#1

Nur kurz

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 08.06.2006 11:58
von Roderich (gelöscht)
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Ladies and Gentlemen,

gerade eben aus dem Archiv im Keller geholt, abgestaubt und nun den Löwen zum Fraß vorgeworfen: Meine erste Kurzgeschichte. Datiert aus dem Dezember 2004.

Gott stehe Ihnen bei ... Und ja, ich weiß ... die fehlenden Absätze ...



Nur kurz


Das grelle Tageslicht blendet mich, als ich mein Haus verlasse. Ich kneife die Augen zusammen, lege meine Stirn in Falten – die Denkerpose, die mir gut steht, in diesem Fall aber auf anderen Gründen basiert als meiner Eitelkeit. Menschen irren an mir vorbei, rempeln mich Geblendeten an, Stimmengewirr trommelt auf meine Ohren, ich will wieder zurück in mein geliebtes Wohnzimmer. Das Wohnzimmer ist mein Refugium, die letzte Bastion, die mich vor der Menschheit schützt. Die schweren, dunklen Vorhänge sind immer zugezogen; ich liebe es bei Kerzenlicht zu lesen; ich hasse das grelle Sonnenlicht. Diesen tief in mir wurzelnden Hass hatte ich bereits als Kind entwickelt. Mein Hass auf das Sonnenlicht war niemals ein leidenschaftlicher, sondern mehr ein stetig in mir schwelender, aber niemals wachsender Hass. Er ist eine Konstante in meinem Leben, an die ich mich immer klammern kann, wenn meine Mitmenschen mich an den Feiertagen mit falscher Liebe überschütten wollen. Ich hasse auch die Feiertage. Hinterhältige Glückwünsche, unbedacht ausgesprochen und nach wenigen Sekunden bereits vergessen; freundliches Lächeln überall, wohin man auch sieht, auch wenn unter diesem bleckenden Grinsen die wahre Kälte und Wut dieser Tage lauert. Warum nur müssen Menschen an den Feiertagen so falsch sein? Warum können sie nicht ehrlich ihre innersten Gefühle ausleben? Ich verstehe die Menschen, die in vorweihnachtliche Depressionen verfallen und sich am Heiligen Abend umbringen. Diese Menschen blicken hinter die scheinheilige Fassade und sie können die Falschheit dieser Zeit nicht ertragen. Sie blicken hinter die grinsenden Masken und erkennen ihre ureigene Angst davor, von ihren Masken tragenden Mitmenschen, die sie vielleicht sogar lieben, betrogen und verraten zu werden. Welch anderen Ausweg als den Freitod kann es da geben?

Auch ich erwäge jedes Jahr vor den Feiertagen den Selbstmord als Flucht vor den bitteren Weihnachtsgrüßen. Doch mir reicht es, mich bei Kerzenlicht in mein Wohnzimmer zurückzuziehen und Sartre zu lesen. Ich habe eine andere Möglichkeit der Flucht gefunden und so halte ich es aus in dieser Zeit. Ich tauche durch die Feiertage durch, überstehe die in jeder Hinsicht nasskalten Tage unbeschadet und wütend. Doch manchmal muss ich auftauchen. Nicht, um Luft zu holen – denn das Auftauchen selbst erstickt mich – sondern um unvermeidbare Wege zu gehen wie etwa den Weg zum Postamt, um meine eigenen falschen und vergifteten Weihnachtsgrüße in die Welt zu schicken. Eine Weihnachtskarte an meinen Neffen. Er ist ein Idiot, hat die Schule sowie sein Studium der Naturwissenschaften mit Auszeichnung abgeschlossen, arbeitet nun in einem großen Pharmazieunternehmen und glaubt, ein glücklicher Mensch zu sein während er Schritt für Schritt tiefer in den Alkoholismus abgleitet (wie kann er sonst soviel Glück ertragen?), aber er gehört zur Familie, man muss ihm zu Weihnachten schreiben.

So wie der Familie meiner einzigen Tochter. Sie führt ein gutes, bürgerliches Leben, unbedacht und einfältig, aber sie scheint zufrieden zu sein. Sie gehört zu dem grinsenden, Masken tragenden Einheitsbrei, ich muss mir um ihre Seele daher keine Sorgen machen, denn diese hat sie ohnehin schon abgelegt. Ihr Mann ist ... ihr Mann. Ich habe ihn nie wirklich kennen gelernt und ich verspüre auch kein Bedürfnis danach, ihn näher kennen zu lernen. Er ist ein einfacher, strebsamer Arbeiter und mir gleichgültig. Ich weiß, dass es ihn gibt und dieses Wissen genügt mir. Er versorgt meine Tochter, füttert die kleinen Bälger, die von Jahr zu Jahr mehr werden und was er sonst tut, ist mir einerlei. Ich schleppe mich jedes Jahr zwei- bis dreimal zu ihnen hin, esse mit ihnen, betreibe lockere und unbedeutende Konversation, erfülle meine Pflicht als braver Vater und Großvater. Mehr können sie von mir nicht verlangen. Auch ihnen gebührt dieses sinnlose „Ich wünsche euch ein frohes Fest und ein gutes neues Jahr“, diese Standardformel, die sich schon vor Hunderten von Jahren abgenutzt hat und jedes Jahr aufs Neue entstaubt und in alle Richtungen versandt wird.

Mir ist zum kotzen, als ich diese Zeilen mit meiner schon leicht zittrigen Handschrift schreibe, aber ich zwinge mich dazu. Falls ich keine Weihnachtskarten schreiben würde, kämen die lieben Familienmitglieder einer nach dem anderen zu mir um nachzusehen, ob es mich noch gibt, ob es mir gut geht und das möchte ich um jeden Preis verhindern. Also zwinge ich mich lieber zu diesen Zeilen – nie aber ohne zwei oder drei Gläsern Rotwein als Stütze.

Nun sind die Karten geschrieben, ich muss sie zur Post tragen, obwohl mir draußen die Sonne unbarmherzig ins Gesicht scheint. Ich stehe geblendet und vereinsamt auf dem Bürgersteig vor meinem Haus, fühle mich nackt und hilflos in der Masse der Konsumwütigen, die in großer Eile ihre letzten lieblosen Weihnachtsgeschenke zusammenklauben.

Langsam gewöhnen sich meine Augen an das grelle Licht und ich mache mich auf den Weg. Zehn Minuten Gehzeit sind zu überstehen, danach vielleicht fünf Minuten in der Schlange vor dem Schalter im Postamt, fünf Minuten Interaktion mit dem vorweihnachtlich genervten Postbeamten, danach wieder zehn Minuten zurück. Eine halbe Stunde gilt es zu überleben. Das klingt nicht viel, doch schon jetzt weiß ich, dass mir diese halbe Stunde unerträglich lange vorkommen wird, dass ich bereits nach fünf Minuten vor der Aufgabe stehen werde und dass mir meine Laune für den Rest des Tages verdorben sein wird nur wegen diesen dreißig Minuten im grellen Licht unter all diesen falschen Masken. Es gilt jedoch den Weg zu machen; die Konsequenzen, die sich aus meinem Scheitern ergeben würden, wären unerträglich.

Ich schlurfe los, mit unsicheren Schritten. Meine Beine sind nicht an Fußmärsche gewöhnt. Für gewöhnlich liegen sie in halbhoher Position auf meinem gemütlichen, mahagonifarbenen Wohnzimmertisch und ruhen sich aus während ich meine Zeitung oder ein gutes Buch lese. Vor einem Jahr, als ich wieder diesen unsäglichen und sich stets wiederholenden Marsch zum Postamt antreten musste, hatte ich zwei Tage später eine Blase auf der linken Ferse – ein Brandmal des Weihnachtsfestes.

Ein kleiner Junge kommt auf mich zu, er ist vielleicht zehn Jahre alt, vielleicht auch zwölf oder dreizehn. Ich war nie gut im schätzen. Was ich aber auf den ersten Blick erkennen kann, ist, dass er als Versager geboren wurde, ein Versager ist und als Versager sterben wird. Das pausbäckige, leicht sommersprossige Gesicht leuchtet in der Kälte rot auf, seine Bewegungen sind verwirrt und unkoordiniert. Er wird mich rammen, mich gegen die kalte Hauswand drücken und mir ein, zwei oder drei Knochen brechen. Ich werde dann auf einer Eisplatte zu liegen kommen, er selbst wird noch verwirrter „Entschuldigung“ stammeln und weiterlaufen. Am Abend wird er seiner Mutter von diesem Vorfall erzählen, jedoch die Tatsache, dass ich mich beim Sturz verletzt habe, verschweigen. Versager können die eigene Schuld nicht tragen, sie ist eine zu große Last für sie. Doch er verfehlt mich, hastet an mir vorbei und verschwindet in einer Einfahrt. Wer mich jedoch tatsächlich rammt, ist eine junge Mutter. Sie fährt mir mit dem Kinderwagen über den rechten Fuß, während ich dem pausbäckigen Jungen nachsehe. Als das Rad des Kinderwagens über meinen Fuß rollt, wird das Baby wach, es plärrt los, nervig, laut und unkontrollierbar. Die Mutter, eigentlich ein hübsches junges Ding mit langen, blonden Haaren und einem symmetrischen Gesicht, blickt mir konsterniert in die Augen. „Können Sie nicht aufpassen, wo Sie hinlaufen?“ ist ihre unverschämte Frage. Ihre blauen Augen blitzen frech und herausfordernd – sie ist ein Flittchen. Um mit der heutigen Sprache zu gehen: Jemand sollte sie mal ordentlich durchficken. Ich selbst jedoch bevorzuge den Terminus „nageln“, ich habe ihn vor Ewigkeiten einmal in einem schlechten Buch gelesen. Dieser Begriff ist in mir hängen geblieben, er hat etwas Anarchisches, Brutales. „Nageln“ ist hier in diesem Zusammenhang das eindeutig richtige Wort und ich korrigiere mich in Gedanken sofort: Jemand sollte sie mal ordentlich nageln.

Der Zorn steigt in mir hoch, ich spüre, wie mein Gesicht rot anläuft wie das kleine Gesicht des Babys, das in seinen hysterischen Schreikrämpfen keine Luft mehr bekommt. Doch bevor ich meinen Dampf ablassen kann, bevor ich diesem blonden Flittchen ins Gesicht schreien kann und ihre gesamte kümmerliche flittchenhafte Existenz eben dort hineinspucken kann, ist sie auch schon an mir vorbei, hastet weiter und scheint mich bereits vergessen zu haben.

Wohin mit der Wut, mit diesem angestauten Ausbruch? Ich könnte heulen – was gibt es Schlimmeres als sich die heftigsten Emotionen anzusammeln und diese nicht freisetzen zu können? Man hängt plötzlich in der Luft, hat keinen Boden mehr unter den Füßen. Und aus dem Zorn wird abgrundtiefer Hass auf das Objekt, das einen so hängen hat lassen. In einer derartigen Situation könnte ich morden, wenn ich nur das geeignete Werkzeug zur Hand hätte und das Objekt meines Hasses noch in Reichweite sehen würde. Ich denke, dass die meisten Affektmorde aus ebendiesen Situationen heraus entstehen.

Doch langsam beruhigt sich mein Puls wieder. Ich bin aber immer noch aufgekratzt, ein kleiner Lufthauch kann genügen um mich zur Explosion zu bringen. Das meine ich durchaus wörtlich. Das Blut in meinen Adern wallt heiß und unbarmherzig, der Puls pocht gegen die Arterien, mein eigenster roter Körpersaft will ausbrechen aus dem kalten Gefängnis der Adern. Ich fühle, dass ich mein Blut zwar kontrollieren kann; ihm befehlen kann, in meinem Körper zu bleiben; doch ist diese Situation alles andere als stabil. Ich habe das schon viele Male erlebt. Manchmal ist der Kelch an mir vorübergegangen und ich habe mich wieder beruhigen können, manchmal nicht. Und wenn nicht, dann waren die Konsequenzen zumeist fürchterlich, vor allem für mich selbst.

Ich erinnere mich an einen Vorfall vor, ich weiß nicht wie lange, vielleicht zwanzig Jahren. Ich war in meiner Stammkneipe (ja, damals hatte ich so etwas noch) an meinem Stammtisch, wie jeden Mittwoch Abend nach der Arbeit. Die Arbeit war ermüdend, ich hatte viel mit Menschen zu tun, nein schlimmer: mit Kunden und ich brauchte meine Pausen von all den ermüdenden Gesprächen mit diesen ermüdenden Menschen. Ich saß also wieder einmal an meinem Stammtisch und genoss mein einsames Bier, als sich eine junge, forsche Dame zu mir setzte. „Ganz allein heute?“ Sie war nicht willkommen. Ich versuchte ihr das verständlich zu machen, indem ich sie ignorierte und stattdessen all meine Konzentration auf mein Bierglas lenkte. Ich nahm den Krug, ein Maß, in beide Hände, tat einen kräftigen Schluck, setzte den Krug wieder ab und spielte mit dem Untersetzer. Ich drehte ihn zwischen meinen Fingern nach links, dann nach rechts. Doch die Dame, eine attraktive Mittdreißigerin mit kurzen, brauen Haaren, die in einer unauffälligen und doch damenhaften Frisur ihr schmales Gesicht betonten, blieb hartnäckig und ließ sich durch mein Spiel nicht beirren. „Du bist nicht sehr gesprächig. Doch zumindest deinen Namen wirst du mir sagen.“ Es klang wie ein Befehl, es war faktisch auch einer. Ich reagierte auf ihren Befehl, indem ich den Untersetzer auf den Tisch legte und mich stattdessen wieder meinem Krug widmete. Sie nahm den Untersetzer und begann ihrerseits damit zu spielen, ließ ihn zwischen rot lackierten Fingernägeln auf und ab wandern. Langsam wurde es mir zu viel. Sie wagte einen weiteren Versuch, legte den Untersetzer zur Seite und nahm meinen Kopf in ihre Hände. Sie blickte mir ernst ins Gesicht, schürzte nachdenklich die Lippen und meinte: „Ich heiße Susi.“ Ich nickte mit dem Kopf zwischen ihren Händen, versuchte unbeteiligt zu blicken, doch das Blut stieg mir heiß in den Kopf. Diesmal war sie entschieden zu weit gegangen. „Wie heißt du?“ Mein Puls wurde schneller und schneller, mühsam und mit aller Selbstbeherrschung, die ich aufbringen konnte, zischte ich: „Junge Dame, sie haben heute den Falschen angesprochen. Ich kann Ihnen nur raten, so schnell wie möglich zu gehen. Ich bin heute für Gesellschaft nicht zu haben.“ Nun hatte sie verstanden, wahrscheinlich weniger wegen meiner Worte, sondern eher aufgrund meines Blickes, meines unverhohlenen Zorns in meinen Augen. Sie nickte traurig, ließ meinen Kopf los und ging. Eigentlich hätte ich mich damit wieder zurücklehnen und weiter mein Bier genießen können, aber so schnell war ich nicht zu beruhigen. Zu aufgewühlt war ich durch diese Begegnung, zu sehr hatte sie mich mitgenommen. So verzichtete ich auf den letzten Schluck meines Biers, stand auf und wollte gehen. Ich nahm meinen Mantel, war schon fast bei der Türe draußen, als ich brutal wieder in das Lokal zurückgerissen wurde. „Mir ist es gleich, dass du ein Stammgast bist, die Zeche prellst du bei mir nicht!“ Der Wirt, ein grobschlächtiger Zigeuner mit hoch gezwirbeltem Schnurrbart, hatte mich beim Kragen gepackt. Ich wurde wild. Ungestüm stieß ich seine gewaltige, haarige Pranke von mir und drehte mich zu ihm. Ich sagte kein Wort, stattdessen schlug ich ihm mit der Faust ins Gesicht. Ich brach ihm dabei die Nase. Durch den Schlag wurde er nach hinten geschleudert und stieß mit dem Kopf gegen die Wand, was eine schwere Gehirnerschütterung zur Folge hatte. Ich kam damals mit einer Haftstrafe auf Bewährung und der Zahlung eines saftigen Schmerzensgeldes davon, weil es mein erstes Vergehen dieser Art war. Möglichkeiten dazu hatte ich aber schon oftmals gehabt. Vielleicht ist es Zufall, dass ich nicht schon jemanden getötet und lebenslänglich ausgefasst habe. Wahrscheinlich ist es so. Vom Schicksal möchte ich hier nicht reden, das kann mir gestohlen bleiben. Schicksal! Eine Erfindung der kleinen Geister, die mit dem Leben nicht zurechtkommen und sich daher eine Ausrede für ihr Scheitern suchen müssen. „Zufall“ ist eher nach meinem Geschmack, damit kann ich etwas anfangen. Ich bin also zufällig kein Mörder. Das Potential würde in mir stecken, aber die Gelegenheiten haben sich bisher noch nicht geboten.

Im Grunde sind wir alle potentielle Mörder. Was bedeutet schon ein Menschenleben unter sechs Milliarden? Ich nehme mein eigenes davon nicht aus. Wenn mich jemand umbringen will, dann soll er es tun. Ich bin nicht so wichtig, dass ich damit ein Problem hätte. Nur verstehen das die meisten Menschen nicht und erstarren vor Entsetzen, wenn sie das Wort „Mord“ hören. Scheinheilige Bande! Jeder Priester könnte ein Mörder sein, wenn man ihn lange genug mit Scheiße füttert. Wenn man ihm das nimmt, was er zum Leben braucht. In meinem Fall wären das wohl die Bücher. Ja, wenn jemand meine Bücher verbrennen würde, dann würde ich ihn umbringen – mit meinen eigenen alten, zittrigen Händen.

Konsequenzen? Es ist doch eigentlich egal, wo man sein Leben fristet – ob nun im gemütlichen Wohnzimmer oder in einem Gefängnis, das soll mir einerlei sein. Der Mensch gewöhnt sich an alles.

Und so haste ich weiter auf meinem einsamen Weg zum Postamt. Ich habe schon zu viel Zeit mit meinen Gedanken vergeudet. Was hat das alles ausgelöst? Ach, das Flittchen mit ihrem Kinderwagen. Fast hätte ich vergessen, wütend auf sie zu sein. Meine Blicke streifen umher, sie ist verschwunden. Stattdessen im Blickfeld: Ein großer, hagerer Mittvierziger im billigen Nadelstreifanzug. Brille, die schon schütter werdenden Haare glatt zurückgekämmt, ein trauriges Kamelgesicht, die Hände spielen unruhig an seinem billigen Aktenkoffer: Ein Bankangestellter. Ein schlecht bezahlter, unzufriedener, im Privatleben frustrierter Bankangestellter. Er hat sicher einmal große Träume gehabt; hat an das große Geld und an die hübschen Frauen gedacht, die ihm in seiner Villa zu Füßen liegen, hat an sie gedacht, wenn er sich einen runtergeholt hat. Das Leben verläuft aber anders, als man es sich erträumt. Und so steht er nun vor seiner mickrigen Existenz, zu Hause hat er vermutlich eine langweilige, kleine Frau in Lockenwicklern sitzen, deren wöchentlicher Höhepunkt der Kaffeeklatsch mit den Nachbarinnen ist, dazu laufen zwei oder drei kleine Bälger herum, die außer brüllen nichts gelernt haben.

Wohin geht er? An seiner Stelle würde ich mir das nächste Lokal suchen und mir die Birne wegschütten. Ein trostloser Anblick – so wie die meisten Menschen. Wie auch das Seil hüpfende Mädchen. Sechs oder sieben Jahre alt, die Bewegungen unkoordiniert, ihre Beine geraten immer wieder in das Seil. Sie hat schwarze Zöpfe, der Rest ihres Haares ist unbändig gelockt. Ihr Gesicht wirkt konzentriert, aber traurig – ein rundes Kleinmädchengesicht ohne besondere Merkmale. Die Kleidung ist billig, aber nicht schäbig. Durchschnittlich. Wie kann man im Winter nur Seil hüpfen?

Sie gefällt mir nicht und ich gehe weiter. Warum sollte man sich mit Menschen länger als notwendig abgeben? Sie enttäuschen einen doch letztendlich. Sie erschleichen sich die Freundschaft, man gibt ihnen, sie nehmen und dann sind sie eines Tages wieder weg. Ich will mit solchen Gestalten nichts mehr zu tun haben. Ich habe im Laufe meines Lebens genug Menschenkenntnis erworben, dass ich mich guten Gewissens von Menschen fern halten kann. Ich kenne die Menschen und brauche sie nicht. Ich kenne ihre Falschheit, ihren Egoismus, ihr kaltes Kalkül. So gehe ich meine eigenen Wege und tue gut daran. Wenn ich einen Menschen sehe, dann blicke ich ihm in die Augen; wieder und wieder erkenne ich diese Falschheit, diesen Egoismus, dieses kalte Kalkül. Manche halten mir vor, dass ich die Menschen zu schnell bewerte, in Schubladen stecke und ablege. Aber so funktioniert das nun mal, wenn man über so viel Erfahrung verfügt wie ich. Ich kann die Menschen bewerten und in Schubladen stecken, ich bin ein Menschenkenner.

In gewissem Sinne kann man mich sogar als Menschenfreund betrachten – ich bin so freundlich und gehe ihnen aus dem Weg. Stattdessen könnte ich schließlich die Konfrontation suchen. Aber den Versuch, die Menschen um mich herum zu verbessern, habe ich längst aufgegeben und ziehe nun meine eigenen Kreise. Das ist sicherer für alle. Vergangener Idealismus kann mich nicht mehr gefährden. Früher dachte ich noch, dass ich die Menschen ändern kann oder noch schlimmer: dass ich mich ändern kann. Wenn man jung ist, dann glaubt man solche Dinge. Aber was ist passiert? Man wird älter und die Menschen bleiben die gleichen Arschlöcher wie immer, man selbst bleibt der Gleiche. Irgendwann resigniert man vor dieser unabänderlichen Tatsache des Lebens – nichts verändert sich. Alles, was man tun kann, ist, zu versuchen mit dieser Situation zurechtzukommen. Ich komme damit zurecht, indem ich den Menschen aus dem Weg gehe. Manchmal belästigen sie mich aber, stören mich in meiner Ruhe. Und manchmal – so wie heute – bin ich gezwungen, Menschen mit mir zu belästigen. So wie den Postbeamten.

Ich kenne ihn vom letzten Jahr. Er hat nun kürzere Haare, aber immer noch das gleiche schiefe und abgrundtief dämliche Berufsgrinsen. „Mein Herr, was darf es sein?“ „Marken für drei Inlandspostkarten.“ Ich bin nicht freundlich, ich will nicht freundlich sein und selbst, wenn ich wollte, könnte ich nicht. Freundlichkeit liegt mir nicht. „Aber sicher, der Herr.“ Er nervt mich. Er grinst stupide, ist ganz dienstbeflissen, mich stört so etwas. Seinen Augen merke ich an, dass er von meiner barschen Art irritiert ist, dies aber – ganz kundenfreundlich – nicht zeigen möchte. Und doch bemerke ich es. Mir kann niemand etwas vormachen. Er reißt die drei Briefmarken aus dem Block heraus und legt sie vor mir auf den Schalter. „Eins fünfundsechzig, bitte.“ Ich zahle und nehme die Marken. Draußen schlecke ich sie ab – dieser widerliche Geschmack – und klebe sie schief auf die Postkarten. Nicht, weil ich ungenau arbeiten würde – nein, die schiefen Marken haben bei mir Methode. Ich bringe darin meinen Widerwillen, derartige Postkarten schreiben zu müssen, zum Ausdruck. Ich tue mir selbst leid, dass ich keine anderen Mittel finde, um gegen den Weihnachtswahnsinn zu protestieren.

Ich werfe die drei Karten in den Briefkasten und in drei oder vier Tagen werden mein Neffe, meine Tochter und meine Exfrau die flüchtig und lieblos gekritzelten Botschaften aus meinem Wohnzimmer in ihren Händen halten. Bei dem Gedanken muss ich würgen. Ach, wie nett, dass er sich zumindest vor Weihnachten meldet. Wenigstens den Mindeststandard erfüllt er, der alte Sack. Aber was soll es – ich muss mich nicht rechtfertigen. Sollen die denken, was sie wollen, mich kümmert es nicht.

Das war früher einmal anders. Vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren habe ich mich um das gekümmert, was meine Exfrau gedacht hat. Ein schwerer Fehler! Davon wird man nur blöd. Man macht sich zu viele Gedanken, interpretiert – meistens falsch – und analysiert, dreht sich im Kreis und verhaut schlussendlich doch alles. Wie konnte ich nur so lange verblendet dahinvegetieren? Zwölf Jahre war ich verheirat, ich war ein willenloser Sklave. Immer wollte ich ihr alles recht machen, doch nie konnte ich sie auch nur ansatzweise verstehen. Wir haben uns zwölf Jahre lang beschnuppert. Als ich festgestellt habe, dass wir nicht füreinander geeignet sind, hat es weh getan. Es war nicht einfach, einen Schlussstrich zu ziehen, aber letztendlich hat mich dieser finale Akt eines zwölfjährigen Dramas gerettet.

Ich bin ein freier Mann, seit Ewigkeiten schon. Nur damals war ich ... verliebt. Aber so etwas legt sich wieder. Es stellt sich am Ende nur die Frage, ob man sich dann, wenn sich diese Verliebtheit gelegt hat, wieder aus der Beziehung lösen kann oder ob man für immer ein Gefangener bleibt. Ich habe den Absprung geschafft, obwohl es lange, zu lange gedauert hat. Erinnerungen an ein altes Leben, das ich längst abgelegt habe. Und doch packen mich Jahr für Jahr diese Erinnerungen mit scharfen Klauen. Jedes Jahr trage ich diese Postkarten auf das Postamt, die mich daran erinnern, dass ich nicht immer frei war. Manchmal bedauere ich, dass ich diese Erfahrungen machen musste; manchmal bedauere ich, dass sie bereits vorbei und Geschichte sind. Wer kennt sich schon aus in diesem verrückten Leben?

Ich bin mit mir selbst unzufrieden, wenn ich mich dabei ertappe, dass ich an sie denke und sie – ohne konkreten Anhaltspunkt, ohne genau zu wissen, warum – vermisse. Diese Gefühlsduselei; ich sollte mittlerweile über den Dingen stehen. Und doch erwischt es auch mich von Zeit zu Zeit. Manchmal spreche ich dann Frauen an, junge Mädchen, und versuche mich zu verabreden. Jedes Mal endet dieses hilflose Unterfangen in einem Fiasko. Ich kenne das Resultat gut und doch fordere ich es von Zeit zu Zeit heraus. Die Macht der Gewohnheit. Richtig wohl fühle ich mich erst, wenn ich wieder allein in meinem heimeligen Wohnzimmer sitze und weiß, dass mich die nächsten Tage, vielleicht Wochen niemand belästigen wird. Wenn ich diese emotionale Phase ausgestanden habe.

Ich hasse es zu begehren. Es ziemt sich nicht und macht mich nur kaputt. Es zerstört meine Selbstsicherheit, meine in all den Jahren mühsam erworbene innere Kraft. Es blendet mich in meiner Menschenkenntnis, ich beurteile die Menschen milder, als es ihnen zusteht. Und doch begehre ich manchmal. Vielleicht liegt es sogar in der Natur des Menschen, andere Menschen zu begehren und zu ihnen Kontakt zu haben, aber es ist besser, diese Natur zu verleugnen. Begehren stürzt den Menschen ins Unglück, da das Opfer der Begierde in der Wirklichkeit nie mit den Erwartungen Schritt halten kann. Man wird enttäuscht, wenn man diesen Menschen besser kennen lernt; man wird von seinen Schwächen, seinen Taten, seinen unverständlichen Träumen, seinen Gewohnheiten enttäuscht. Ich habe das lange Zeit als junger Knabe nicht verstehen können und wurde oft enttäuscht. Ich habe daraus gelernt. Ich möchte die Menschen um mich nicht besser kennen lernen. Ich kann sie auf den ersten Blick beurteilen und liege damit meistens richtig. Der erste Eindruck enthält alles, was man über einen Menschen wissen muss. Wie sieht er aus? Wie kleidet er sich? Wie bewegt er sich? Hastig? Lethargisch? Mit wem spricht er? Wie spricht er? Was sagt seine Miene? All das kann man aus dem ersten Blick, den ersten zwei Sekunden, erkennen. Was will man mehr? Alle weiteren Informationen sind unnötiger Ballast. Wozu seine Schwächen wissen, seine Taten, seine Träume oder seine Gewohnheiten? Man stellt sich ohnehin etwas anderes darunter vor, als es dann tatsächlich ist. Vor allen Dingen, wenn man den Menschen besser kennt. Wie überrascht wären die meisten Ehemänner, wenn sie die Gedanken ihrer Frauen lesen könnten! Wie schockiert wären die meisten Ehefrauen, wenn sie einmal in die Rolle ihres Mannes schlüpfen würden! Mein System ist effektiver und in seiner Schlichtheit ausgereifter. Nie wieder werde ich enttäuscht von anderen Menschen. Die meisten legen die Latte zu hoch an, erwarten sich zu viel, doch ich weiß es besser. Man darf sich nichts erwarten von einem anderen Menschen.

Und so gehe ich der Menschheit aus dem Weg, sie kann mich nicht mehr locken. Nur kurz kann ich den Anblick fremder Menschen ertragen, nur kurz kann ich mit ihnen so etwas wie Konversation betreiben, nur kurz bleiben sie mir im Gedächtnis. Alles wunderbar kurz. Wenn ich es mir so überlege, dann könnte ich die Menschen durchaus hassen. Möglich wäre es, jedenfalls ist es nicht abwegig. Ja, es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass ich die Menschen hasse. Es befreit, so etwas zu sagen. Ein Klotz, der die Seele blockiert, wird dadurch ausgespuckt und ich fühle mich frischer. Ich hasse Menschen.

Das klingt gut.

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#2

Nur kurz

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 08.06.2006 12:04
von Gemini • Long Dong Silver | 3.094 Beiträge | 3130 Punkte
Gott! Rod!

Mach doch bitte ein paar Absätze rein! Von mir aus auch willkürlich!

So wird dir das niemand lesen glaub ich.

LG Gem

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#3

Nur kurz

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 08.06.2006 12:11
von Maya (gelöscht)
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Normalerweise widerspreche ich Gem schon aus Prinzip - doch diesmal...Nee, Rod, zolle Deinen Lesern mal etwas Reverenz, ähm...Respekt, indem Du ihnen das Lesen erleichterst.

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#4

Nur kurz

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 08.06.2006 12:20
von Roderich (gelöscht)
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Ach verdammt, wir konntet ihr das nur entdecken?

Dann werde ich also mal zur Schere greifen.

Grüße

Thomas

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#5

Nur kurz

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 08.06.2006 14:34
von Gemini • Long Dong Silver | 3.094 Beiträge | 3130 Punkte

Zitat:

Roderich schrieb am 08.06.2006 12:20 Uhr:
Ach verdammt, wir konntet ihr das nur entdecken?




Aufgefallen ist mir, dass da etwas nicht ganz stimmt, als mir schwindlig wurde und meine Nase zu Bluten begonnen hat.

@ Yam:

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