#1

Berlin 1989

in Gesellschaft 14.02.2006 08:03
von kein Name angegeben • ( Gast )
Berlin 1989

Sie zuckt zusammen:
SchlagWörter
(Juden, Auschwitz, Großdeutschland)
Sonntag morgen
beim Frühschoppen.

Zwischen gestern und morgen,
unbemerkt,
so ganz nebenbei,
wird sie
bedroht,
erschlagen
von deutschem Gelächter.

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#2

Berlin 1989

in Gesellschaft 14.02.2006 11:42
von Don Carvalho • Mitglied | 1.880 Beiträge | 1880 Punkte
Hallo Daniela,

zunächst einmal ein herzliches Willkommen im Tümpel.

An den November 1989 haben viele ihre ganz eigenen Erinnerungen (ich dachte nur: Mist, jetzt holt sich die Bundeswehr ihr Kanonenfutter bald auch in Berlin). Auch wenn das hier nun Deine Gedanken sein könnten, möchte ich explizit von einem vom Autor getrennten lyrischen Ich ausgehen.

Es liegt nahe, dass das lyrische Ich entweder selbst während der Nazizeit verfolgt wurde oder es zumindest ihm nahestehende Personen verloren hat. Anders lässt sich diese empfundene Bedrohung nur schwer erklären. Natürlich könnten die Schlagwörter nur exemplarisch und wegen ihres weithin reichenden Klanges gewählt worden sein, es spricht in meinen Augen aber nichts dagegen, es konkret auf das lyrische Ich zu beziehen: ich vermute daher, sie ist Jüdin und hat entweder selbst Ausschwitz überlebt oder aber ihre (Groß-)Eltern waren dort. Die Gedanken daran jagen dem lyrIch Angst ein und bereits die ausgelassene Freude der Menschen lässt sie an diese Dinge denken.

Soweit meine erste Interpretation, von der allerdings inzwischen abgerückt bin.

Ich habe zunächst eine Weile in meinen Erinnerungen herumgekramt, denn ich konnte mich nicht daran erinnern, dass die Mauer am Wochende gefallen war (da hatte ich mE meinen Geburtstag nachgefeiert). Die Überraschung des lyrIch beim sonntaglichen Frühschoppen hatte ich aber zunächst dahingehend gedeutet, dass es von Maueröffnung, Trabis und Jubelgesängen überrascht wurde und sich aufgrund des psychologischen Profils des lyrIch diese Ängste einstellten. Nun habe ich nochmal nachgeschlagen (=gegoogelt), und tatsächlich: die Mauer fiel von Donnerstag auf Freitag.

Demnach konnte das lyrIch nicht von der Maueröffnung erschrocken worden sein, die dargestellte Szene spielt also an einem der Sonntage 1989 nach dem 11.11., das lyrIch ist beim Frühschoppen und hat der Maueröffnung bislang zumindest nicht als furchterregend empfunden. Das Entsetzen kam auf, weil es diese Schlagwörter von anderen beim Frühschoppen vernahm, verbunden vermutlich mit einem wir-sind-wieder-wer. Bei diesem Ansatz muss das lyrIch auch weder Jüdin sein noch jemanden in Auschwitz verloren haben, nichteinmal schwul, Zigeuner oder Sozialdemokrat, sondern schlicht jemand, der sich kritisch mit der deutschen Geschichte auseinandersetzt.

Eigentlich schade, dass diese beiden Interpretationsansätze nicht nebeneinander stehen können, hierfür müsste man aber den Frühschoppen auf den Freitag verlegen (geht das? Oder macht man sowas grundsätzlich nur sonntags? Hm...). Aber mir gefällt auch so, dass man - auch wenn man die Richtung Deines Textes schnell erfasst - über die Zeilen noch grübeln muss, um sie richtig zu verstehen.

Sprachlich stehe ich Deinen Zeilen eher neutral gegenüber. Die Zeilenumbrüche sind nachvollziehbar, die kleineren "Gimmick" (SchlagWörter) funktionieren, aber besonderes findet sich nicht.

Trotzdem gern gelesen,

Don

P.S.:
Noch ein Tipp: zwar haben wir (wie ich selbst gerade feststellte) keine Postingbeschränkung für Gedichte, wenn Du aber so viele Werke auf einmal veröffentlichst, führt das sicherlich dazu, dass einige unbemerkt durchrutschen. Es ist daher sicherlich empfehlenswert, auch bei Vorhandensein eines größeren Fundus nur nach und nach zu posten und auch andere Werke zu kritisieren, damit die eigenen Sachen die ihnen zustehende Aufmerksamkeit erhalten.

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#3

Berlin 1989

in Gesellschaft 02.03.2006 18:32
von barfly (gelöscht)
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also ich kann Don Carvalho da nur zu stimmen. ich interpretiere es auch, dass sich das lyr. ich von den großmachtambitionen, denen deutschland nun mit gewicht nachgehen kann, entsetzt ist und erstmal zusammenzuckt. obwohl ich dieses zusammenzucken als reaktion nicht gerade nachvollziehbar finde. man ist doch erstmal eher reserviert und betrachtet alles argwöhnisch, was da gerade passiert. ein affektives zucken ist ja nur gegeben, wenn man sich wirklich existentiell bedroht fühlt.
das deutsche gelächter - die zeile interessiert mich am meisten: ist es die deutsche borniertheit, die in der wiedervereinigung so gar nicht die gefahr sehen will, sondern nur dass das "reich wieder vereint ist" in den augen des lyr. ichs ist es dann eher gelächter als freude.
oder die deutschen wissen, was für chancen es deutschland bietet. dann ist es hämisches gelächter. letzteres scheint mir aber dann an den haaren herbeigezogen.

grüße
barfly

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