kriegen sollte, aber er hatte nicht gewusst, dass sein Lehrer eine
Lehrerin sein würde. Wie sollte das gehen?, fragte er sich. Als er dann oben
angekommen war, war er vollends davon überzeugt, dass sein Onkel den Verstand
verloren haben musste, oder ihn zum Geburtstag veräppeln wollte. Die Frau war
mindesten vierzig Jahre alt, schätzte Constantin, und sie würde bei dem Versuch, so
was wie Karate zu machen, auseinanderbrechen.
Oswald ließ sich aber nicht beirren. Er ging zu Og Ma, verneigte sich ganz tief vor ihr
und trat mit der stummen Aufforderung an seinen Neffen es ihm gleichzutun, zur
Seite. Der aber ging nur näher, inspizierte die Dame missmutig von oben bis unten
und meinte dann nur: Schwachsinn.
Auch wenn Constantin hätte mehr sagen wollen, er wäre nicht mehr dazu
gekommen. Er empfand kurz einen fürchterlichen Schmerz und dann war bei ihm das
Licht ausgegangen. Die alte Schachtel hatte ihm in affenartiger Geschwindigkeit mit
ihrem Fuß sein freches Mundwerk gestopft. Als Constantin sich vom KO erholt hatte,
stand er auf und verbeugte sich nun auch vor der knapp sechzigjährigen Og Ma.

Og Ma


Og Ma ist die Tochter des südchinesischen Heizers Pai Lee. Pai Lee landete in
Hanbao – wie die Chinesen Hamburg nennen - Anfang der zwanziger Jahre und kam
schnell als Koch im China Town von St. Pauli unter und heiratete auch dort. Das war
schon ungewöhnlich, denn viele wollten wieder in die Heimat zurück und vermieden
derartige Bindungen. Noch ungewöhnlicher aber war, dass er eine Thai geheiratet
hatte.
In der Zeit des Naziterrors hatten dann auch Pai und seine Frau vor, es den vielen
anderen ihrer Landsleute nachzumachen und in die Heimat zurückzukehren. Aber
irgendetwas hatte sie dann doch immer aufgehalten. Und 1940 kam Og Ma zur Welt.
Bei der Geburt starb ihre Mutter Nun war an eine Überfahrt vorerst nicht zu denken..
Immerhin hatte Pai Lee Kontakt zu der deutschen Hebamme Gerda Arens – der
Großmutter von Oswald und Anita – die ihm das eine oder andere Mal aus dem
schlimmsten Schlamassel herausgeholfen hatte, wenn seine Landsleute oder der
Bruder seiner Frau auch nicht mehr helfen konnten. Da Pai Lee hart und lange
arbeitete, überließ er Og Ma häufig der deutschen Hebamme, die einen Narren an
der Kleinen gefressen hatte.
Bevor er die Überfahrt nach China wagen wollte, sollte Og Ma erst noch kräftiger
werden. Aber 1941 - mit dem Kriegseintritt Chinas gegen Japan und Deutschland –
war die Flucht unmöglich und Hanbao eine Falle geworden.
Es war eigentlich schon ein Wunder, dass sie die Bombenangriffe überlebt hatten,
aber der 13.5.1944 sollte für Og Ma und ihren Vater ein noch schwärzerer Tag
werden. Die so genannte Chinesen Aktion fand statt.
Mehrere Gestapo Männer mit Maschinenpistolen bewaffnet, trieben im
Morgengrauen auf der großen Freiheit, in ganz St. Pauli, alle chinesisch, asiatisch
aussehenden Menschen auf einen Platz. 165 waren es am Ende. Alarmiert durch die
Aufregung seiner Freunde und Kollegen hatte Pai es noch geschafft Og Ma zu Frau
Arens zu bringen, deren Familie auch in St. Pauli lebte. Sie verstand gleich worum es
ging und nahm sich des Mündels an.
Pai Lee aber fand sich kurz darauf im Polizeigefängnis Fühlsbüttel und dann im
Arbeitslager Wilhelmsburg wieder. Von da aus sollte er nicht mehr zurückkehren.
Gerda nahm sich der Kleinen mit Hingabe an auch gegen die massiven Widerstände
in ihrer Familie. Es gab so gut wie nichts zu essen und ein vier, fünf jähriges, fremdes
Balg durchzufüttern, hielten viele für bekloppt, wenn nicht lebensbedrohlich. Es gab
Momente da hatte die Ziehmutter Angst, dass ihre Familie die Kleine aussetzen oder
ihr schlimmeres antun würden.
So war Gerda zum einen froh aber auch traurig als im Februar 1946 ein asiatisch
aussehender Mann an ihre Tür klopfte. Er hatte ein Bild und ein Brief von Pai Lee
dabei. In dem Brief bedankte sich Pai Lee für Ihre Hilfe und bat aber darum, Og Ma
an den Überbringer des Briefes auszuhändigen. Fast ein Jahrzehnt sollte vergehen
bis sie die beiden wieder treffen sollte. Der Mann hieß Nathakor und hatte das Jahr in
der Nazi-Gefangenschaft überlebt und sich nach anfänglichen Schwierigkeiten mit
den Briten auf die Suche nach Og Ma gemacht.
Nathakor hatte es Ende der Zwanziger nach Hamburg geschafft und folgte so seiner
Schwester, der Frau von Pai Lee. So lernten er und Pai Lee sich kennen und
schätzen. Pai Lee vertraute Nathakor und „vermachte“ ihm Og Ma.
Nachdem es Nathakor gelungen war Og Ma zu finden, ging er zurück nach Thailand.
Dort aber fand er sich auch nicht mehr zurecht. Das Kind wurde als Wechselbalg
geschnitten. Und als er von dem Wirtschaftsboom in Deutschland hörte, machte er
sich nach knapp zehn Jahren wieder mit Og Ma nach Hamburg auf.
Außer ausdauernd zu arbeiten, hatte Nathakor noch eine Fähigkeit : er war ein
ausgezeichneter Muay Boran Kämpfer. Seine Erziehung an Og Ma lief größtenteils
darauf hinaus, ihr diese Kampfkunst einzuimpfen. Nathakor, wollte dass die kleine
Tochter seines Freundes lernte, sich wie ein Krieger zu wehren. Und Og Ma lernte
gut und lernte schnell.
In Hamburg sollte neben der kleinen chinesischen und noch viel kleineren
thailändischen Gemeinde wieder mal Familie Arens helfen. Beziehungsweise ließ
sich Gerda gar nicht davon abbringen zu helfen. Nathakor hatte eigentlich nur
vorgehabt Og Ma die Frau zu zeigen, die ihr mal das Leben gerettet hatte.
Die Spätfolge dieser wiederholten Begegnung der Familien war, dass Enkel Oswald,
nachdem er Oma mit ihrer – wie es hieß :„seltsamen“ - Freundin einmal angetroffen
hatte, sich magisch zu ihr und ihrem Vater hingezogen fühlte. Das roch und
schmeckte Oswald anders, als roter Klinkerputz und Kohlroulade. Das war die weite
Welt, das Abenteuer. Auch Og Ma mochte Oswald, denn sie begriff, dass dieses
Schlitzohr, dieser Tunichgut vielleicht ihren Vater bestohlen, aber niemals zu Tode
geprügelt hätte. Ihn Dinge zu lehren, die ihm helfen und den Tätern von einst das
Leben schwerer machen würde, das bereitete ihr stets etwas Genugtuung. Auch vor
dem Hintergrund, dass weder Sie noch irgendein anderer der verfolgten Asiaten –
Chinesen zumeist - auch nur einen Pfennig Entschädigung erhalten hatten. Sie
galten und gelten als nicht verfolgt.
Nun stand ein neuer Oswald vor ihr. Ein Mischling. Anders als der grobschlächtige
Oswald. Drahtiger, femininer, aber nicht so verschlagen. Nein, dieser junge Kerl hatte
noch etwas von der Essenz, die bei Oswald restlos aufgebraucht war: Ehrlichkeit.
Oswalds Worten war einfach nicht zu trauen. Sie wusste das. Der kleine Constantin
aber nicht. Aber seine erste Lektion: Respekt vor dem Lehrer, die hatte er jetzt
gelernt.

Wendezeiten – Herrscher der Erde


Es kam die Wende und Oswalds Geschäfte liefen prächtig. Prächtiger als prächtig.
Grandios. Heerscharen dümmster Bauern konnte es nicht abwarten Geld
loszuwerden. Egal unter welches Fenster er sich auch stellte; es regnete Geld. Und
dieses mal war es sogar nahezu legal. Statt Trickbetrügereien und ein bisschen
Hehlerei, machte der große Oswald nun in Autos.
Als die ersten Knetgummi Karren der Ossis durchs Brandenburger Tor getackert
kamen, war Oswald am nächsten Tag schon auf Einkaufstour. Oswald hatte alle
Kohle zusammengerafft, Hänger gemietet, Mistkarren aufgemotzt, dass heißt.
lackiert und startete nach nur drei Wochen Vorbereitung seinen Treck gen Osten.
Claims abstecken, nannte er das.
Er schaffte es bis Berlin Marzahn. Die Leute waren so dämlich, dass sie die Wagen
sogar noch vom Hänger runterkauften und Oswald genehmigte sich ein „g“ mehr als
üblich. Wenn Constantin ihn anrief, pflegte Oswald sich nur noch mit: Herrscher der
Erde zu melden.
In dieser Zeit rutschte Constantin in der Schule etwas ab, packte aber letztlich doch
noch den von Muttern erhofften Realschulabschluss. Nicht zuletzt wegen der
Arbeitsdisziplin, die seine Lehrerin Og Ma ihm geduldig eingeimpft hatte.
Aber, 1992, mit Siebzehn, drei Jahre nachdem er bei Og Ma in die Lehre gegangen
war, verabschiedete er sich von seiner Mutter und ging zu Oswald nach Berlin. Er
werde eine Lehre als Autoverkäufer bei ihm machen, log er sie an und sie erwiderte
nur: ach, scheiß ich glaubs. Papa? Papa war immer noch Zimmermann und lebte das
Nomadenleben dieser Gesellen. Er war eigentlich schon zu alt, um noch auf den
Gerüsten rumzuklettern.
Oswald selber holte ihn vom sagenumwobenen Bahnhof Zoo ab. Es stank wirklich
nach Pisse und der Bahnhof war eine Ranzbude wie Oswald zu sagen pflegte. Es
ging aber nicht ins Geschäft wie Tino vermutet hatte – da kannste nur den Ossis das
Geld aus der Tasche ziehen und depressiv werden - , sondern ins Marcello Inn einer
berüchtigten Kneipe zweier stadtbekannter boxender Brüder. Es stellte sich heraus,
dass Oswald seine Regel 8 – Keine Glückspiele! – gestrichen hatte. Im Hinterraum
der kleinen Eckkneipe wurde heftigst gezockt. Die Kneipe befand sich am
Savignyplatz – ein Platz wo Studentencafe, Touristenkneipe, Künstlerbar und ein
Puff namens Sophie nebeneinander standen.
Constantin fühlte sich nicht glücklich auch wenn Oswald sich hervorragend
amüsierte. Man, Tino sei doch nicht so verkrampft. Ist ja furchtbar. Geh rüber zu
Sophie, Knall die dralle Schwatte mit den dicken Tüten aber um Himmels Willen
entspann dich. Ent-spann dich! Aber pass beim knallen auf, dass der Dicken nicht ihr
Fiffi vom Kopf fällt. Und dann jubelten sie über Oswalds dumme Sprüche. Tino war
genervt. Es war nicht der Ton, es war auch nicht der Umgang – Chinesenkalle und
Consorten kannte er zu genüge aus Hamburg und vom Brilliantenbehang auch
hochkarätiger. Die Runde hier um Oswald schien ihm vergleichsweise bieder. Da war
die Hansestadt der Hauptstadt über. Da hatte Oswald auch nicht so einen auf dicke
Hose machen können.
Aber für die nächsten Jahre musste sich Tino an dieses Flair gewöhnen und zog mit
der Truppe um Oswald und einem der Brüder – dem Ruhigeren und Älteren von
beiden – um die Häuser und quer durch Deutschland von Boxevent zu Boxevent, bis
es 1995 in Manchester alles endete.
Zwischen den Kämpfen schaute der Herrscher der Erde zwei-, maximal dreimal die
Woche nach seinem Autogeschäft. Javier hielt dort die Stellung und als Tino und
Javier sich wieder sahen, waren sie beide erfreut. Tino hatte in diesem Augenblick
das Gefühl gehabt in Javier sei ihm ein Freund erwachsen. Ein seltsames Gefühl. Zu
der Zeit wo Timo bei Oswald in Berlin anheuerte gingen die Geschäfte noch ganz
gut. Der große Geldregen war zwar vorbei, aber es war noch richtig gut wie Oswald
behauptete. Aber mit dem Autogeschäft selbst, sollte Tino nichts zu tun haben.

Die Marcello Brüder


Tino war Oswalds Leibwächter. Der Bodyguard. Und er musste die Negerjobs
machen: hol dies. mach das. Tino hielt die von Tag zu Tag unerträglicher werdende
Art seines Onkels aus, weil die boxenden Brüder – Mario und Marco - wenn sie im
Ring standen hervorragende Kämpfer mit großem Herzen waren.
Tino studierte ihre Kämpfe. Zum Beispiel die Verbissenheit und die Deckungsarbeit
von Mario dem jüngeren von beiden. Er war ein unglaublicher Fighter. Aber unstet im
Training. Keine Disziplin. Aber wenn er marschierte, dann war er durch nicht zu
bremsen. Er hielt seine Doppeldeckung von der ersten bis zur letzten Runde wie ein
Panzer vor sein Gesicht. Die Gegner arbeiteten sich an ihm ab wie an einer Wand.
Nur dass die Wand auch noch zurückschlug. Schnelle, die Luft nehmende Haken auf
den Körper. Mario war ein Panzer im Ring. Aber nur wenn er selber fit genug war.
Abseits des Rings hielt man sich besser von ihm fern und wie bei einem
Silberrückenmännchen vermied jeder den Blickkontakt mit ihm. Abseits des Ringes
war er völlig durchgeknallt.
Bei Marco schätzte Tino das Auge, das Timing und den stets wachen Verstand.
Marco war während eines Kampfes immer voll ansprechbar. Er diskutierte mit
seinem Trainer auch noch in der achten Runde. Tino verstand nicht wie jemand, der
so unter Adrenalin steht, imstande war, seine Umwelt noch so klar wahr zu nehmen.
Das sollte Marco auch den WM-Gürtel im Cruisergewicht bringen. Das und seine
fürchterliche rechte Kelle. Konsequentes Training war aber auch für ihn ein
Fremdwort im Gegensatz zu einem feuchtfröhlichen Abend gegen den er selten
etwas einzuwenden hatte und dieser Laxheit verdankte er es, dass er seinen ersten
WM Kampf 1992 sang und klanglos verloren hatte.

Dida Diafat und Der Gepard


Im Gegensatz zu seinem Bruder war Marco kein Silberrücken. Zwar hatte Tino ganz
wenige Gelegenheiten gehabt mit Marco ein, zwei Sätze zu wechseln, weil sein
Onkel meist dazwischenstand oder drängte, wenn er mal die Gelegenheit hatte. Aber
das wenige hatte ihm gereicht. Zum einen, weil Marco ihm nach dem er schon zwei
Monaten ohne Training gewesen war, einen Hinweis gab wo er seinen Sport
trainieren könnte und zum anderen weil Marco ihn gefragt hatte, ob er, Tino, jetzt ein
deutscher Dida werden wolle.
Ein Deutscher Dida? Constantin gelang es die Peinlichkeit zu kaschieren, Dida Diafat
nicht zu kennen. Kurz danach hätte er die Frage beantworten können und sich
geschmeichelt gefühlt.
Constantins Sport, Muay Boran, ist der Vorläufer des Muay Thai, des Kickboxens.
Die Kampftechniken waren vor über zweitausend Jahren entwickelt worden. Sie
sollen einen Krieger in die Lage versetzen auch nach dem Verlust seiner Waffen mit
seinem Körper als Waffe weiterzukämpfen. Ziel ist es mit jedem Schlag ob mit Knie,
Fuß, Ellenbogen, Schienbein, Hände oder Kopf ausgeführt, den größtmöglichen
Schaden beim Gegner anzurichten. Die Schlagtechniken wurden mit den
Angriffstechniken bestimmter Tiere verglichen und bekamen so ihre Namen.
Während im Muay Thai bestimmte Schläge wegen ihrer Gefährlichkeit verboten
wurden, ist im Muay Boran alles erlaubt und alle Waffen des Körpers auf jegliches
Körperteil einsetzbar. Geschwindigkeit und Präzision sind dabei unabdingbar. Und
ein gutes Auge für den Gegner, um an seiner Muskelspannung die nächsten Züge
vorauszusehen.
Diese Fähigkeit, so Og Ma, sei wichtiger. als die Wirkungskraft der eigenen Technik.
Sie kenne Tischtennisspieler, die anhand der Rotation des Schriftzuges auf dem Ball,
den Schnitt erkennen können und daher nur noch an sich selbst scheitern könnten.
Jeder passable Kämpfer kann dich mit einem Schlag töten. Aber nur ein guter
Kämpfer weiß auch den Zeitpunkt bevor es geschieht. Ein guter Kämpfer wird keine
Kraft verlieren, keinen Schlag ansetzen und damit seine Deckung verlieren, wenn er
nicht sicher ist, sein Ziel so zu treffen wie er es geplant hat.
Oswald, der es unter den Händen von Og Ma noch nicht mal zu einem passablen
Kämpfer gebracht hatte, aber ein gutes Einfühlungsvermögen besaß, winkte nur ab,
wenn Tino ihn in der Anfangszeit seiner Ausbildung nervte, warum ihn Og Ma nie
angreifen lasse und er immer nur ihre Bewegungen studieren müsse. Dann pflegte
Oswald zu sagen: Es ist wie in jedem anderen Sport: die Lehrer lehren dich die
Defensive, weil du jetzt nur offensiv denkst. Weil Du keine Phantasie hast, weil Du
nicht oft genug ins Messer gelaufen bist. Also vertrau ihr, Tino, denn noch kann sie
jederzeit über den Zeitpunkt deines Todes verfügen. Und solange sie das kann,
solltest Du sie studieren. Diese Geduld fiel Tino schwer auch als Oswald ihm sagte,
dass er selbst vielleicht ein oder zwei Attacken von Og Ma würde abwehren können,
aber keine Chance hätte, sie erfolgreich anzugreifen, blieb Constantin überzeugt
davon, schneller zu sein, als seine Lehrerin.
Og Ma erkannte auch die Fähigkeit ihres Schülers.: Schnelligkeit. Schnelligkeit
gepaart mit Respektlosigkeit. Sie musste aber an dem Jungen verzweifeln oder er an
ihr. Denn sie hörte nicht auf, ihn in seinem letzten Jahr seiner Unterrichtung damit zu
nerven, dass es ihm an Präzision fehle und er sich am Ende doch täuschen lasse.
Du bist der schnellste aller Geparden, aber auch der, der zielsicher gegen den
einzigen Baum in der Steppe laufen wird und du wirst den Baum nicht brechen
können. Im Gegenteil, denn der Baum ist geduldig und ruhig und wird dich schon
lange vorher bemerken.
Als Constantin wegging, wussten beide, dass er neue Lehrer brauchte oder einen
Schritt näher zur Spitze des Messers machen musste, um wieder Respekt zu
bekommen. Nicht zuletzt auch deswegen, weil er im Laufe des letzten Jahres Og Ma
hatte schlagen können. Es war ihm sogar gelungen, sie ein oder zweimal wirklich zu
überraschen. Kurzum: er war schnell, aber Og Ma nicht überzeugt.
Vielleicht hätte auch Dida nicht den Ansprüchen von Og Ma genügt, aber Dida Diafat
hatte gezeigt, dass er geduldig war. Diafat, Kind algerischer Einwanderer in
Frankreich, ging mit achtzehn Jahren nach Thailand, stellte sich wochenlang vor den
Eingang einer berühmten Kampfsportschule und bat um Aufnahme. Sein Talent,
seine Schattenbox Einlagen, seine Demut und Geduld knackten schließlich die
Schlösser der Eingangspforte. Und nach Einlass und weiteren drei Jahren später,
1992, wurde er das erste mal Weltmeister. Als erster Ausländer überhaupt. Tino war
fasziniert von diesem Werdegang. Er rechnete sich sogar größere Chancen aus,
aufgenommen zu werden, weil Og Ma ihn Techniken gelehrt hatte, die zwar im Muay
Thai verboten waren, aber in seinen Augen komplizierter zu erlernen waren. Die Tore
jeder Kampfschule würden ihm doch von vornherein offen stehen?

Javiers Prophezeiung


Diese und ähnliche Gedanken bewegten Constantin mit seinen knapp achtzehn
Jahren, als Oswald ihn eines Morgens fragte wann er denn endlich Prüfung hätte.
Constantin wusste überhaupt nicht was in Oswalds Schädel vorging. Deine Pappe,
man? Ich habe keinen Bock mehr, selber durch diese Baustelle von Stadt zu fahren.
Also, wann können wir auf meinen neuen Fahrer anstoßen? Oswald flog aus allen
Wolken als Javier ihm schonend beibrachte, dass der Junge noch nicht eine
Fahrstunde gemacht hätte. Außer zwei, drei illegaler Spritztouren. Oswald war
stinksauer auf Javier. Dann glühten Drähte. Drei Monate später hatte Constantin in
Hamburg Prüfung. Besser gesagt, er konnte sich seinen Führerschein mehr oder
weniger abholen. In der Zwischenzeit hatte Javier jede Gelegenheit genutzt, ihm das
Fahren beizubringen. Er verstand sich mit Javier immer besser, der ihm auch
anvertraute, dass die Geschäfte schwerer geworden seien.
Die Dummen lernen, verstehst Du? Ich bin kein Autoverkäufer und Oswald auch
nicht. Ich bin ein anständiger Taschendieb. Keine Autoputa. Ich gehe jeden Morgen
zur Arbeit wie ein dummer cabron, ein Hurensohn. Während sich dein Onkel wie eine
verruckte Madonna aufführt. Tino verstand aber nicht warum sie nicht wieder wie
früher auf der Straße arbeiteten, und da wurde sein Freund noch ernster:
Hast Du Deinen Onkel gesehen, Tino? Wie er aussieht, wie er sich bewegt? Seine
Augen haben keinen Glanz mehr. Aber selbst wenn er noch der Bulle von früher
wäre, ginge es nicht mehr. Wir haben unser Revier in Hamburg verloren in dem
Moment wo wir weggegangen sind. Hier auf die Straße zu gehen, Tino, das kannst
du dir aus dem Kopf schlagen.
Als Tino wissen wollte warum, sagte Javier erst mal nichts, griff den Faden dann
aber plötzlich wieder auf. Er sprach leise.
Albaner, Bosnier, sie sind es, die hier jetzt herrschen, aber hinter ihnen kommen
schon die Ukrainer und dann, er machte eine Pause, Ach, Oswald hat nur die fetten
patos im Blick gehabt, aber nicht die granujas. Diese brezos, diese Heiden, sind
Halsabschneider. Skrupellos. Sie würden uns rapido ihre Messer in die Rippen
hauen bevor wir auch nur eine Mark verdient hätten. Sie haben keine Moral. Hörst
Du? Es sind Heiden. Gottlose. Javier spuckte sogar aus und bekreuzigte sich, um
seine Abscheu zu unterstreichen.
Wer kommt dann, wer kommt nach den Albanern, den Ukrainern Javier?
Dann kommt er, und Javier verzog keine Miene als er hinzufügte: el diablo.
Javier hatte vollkommen recht mit dem was er über Oswald gesagt hatte: der Mann
war ein Wrack. Wo früher Muskeln waren, waren jetzt Polster, statt Waschbrett ein
Waschbecken als Bauch und sein gesundes blondes Flachshaar war grau und
strähnig geworden. Aber seine Kleidung war extravaganter und teuerer geworden als
früher. Sie kaschierte vor Fremden das Ausmaß des Raubbaus aber vor seinen
Freunden konnte er es nicht verbergen.
Die Spannungen mit Javier nahmen zu. Der Mann aus Havanna hatte die Schnauze
gestrichen voll, Oswald leider nur seine Nase. Wenn der Schneehase, wie Javier ihn
unverfroren nannte, seine Nase in die Bücher stecken würde, könnte er den
Niedergang schwarz auf weiß sehen. Aber nur Oswalds Realitätsverlust und seine
Beratungsresistenz wurde unübersehbar.

Chancen


Tino war froh, wenn er nicht bei ihm sein musste, dann konnte er trainieren oder
ohne Ziel rumfahren. So wurde Autofahren zur einer weiteren Leidenschaft von ihm.
Die Fahrten ohne Onkel waren wie kleine Fluchten.
Oswald, der sich lang nicht mehr verrenkte seinen Kokain Konsum – ich bin nicht
süchtig, Tino, ich konsumiere nur und gewinne Esprit – vor seinem Neffen zu
verbergen, telefonierte Anfang 1995 wie ein Bekloppter im Fond. Er erkundigte sich
nach der Form von Marco und ob etwas dran sei, dass er den WM-Kampf gegen den
Engländer bekommen würde und wie die Quoten und wie die tatsächlichen Chancen
wären. Schon die Verheißung dieses Kampfes elektrisierte Oswald. Sein
Hauptgewährsmann für diese Infos war Ralf genannt Ralle. Immerhin hatte der es
zum Hausverwalter des bekannten Produzenten zahlreicher fünfziger Jahre Krimis
Alfred Schwarzer gebracht. Aber das war nicht seine Eintrittskarte ins Marcellos
gewesen sondern seine Leidenschaft fürs Zocken.
Ralf Dubinski, schlagfertig und ohne rechtes Bein, war einer der Vögel die im
Marcellos saßen und zockten. Nicht selten sprach er von sich selbst als dem
Paganini des Tischtennis und dass nur der blöde Motorradunfall schuld daran wäre,
dass es nach München 1969 bislang keine weitere Einzelmedaille im Tischtennis für
Deutschland gegeben hätte. Aber bei der nächsten von ihm selbst so genannten
Krüppel-WM würde er dafür ganz vorne sein. Ralle war einer der ganz wenigen
Personen, die bei beiden Brüdern gleichermaßen beliebt war und Informationen aus
erster Hand besaß und Ralle mochte Oswald einfach. So sehr, dass er Oswald auch
Geld lieh am Spieltisch.

Ein neuer Schmeling


Marco hatte ein Jahr zuvor einen neuen Trainer bekommen. Einen Ossi. Hans aus
Gdansk und Marco begann zu trainieren. Ja, ja der Hans, der kanns, hieß es plötzlich
erst scherzhaft, dann anerkennend am Zockertisch. Marco hatte auch ein Problem
gehabt, denn er war mittlerweile auch seinen nationalen Titel losgeworden und stand
plötzlich vor den Scherben seiner Karriere. Er bekam den Tipp von einem Hamburger
Promoter sich diesen Hans – dessen Wurzeln in Danzig lagen – aber in einer der
Boxhochburgen – Frankfurt Oder – erfolgreiche Arbeit leistete und auch schwierigere
Fälle wieder hinzubekommen schien, als Trainer zu engagieren. Ein Erfolg mit Marco
Marcello wäre eine perfekte Visitenkarte. Marco und Hans schlossen einen Pakt und
Anfang 1995 verdichteten sich die Gerüchte, dass der Engländer Marco bei einer
freiwilligen Verteidigung eine Chance geben würde. Allerdings würde der Kampf in
der Höhle des Löwen stattfinden: Manchester. Und dass bedeutete Marco würde den
Weltmeister umhauen müssen. Nach Punkten würde er nie gewinnen können. Hans
hielt das für keinen Nachteil. Der Tommy wird sich zu sicher sein. Er ist selbstgefällig.
Du, Marco, wirst die schwarze Serie brechen und der erste Deutsche sein, der
wieder einen WM Gürtel im Ausland gewinnt. Auf die Frage, wer denn der letzte
gewesen sei, antworte Hans aus Gdansk trocken: Max Schmeling.

Befreiungsschlag


Als der Kampf offiziell wurde, holte sich Oswald täglich die Wasserstandsmeldungen
von seinem Kumpel Ralf. Trainingsarbeit, Gewicht und das wichtigste: kein Alkohol?
Die Meldungen euphorisierten Oswald so sehr, dass er sogar vergaß sich die Nase
zu pudern. Wenn er aufgelegt hatte, griff er von hinten Tino an seine Schultern und
schüttelte ihn durch, dass der Mühe hatte das Auto auf der Straße zu halten.
Das bringt uns wieder ganz nach vorne. Das saniert uns mit einem Schlag. Verstehst
Du? Mit einem Schlag!
Daran gab es nichts oder alles miss zu verstehen. Javier verstand es nicht. Absolut
nicht. Die beiden Männer gingen sich aus dem Weg und brüllten sich nur übers
Telefon an. Es ging Oswald darum, dass Javier bis zum Kampf alles zu Geld machen
sollte, dessen er habhaft werden konnte und es auf den Deutschitaliener zu setzen.
Javier hielt ihn für übergeschnappt und verruckt. Das Pulver habe Oswalds Gehirn
aufgefressen. Wenn man in seine Augen blicke, dann sähe man den Schnee so
rieseln wie bei diesen Winterzauber-Glaskugeln. Er würde alles ruinieren.
Papperlapapp und Weichei, kommentierte Oswald Javiers Bedenken. Und
irgendwann brach Javier ein und folgte den Anweisungen seines Chefs. Als er
Oswald anrief, sagte er nur, er mache es, aber es sei das Letzte was er tun würde.
Oswald war froh, dass er Javier überzeugt hatte, denn er hatte den Überblick über
seine Konten schon längst verloren gehabt. Vor dieser Wühl- und Papierarbeit hatte
er einen Horror gehabt. Es musste reichen, wenn er – das Genie – die Pläne
ausheckt und sein General – Javier – sie umsetzte. Dieser Plan war sein bester seit
langem: Alles auf Rot, alles auf Marcos Rechte. Als Constantin mitbekommen hatte,
dass Javier Oswald folgen würde, beschloss er sich bei nächster Gelegenheit
abzusetzen.

Frankfurter Jungs – Der Tag vor dem Kampf


In aufgewühlter Stimmung fielen die Freunde Marcos in Manchester ein. Die
sogenannten Frankfurter Jungs waren auch dabei. Das waren fünf Zuhälter mit
teuren Sakkos, aber bis zum glänzenden Bauchnabel aufgeknöpften Seidenhemd.
Aber kein Sixpack wurde bloßgestellt, sondern ordinäre Feistheit und natürlich die
unvermeidliche Goldketten. Die Frankfurter Jungs machten ihrem Berufsstand alle
Ehre.
Die Frankfurter waren beliebt bei Oswald, weil sie gerne ausgaben und immer
Miezen dabei hatten. Oswald war begeistert. Er musste nicht arbeiten und selbst den
Spaß nicht bezahlen. Javier blieb gegenüber der Truppe teilnahmslos, lächelte auf
Aufforderung und ließ sich vollaufen. Er schien ein gebrochener Mann zu sein. Tino
interessierte sich nur für den Kampf. Nur einmal musste er Oswald aus der
Gefahrenzone bringen, als der sich an der Hotelbar mit drei Engländern gleichzeitig
anlegen wollte.
Beim Einwiegen der Kämpfer ein Tag vor dem Kampf hatte Tino für einen kurzen
Moment das Gefühl gehabt, Oswalds Plan könne aufgehen. Marco war so
durchtrainiert wie nie und wirkte entschlossener als Carl Hampston genannt The Cat.
Am 10. Juni war es dann soweit und Tino bekam Gänsehaut, als die Fans in der
Halle ihren Mann hereinriefen und als erstes einer der Betreuer hereinkam und in
seinen Händen den Gürtel hochreckte. Es hatte etwas religiöses. Hinter dem Gürtel
marschierte der Weltmeister. Er blickte nicht nach unten, sondern schien gelassen zu
sein.


Operetten Boxer

Die Mädchenveranstaltungen von diesem Amateur Konrad – Conny – Fei, dem
sogenannten König Konrad, waren bei ihnen allen – Fans wie Sportlern - verpönt.
Hier in Manchester gab es keinen Showquark und keinen Kitsch und keine
Trittbrettfahrer. Der jüngere Bruder von Marco, Mario, machte fast zeitgleich einen
seiner besten Kämpfe gegen Fei. Mario marschierte im Ring und er zerbrach das Bild
des guten Boxers Fei. Er demonstrierte Profiboxen und in jedem Profiboxkampf hätte
er auch gewonnen. Aber die Amateure am Ring hatten brav die Schläge Feis, die
zum größten Teil in Marios Deckung hängen blieben, als Treffer gewertet. Treffer, die
aber zu keiner Dominanz oder Beherrschung des Gegners geführt hatten und die
eher die Hilflosigkeit des Weltmeisters ausdrückten. Und als die Wand anfing
zurückzuschlagen, Aufwärtshaken setzte und das Mädchen Conny Franzis – wie
Herr Fei im Marcellos Inn nur gerufen wurde – durch den Ring trieb, da standen viele
Fans der alten Schule voller Stolz vor Mario dem Kämpfer vor den Fernsehschirmen
auf. In die Boxzirkushallen Herrn Feis verirrten sie sich nicht – sie gingen ja auch
nicht in die Oper. Die Einlaufmusik Marios – Spiel mir das Lied vom Tod – bekam
einen besonderen Nachhall.
Der Kampf in Manchester, obgleich auch hier in großer Halle gekämpft wurde, stand
in der Tradition englischer Box-Schule, dass heißt ohne Zirkus wie Showteil und
gesungener Nationalhymne. Er sollte auch einer anderen Dramaturgie folgen.

Der Kampf


Mitte der fünften Runde passierte das Unglaubliche. Etwas was bis dahin noch nie
vorgekommen war. Sicher hatte er schon Kämpfe nach Punkten verloren, einzelne
Runden sowieso, aber zu Boden, zu Boden war Marco noch nie gegangen.
Hampston, die Katze – Linksausleger wie Marco – hatte Ralph schwer mit seiner
Rechten erwischt und Marco brach wie vom Blitz getroffen zusammen.
Oswalds spürte wie sein Herz aufhörte zu schlagen. Er fühlte sich im freien Fall und
der ganze Lärm war verschwunden. Er sah nur seinen Plan am Boden liegen. Aus
und vorbei. Endgültig. Seine Nase juckte fürchterlich und er vermied es angestrengt
zu Javier rüberzuschauen. Wie sollte es jetzt weitergehen?
Tino war auch entsetzt. Er hatte die Situation genauso gesehen. Es war ein schwerer
Wirkungstreffer. Die Situation war für Marco zweifellos neu und noch schlimmer war
es aber, dass er bis zur fünften Runde auch schon deutlich nach Punkten hinten lag.
Die Katze musste nur noch weglaufen und würde gewinnen.
Javiers Mimik war unergründlich. Er nahm es scheinbar gelassen, dass der
Strohhalm für ihn und Oswald gerade umgeknickt war. Tino vermutete, dass es
Javier egal war was passierte, weil er mit dem Kapitel Oswald abgeschlossen hatte.
Ihr Boxer rappelte sich wieder hoch, obwohl Ralf Dubinski geraunt hatte, der kann bis
hundert zählen, der kommt nicht wieder. Erstaunlicherweise stand Marco sogar
relativ sicher und nahm den Kampf wieder auf. Die Runde war erst halb vorüber. Und
dann schlug der Blitz erneut ein. Aber dieses mal hatte es die Katze erwischt.
Oswald und alle anderen in der deutschen Kolonie standen auf einmal auf ihren
Stühlen am Ring. Es war die schnellste Wiedergeburt, die sie bis dato erlebt hatten.
Es war nun ein offener Kampf. Ein Schlagabtausch wie ihn der Boxsport selten
gesehen hatte. In Runde acht schickte Marco Carl erneut auf die Bretter. Der
endgültige KO des Favoriten schien nur eine Frage der Zeit. Doch dieses mal
konterte Carl kurz darauf und Marcello rettete sich schwer angenockt durch den
Rundengong. Jetzt war es aus. In drei Runden würde er den Rückstand nicht
aufholen können und nach zwei schweren Treffern vertraute keiner darauf, dass
Marco noch genügend Saft im Arm hatte.
Konstantin fiel aber auf, dass Marc immer noch in der Lage war mit seinem Trainer
zu reden. Er hörte nicht was da gesprochen wurde. Aber nach diesem Kampfverlauf,
hätte er erwartet, dass auch bei Marco der Trainer mit seinen Appellen nur noch das
Unterbewusstsein seines Schützlings würde erreichen können. Aber Marco reagierte
scheinbar klar und daher gab Konstantin die Hoffnung nicht ganz auf.
In der zehnten Runde schlug Marco wieder zu. Die Katze ging nicht zu Boden, aber
seine Mimik verriet, dass er schwer entnervt war und in der vorletzten Runde
erwischte es ihn noch mal und dieses mal schüttelte es Carl fürchterlich durch und er
landete wieder am Boden.
Aber trotz dieser Treffer, trotz des letzten Niederschlags lag der Engländer immer
noch vorne und alle erwarteten, dass er versuchen würde, sich über die Zeit zu
retten. Nur wenig mehr als drei Minuten trennten ihn ja noch vom Titel. Etwas mehr
als eine Runde. Nach dem letzten Niederschlag stand Hampston wieder auf,
schüttelte den Kopf und schmiss das Handtuch. Er gab auf. Der technische KO war
perfekt.
Sicherlich war Hampston von diesem verbissen kämpfenden Deutschitaliener
vollkommen entnervt gewesen aber es war vor allem eine Verletzung seiner rechten
Schulter, die auch nur eine weitere Minute im Ring unmöglich machte.


Regel Nummer Zwei


Nach einer kurzen Sekunde merkwürdiger Stille in der verrauchten Halle, rastete die
Fangemeinde Marcellos völlig aus. Alles lag sich in den Armen. Selbst die
einheimischen Fans applaudierten fair und blieben bis zur Gürtelübergabe in der
Halle. Nur Javier verließ wie fremdgesteuert den Ort des Geschehens. Konstantin
hatte sich bewusst den Umarmungsversuchen Oswalds entzogen und sich am
anderen Ende des Jubelnden Pulks aufgehalten.
Als Oswald den stillen Abgang Javiers bemerkte, hatte er ein vernichtenderes,
endgültigeres Gefühl als beim Niederschlag in der fünften Runde. Er sah gerade
noch wie Javier in einem Aufgang verschwand. Erstaunlich geschmeidig löste sich
Oswald aus der Gruppe und hastete seinem Geschäftspartner hinterher.
Konstantin nahm sofort wahr, wie sich sein Onkel entfernte. Er war in den letzten
Jahren auf diesen Körper und seine Bewegungen konditioniert worden. Konstantin
hatte aber in diesem Falle weniger Sorge um Oswald als um den stillen Kubaner.
Also versuchte er Oswald hinterherzulaufen, wurde aber im selben Moment heftigst
von dem völlig enthemmten Ralf Dubinski umarmt und gedrückt. Er wollte den Kerl
am liebsten einfach wegstoßen, aber Ralles Prothese, seine Behinderung machte
Tino befangen. Als er Ralf halbwegs gesittet wegschoben bekommen hatte, konnte
er gerade noch die Rockschöße Oswalds verschwinden sehen.
Als er den Innenraum verließ, sah er weder link noch rechts im Umlauf Anzeichen
Oswalds oder Javiers. Von innen hörte er wie der neue Weltmeister verkündet wurde
und den Applaus. Er hastete verzweifelt die Gänge entlang und seine Befürchtung
wurde größer, dass eine Katastrophe gerade passierte. Als er am Zugang C zum
Innenraum und an einer weiteren Toilettentür vorbeilief, hörte er trotz des
allgemeinen Lärms das Aufstöhnen eines Mannes. Javier. Er stürmte hinein. Onkel
Oswald schlug zum wiederholten Male den blutüberlaufenen Kopf gegen die Wand
und brüllte immer nur Warum?
Lass ihn los!, schrie Konstantin unvermittelt. Oswald schreckte hoch. Den Kopf
Javiers nicht loslassend.
Weißt Du was er gemacht hat? Weißt Du was er geMACHT HAT?, brüllte Oswald ihn
an und wollte den Kopf wieder gegen die Wand kloppen.
Wenn du seinen Kopf noch mal an die Wand schlägst, bringe ich dich um.
Oswald ließ ab, aber nicht los. Dieser Mistkerl, Tino, dieser kubanische Hurensohn
hat nichts gemacht. Gar nichts. Er hat keinen einzigen Pfennig auf Marco gesetzt. Er
hat überhaupt nicht gewettet. Noch nicht mal auf diese englische Schwuchtel. Ich
habe dir gesagt, dass du niemals ein Wort brechen darfst. Niemals. Das war eine der
ersten Regeln, Tino. Erinnere dich.
Weißt du, Oswald, wohin du dir deine Regeln stecken kannst?, Konstantin holte ein
kleines vergilbtes Oktavheft aus der Innentasche seines Sakkos. Ich habe sie immer
aufgeschrieben, deine Scheißregeln. Alle. Für’n Arsch, sag ich dir. Alles für’n Arsch.
Du hast alle Regeln gebrochen und du hast alles kaputt gemacht. Friss doch, deine
scheiß Regeln, du Wichser., und dann rotzte Tino auf das Heft und schleuderte es
achtlos in Richtung seines Onkels. Es schlidderte seinem Onkel bis fast vor seine
blutüberlaufenen Schuhe. Onkel Oswalds Regeln für Konstantin stand in etwas
ungelenker Kinderschritt vorne drauf. Oswald schien statt berührt, eher amüsiert,
aber als er wieder aufblickte bekam Oswald Angst. Tino hatte seine Jacke abgelegt
und war dabei sein Hemd aufzuknüpfen. Oswald sah, dass sein Neffe sich darauf
vorbereitete ihn mit seinem Körper zu töten und er Oswald sah, dass dieser Körper
dazu in der Lage war, dass er darauf trainiert war und er keine Chance haben würde.
Der Gepard würde ihn killen.
Tino, stammelte er, sei vernünftig. Sie buchten dich hier ein. Javier ist bewusstlos.
Nur bewusstlos. Siehst du? Ich lass ihn los.
Oswald löste seinen Griff und Javier sackte wie ein nasser Sack zusammen und
dann ging hinter Konstantin die Tür auf und ein Rudel angetrunkener und
volltrunkener Engländer schwappte mit einem Schlag in die Toilette. Konstantin
zeigte noch kurz auf Oswald, es sollte ein Versprechen symbolisieren, dann
schnappte er sich wieder Jacke und Hemd und wand sich elegant doch im Zweifel
auch bestimmt durch die völlig bescheuert aus der Wäsche glotzenden Engländer
nach draußen. Wie sein Onkel die Situation lösen wollte, war ihm vollkommen egal.

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#2

Boxer

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 02.01.2008 15:17
von Krabü2 (gelöscht)
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Hi Brot
Alles am Stück gelesen hab' ich. Zugegebenermaßen hab ich nach der 'Laufleiste' rechts geschaut um abzuwägen, wie lang der Text wohl noch sein würde. Als erste Reaktion dachte ich: 'zuviel Information an manchen Stellen. Das verwirrt.' Ich wusste nicht mehr, wer wer und in Zusammenhang mit wem wie steht... irgendwann. Das ist allerdings auch eine Deiner unbestrittenen Stärken, die vielen Beziehungen der Personen in Deinen Stories und die Weitläufigkeiten. Nur so als Text ist es mir oft zu viel.
Mein zweiter Gedanke war: Man müsste es verfilmen! Und das dachte ich auch schon bei Deinem Flughafen-Text (war es der erste von Dir hier? Ich glaube, ja). Ich bin sicher, dass diese Story verfilmt sehr gut käme - mit guten Kulissen und der bildhaften Unter'malung' der Atmosphären wie z.B. der Einleitung, wie der Held groß wird, der Einspielung der Würdigung des millionsten Gastarbeiters mit Überreichung des Mofas, des Tricks mit dem Heiermann, des Trainings im Kampfsport durch diese Frau etc. etc.
Im Laufe des reinen Lesens hat sich vieles schon Gelesene für mich nicht mehr im Gedächtnis halten können, vor allem eben fiel es mir schwer, bei allen auftauchenden Personen die Hauptfigur als solche im Auge zu behalten und 'den Rest' als 'Beiwerk' zu betrachten. Obwohl ich die Gliederung z.B als sehr gut empfinde, weil sie dem Leser eine kleine Pause gönnt.
Wie dem auch sei - ich fände es klasse, es wäre schön, es wäre ein großes Glück, wenn Du einen (Hobby-)Regisseur kennen würdest, der das verfilmte. (Wobei der Erzähler/Erzählstil schwer rüberzubringen wäre, denke ich. Obwohl er hier belebend wirkt, wenn er auch nicht ganz geradlinig daherkommt. Das wäre aber kein wirkliches Problem bei einer Verfilmung, denke ich.)
Ich wünsche Dir solche Connections!
Liebe Grüße
Uschi
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#3

Boxer

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 03.01.2008 13:51
von Fingerspur (gelöscht)
avatar
Hallo Tüfte,

da ist Dir wieder einmal ein toller Wurf gelungen. Mir ist das Lesen nicht einen Moment lang geworden - im Gegenteil, an manchen Stellen hätte ich vielleicht sogar noch ein wenig mehr gewollt.

Wenn Kritik, dann jedenfalls an solchen Stellen:

Zitat:

Tino war
fasziniert von diesem Werdegang. Er rechnete sich sogar größere Chancen aus,
aufgenommen zu werden, weil Og Ma ihn Techniken gelehrt hatte, die zwar im Muay
Thai verboten waren, aber in seinen Augen komplizierter zu erlernen waren. Die Tore
jeder Kampfschule würden ihm doch von vornherein offen stehen?


Das bleibt so im Raum stehen, aber es wird nichts draus. Weder lese ich, dass ihm die Möglichkeit, sich überhaupt zu bewerben verwert wurde, noch die Aufnahme verweigert, noch dass der Elan seinerseits letztendlich doch fehlt.
Auch bei anderen Stellen hätte ich mehr drum herum gern ertragen; da merkt man, dass Du einen recht grossen Bogen schlägst, um Og Ma als Gestalt einzuführen, und dennoch bleibt es eine am Rande gestreifte Geschichte, über die ich auch zwei Seiten mehr gelesen hätte, bzw. die eigentlich eine eigene Story verdiente.

Wie auch immer, im Gegensatz zur KB finde ich die Zentralstory gut gehalten und stets nicht zu vergessenen Mittelpunkt und habe auch kaum Probleme das Drumherum zu ordnen (nur bei Tino/Constantin habe ich anfangs nochmal nachblättern müssen).

Stilistisch ist das Werk eindeutig aus Deiner Feder; dazu gehört wohl auch, dass Du Nebensätze mit Punkten trennst - das stöst mir beim Einstieg in Deine Texte immer auf und gen Ende merke ich es dann nicht mehr, weil es halt einfach zur Sprache der Protagonisten und dem Stil des Erzählers passt. Somit könnte ich formal einige Stellen ankreiden, würde es aber nicht wollen, weil es wohl genauso gehört, wie es da steht.

Das Ende: abrupt, schade. Aber auch das ist irgendwie gelungen und letztendlich erfüllst Du damit die Grundsätze der KG...

Nein, es bleibt dabei: Ich habe diese Geschichte wirklich genossen, aufgesogen und bildlich Stück für Stück verarbeitet. Als Film, da stimme ich der KB nun zu, würde das gut funktionieren; muss aber auch nicht sein, denn ein Film lief bei mir lesend schon ab. Und wer weiß, ob der Regisseur solch Gesichter, wie ich sie nun vor Augen hab, überhaupt fände, *zwinker*

Mir hat es Spass gemacht, diesem zu folgen - da kann ich also nur Danke sagen, statt vernünftig Kritik zu üben.

Herzlichst
Nina
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#4

Boxer

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 04.01.2008 22:04
von Krabü2 (gelöscht)
avatar
Hi 'TÜFTE' und Nina,
ja, und mir haben die Charaktere zu wenig Charakter, und m.E. könnte die Story auch schlichtweg 'Geld' heißen; ich find' sogar, das käme besser. Ich weiß nur, dass einer davon kokst. Ich hab' kein Gesicht vor Augen, keine wirkliche Atmosphäre und kein Flair, von dem jemand von den 'Mitwirkenden' umgeben wäre. Ich sehe 2(-3) Frauen und eine Schar von Kerlen. Wobei die Frauen
a) Mutter
b) Lehrerin
sind. Mag sein, dass Frauen von Männern so gesehen werden. Das kann ich schwer beurteilen.
Beide Frauen sind nicht begeistert vom Sein und Tun des Prot. Die Mama hat Schiss, die Lehrerin misstraut einer Karriere. Klischee!
Vielleicht pendelt ein Mann zbwischen, hadert ein Mann genau mit solchen Eindrücken von Frauen?
Was soll mir aber der Text indes sagen, mehr sagen, als dass da viel um Kohle geht und über Clubverhalten und (falsche) Kumpanei, vorwiegend aus unterschiedlichen Kulturen, und das in unserem beschaulichen Deutschland? Klischee!
Okay, soll okay sein, wenn die Frauen edelmütig und die Männer Gauner sind *peace*, nur... haben die Alle auch sonst noch ein Leben? Träume? Gefühle? Macht sie irgendwas zu demjenigen, als der sie in der Geschichte nachvollziehbar handeln?
(nicht wegen eines entgangenen Mofas, oder? *smile*)
DAS meine ich, DAS müsste ein Regisseur mit Kulissen, Kostümen, Styling, Maskenbildnerei etc. aufpolieren. Finde ich. Das sind nämlich meine Probs beim Lesen gewesen. Es ist viel los in der Story, sie ist Action mit ein wenig Geschichte dahinter, privater und politischer, aber ich kriegte es keinesfall 'nacherzählt', ich könnte niemandem von der Story erzählen, für mich ist es zu verwirrend, ohne roten Faden.
Mein ganz persönlicher Eindruck.
Die im ersten Kommentar gegebenen positiven Rückmeldungen gelten dennoch.
So, Ihr Beiden
Ich habe fertig!
Grüße
KB
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#5

Boxer

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 08.01.2008 09:57
von Brotnic2um • Mitglied | 645 Beiträge | 645 Punkte
Hallo Kratzbürste,


Zitat:

Alles am Stück gelesen hab' ich. Zugegebenermaßen hab ich nach der 'Laufleiste' rechts geschaut um abzuwägen, wie lang der Text wohl noch sein würde.



Das mache ich auch immer. Also, das mit der Laufleiste. Es ist trotzdem immer schön zu hören, daß es jemand bis zum Ende gelesen hat.



Zitat:

Als erste Reaktion dachte ich: 'zuviel Information an manchen Stellen. Das verwirrt.' Ich wusste nicht mehr, wer wer und in Zusammenhang mit wem wie steht... irgendwann. Das ist allerdings auch eine Deiner unbestrittenen Stärken, die vielen Beziehungen der Personen in Deinen Stories und die Weitläufigkeiten. Nur so als Text ist es mir oft zu viel.



Danke für die Stärke. Aber es ist offensichtlich, dass diese vermeintliche Stärke einen Text kolossal versauen kann – eben weil er schnell zu weitschweifig und verspielt wird. Wobei dieser Text sehr merkwürdig entstanden ist. Im ersten Abschnitt – die ersten 15 Zeilen - klingt das noch stenographisch und erinnert da noch am stärksten an einen Spickzettel. So war es zunächst auch geplant gewesen: Spickzettel – Kurz Bio – für eine Figur. Dieses Vorhaben ist aus dem Ruder gelaufen. Natürlich bemerkte ich schon beim Schreiben, dass ich keinen Spickzettel mehr anfertigte sondern in einem sehr gerafften Erzählstil – ähnlich einer Inhaltsangabe – schrieb.

Nach kurzer Zeit begann mir dieser Stil großen Spaß zu bereiten und die Kapriolen die ich mit OgMa und anderen Figürchen drehte, schienen mir sinnvoll zu sein, weil ich damals noch dachte, daß ich vielleicht diese Figuren in dem Prosa-Projekt als eine Art Deus Ex Machina auftauchen lassen könnte, wenn ich nicht mehr weiter weiß. Das alles sollte in ein größeres Gespinst eingewebt werden.


Zitat:

Mein zweiter Gedanke war: Man müsste es verfilmen! Und das dachte ich auch schon bei Deinem Flughafen-Text (war es der erste von Dir hier? Ich glaube, ja). Ich bin sicher, dass diese Story verfilmt sehr gut käme - mit guten Kulissen und der bildhaften Unter'malung' der Atmosphären wie z.B. der Einleitung, wie der Held groß wird, der Einspielung der Würdigung des millionsten Gastarbeiters mit Überreichung des Mofas, des Tricks mit dem Heiermann, des Trainings im Kampfsport durch diese Frau etc. etc.



Erwischt. Viele Bilder sind aus dem Fernsehen. Die Heiermann Szene stand da und dann fiel mir auf: Ach ja, KungFu! So eine Szene taucht glaube ich auch immer im Vorspann dieser Serie auf. Das passte natürlich. Aber das zeigt mir immer wieder, dass ich tatsächlich unterbewusst meine Geschichtchen versuche wie Filme aufzubauen oder deren Erzähltechniken sowie die für mich archetypischen Bilder dieses Mediums unterbewusst verwende. Unterbewusst weil ich mich nie ernsthaft oder tiefergehend damit auseinandergesetzt habe. Aber ich bin mir sicher, dass ich eher durch Filme als durch Erzählungen geprägt worden bin. Für einen Makel halte ich das auch nicht – aber auch nicht für einen Vorteil.



Zitat:

Obwohl ich die Gliederung z.B als sehr gut empfinde, weil sie dem Leser eine kleine Pause gönnt.



Die Zwischenüberschriften haben mir großen Spaß gemacht und natürlich hatte ich da diverse Filme als Vorbild im Kopf.


Zitat:

Wie dem auch sei - ich fände es klasse, es wäre schön, es wäre ein großes Glück, wenn Du einen (Hobby-)Regisseur kennen würdest, der das verfilmte.



Mein Glück wäre es. Das stimmt, aber ob es ein Glück wäre?


Zitat:

ja, und mir haben die Charaktere zu wenig Charakter, und m.E. könnte die Story auch schlichtweg 'Geld' heißen; ich find' sogar, das käme besser.



Geld behagt mir gar nicht. Wenn Geld besser passt, dann funzt die Story nicht so wie ich sie lese. Die Charaktere? Es gibt eigentlich nur einen alles beherrschenden Charakter: Oswald. Ich finde der bleibt nicht blass. Superoriginell ist er nicht, aber so ein büschen extravagant ist er m.E. schon. Der Held ist blass. Sind die meistens. Die andere Figur ist OgMa – aber die bleibt wie Nina schon bemerkte – ein wenig zu sehr auf der Strecke angesichts des breiten Raumes, den ich der Figur anfangs einräume. Liegt auch daran, dass ich gedacht hatte, diese Figur später nochmal auftauchen zu lassen. Anders gesagt: die ist noch nicht auserzählt. Oswald ist eigentlich ziemlich durch. Die anderen Typen – z.B. die Marcellos – gibt’s eigentlich alle im wirklichen Leben. Nicht 1 zu 1. Gehofft habe ich, dass sie dadurch einigermaßen glaubwürdig in die Szenerie passen würden. lange rede kurzer Sinn:


Zitat:

Ich weiß nur, dass einer davon kokst. Ich hab' kein Gesicht vor Augen, keine wirkliche Atmosphäre und kein Flair, von dem jemand von den 'Mitwirkenden' umgeben wäre.



Hat offensichtlich bei Dir nicht gefunzt. Schade.


Zitat:

Was soll mir aber der Text indes sagen,



Da muß ich sofort unterbrechen. Der will nichts sagen. Der hat Spaß daran zu fabulieren, echtes mit unechtem zu vermischen, oder bekanntes mit unbekanntem und will wirklich nur eines : unterhalten. Ich habe diesen Text nochmal vorgeholt, weil er mich damals zu unterhalten vermochte. Weil ich mich darüber amüsieren konnte. Aber darüber hinaus will der nichts.


Zitat:

Es ist viel los in der Story, sie ist Action mit ein wenig Geschichte dahinter, privater und politischer,



Danke. Das ist der Punkt. Vortrieb, vortrieb, vortrieb, Handlung, Handlung, Handlung. Schnell, schnell, schnell eben weil diese Figürchen wohlmöglich mir aus dem Ruder laufen würden, wenn ich Oswalds Nachtgebete oder existenzialistische Gedanken oder seine verkorkste Beziehung zu Frauen auswalzte? Da habe ich ganz bewusst die Finger von gelassen. Das passte mir nicht rein und hätte das Tempo rausgenommen.


Zitat:

aber ich kriegte es keinesfall 'nacherzählt', ich könnte niemandem von der Story erzählen, für mich ist es zu verwirrend, ohne roten Faden.



Alles nacherzählen? Nein, der rote Faden ist schlicht : Kleiner Junge muss erkennen, dass sein Idol – Onkel Oswald – ein Arschloch ist. Das sollte es sein. Und natürlich wäre ich sehr glücklich wenn dett Teil einer verfilmen wollte.
Danke für die umfangreiche Auseinandersetzung und Gruß vom
Brot.



Hallo Nina,

Danke, danke, danke – freut mich sehr, wenn es Dich unterhalten konnte.


Zitat:

Das bleibt so im Raum stehen, aber es wird nichts draus. [...] Auch bei anderen Stellen hätte ich mehr drum herum gern ertragen; da merkt man, dass Du einen recht grossen Bogen schlägst, um Og Ma als Gestalt einzuführen, und dennoch bleibt es eine am Rande gestreifte Geschichte, über die ich auch zwei Seiten mehr gelesen hätte, bzw. die eigentlich eine eigene Story verdiente.



In meiner Antwort an Kratzbürste habe ich geschrieben, daß dieses Teil eigentlich in einen größeren Komplex eingestellt werden sollte und daher ist manches sehr unausgewogen und irgendwie unfertig. Aber – und das scheinst Du ja auch zu finden – kann diese Geschichte die Unausgegorenheiten kompensieren. Diesen Eindruck habe ich zumindest und deswegen habe ich sie nochmal als eigenständige Geschichte eingestellt.


Zitat:

Stilistisch ist das Werk eindeutig aus Deiner Feder; dazu gehört wohl auch, dass Du Nebensätze mit Punkten trennst



Jetzt grinse ich und schäme mich. Beibehalten wird ichs aber. Denn:


Zitat:

weil es wohl genauso gehört, wie es da steht.



Das ist auch noch mein Eindruck. Obgleich ich weiß, dass Punkt und Komma vielleicht doch zu arg strapaziert werden und auch manche Formulierungen und Beschreibungen besser gehen könnten. Aber ich bin ganz zufrieden wie es da steht und bekomme keine Magenschmerzen.



Zitat:

Ich habe diese Geschichte wirklich genossen, aufgesogen und bildlich Stück für Stück verarbeitet. Als Film, da stimme ich der KB nun zu, würde das gut funktionieren; muss aber auch nicht sein, denn ein Film lief bei mir lesend schon ab. Und wer weiß, ob der Regisseur solch Gesichter, wie ich sie nun vor Augen hab, überhaupt fände,



Wunderbar wenn das Kopfkino funktioniert hat. Das ich beim lesen der Geschichte immer den Film sehe, die Typen vor mir habe, will ja nichts heißen oder ist nicht besonders erstaunlich, aber es ist schön zu hören, dass das Kopfkino auch bei Dir gefunzt hat. Ich habe in die Antwort an KB schon gepostet, dass ich wahrscheinlich zuviel geglotzt habe.

Vielen Dank für das Lob.

Gruß von der Tüfte.
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#6

Boxer

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 09.01.2008 10:13
von corvinus (gelöscht)
avatar
Ahoi Brot,

liest sich 'süffig' und gefällt. Auch mir kam rechts flugs der Gedanke - bevor ich andere, entsprechende Kommentare las - der filmischen Umsetzung. Grad' auch aufgrund der zahlreichen angedeuteten Lebensgeschichten, die jede für sich ja eigentlich so 'Ein Kapitel für sich' (mein Lieblingsstück: das Jubiläumsmoped)sind. Und - dann auch ausführlicher, eben so als Fortsetzung Kempowskischer Chroniken für die Jahre ab 1960.

Machwasdrausgruß
c.
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