#1

Der Raviolitraum

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 06.01.2006 09:20
von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Der Raviolitraum

„Blöde Kuh.“
Olga trottete mürrisch vor sich hin. Das tat sie meistens - wenn sie nicht gerade mürrisch dasaß, mürrisch lag oder schlief. Olga konnte sogar mürrisch rennen. Aber das tat sie sehr ungern. Sie verzichtete gerne darauf, denn sie wusste, dass das ziemlich komisch aussah. Und sie fand, sie sah so schon komisch genug aus. Olga war ein 9-Jahre-altes Mädchen mit kurzen gnubbeligen Beinen, runden Hängeschultern und über ihrem Hals einem etwas zu breiten Gesicht, in dem schmale Augenbrauen, die kleinen nervösen Äuglein, eine beulige Nase und der freudlose Mund versuchten sich zu einer Art Miene zusammen zu raufen. Das Lächeln schien ihr so vertraut zu sein wie einer Nonne der flotte Dreier.
„So blöd“, murrte sie.
Eine weitere farblose Strähne löste sich aus ihrem Pferdeschwanz und legte sich ihr ums missmutige, rote Gesicht.
„Ich weiß echt nicht, was du willst“, entgegnete Verena, ihre große Schwester, leicht genervt. Verena war mit einem für ihre zwölf Lenze auffällig eleganten Gang ausgestattet und flanierte mit ihren wallenden, weizenblonden Haaren lebendig neben Olga her. „Jetzt komme ich schon mit und begleite dich.“
Olga grummelte mit geschlossenem Mund einen wortlosen Kommentar.
„Ich könnte ja auch sagen, geh doch alleine zum Supermarkt - alt genug bist du ja – und kauf deine ollen Ravioli alleine.“
„Würdest du ja auch, wenn Mama nicht gesagt hätte, du sollst mich begleiten“, meckerte Olga.
Verena lächelte das großzügige Lächeln der überlegenen Schwester, legte Olga einen elfenhaften Arm um die hängende Schulter und sagte: „Nein, ich geh doch gerne mit dir einkaufen. Es ist nur, dieser Traum, von dem du erzählt hast, klingt wirklich sehr lustig, gerade vor dem Hintergrund, dass wir jetzt wirklich Ravioli für dich kaufen gehen.“
Olga fand das ganz und gar nicht lustig. Sie liebte Ravioli aus der Dose, ein Leibgericht halt. Doch seit einiger Zeit hatte sie diesen Alptraum, in dem sie stets in einem gigantischen Supermarkt vor einer riesigen, aufgetürmten Pyramide von Konserven mit Ravioli drin stand. Und jedes Mal, wenn sie eine der Büchsen in ihrer Reichweite mit den Händen herauszog, begann die Pyramide einzustürzen. Jedes Mal rannte Olga in eine andere Richtung davon, und stets neigte sich die stürzende Lawine wie eine gigantische nach ihr greifende Hand genau in diese Richtung und drohte, sie unter sich zu begraben. Olga hatte immer Todesangst in diesem Traum und wachte voller Schrecken auf.
Heute hatte sie ihrer großen Schwester im Vertrauen davon erzählt - warum auch immer. Schön blöd. Dabei konnte sie sich ja denken, wie Verena reagieren würde. Nach etwa fünf Minuten hatte diese dann endlich aufgehört, Olga auszulachen und hatte gemeint: „Also verstehe ich das richtig, du kannst dich jedes Mal, wenn du wieder diesen Traum hast, daran erinnern, wohin du die letzten Male davon gerannt bist und rennst dann woanders hin?“
Olga war verblüfft, dass ihre Schwester ihr doch so genau zugehört hatte und hatte ihr verdutzt geantwortet: „Ja. Und was ist daran so komisch?“
„Na, wenn du weißt, was passiert, wieso ziehst du dann jedes Mal wieder eine Dose heraus?“ Verena grinste sie dann ein bisschen hämisch und erwartungsvoll an. Olga war völlig perplex. „Ja weil...weil...äh.“ Und schon war Verena wieder in schallendes Lachen ausgebrochen.
Das war vor einer Stunde.
Irgendwann hatten sie sich auf Geheiß der Mutter auf den Fußweg zum Einkaufen gemacht, um unter anderem Ravioli zu kaufen, extra für Olga, ein weiterer Anlass für viel Spaß bei Verena. Seit dem kam aus Olgas Mund fast nur noch „Blöde Kuh“ und „So blöd.“
Nach außen beschimpfte sie ihre Schwester, innerlich sich selber, zum einen dafür dass sie sich ausgerechnet dieser Zicke offenbart hatte, die ihren Mund nie halten konnte und es wahrscheinlich zeitnah jedem Idioten erzählen würde, und zum anderen, dass sie so einen Narren aus sich gemacht hatte. Denn sie wusste wirklich nicht, warum sie immer wieder mit eigener Hand die Pyramide zum Einstürzen brachte, so wie dieses kleine Kind, das sie früher mal im Fernsehen in der Sesamstraße gesehen hatte. Sie musste darüber nachdenken.
Doch sie wurde just aus ihren Grübeleien gerissen, als sie beide den Supermarkt betraten. Nun mussten sie sich darauf konzentrieren, was sie alles einkaufen sollten. Es war einer dieser fabrikhallenartigen Supermärkte mit breiten Gängen und so riesigen Einkaufswagen, dass man darin Papageien artgerecht halten könnte.
Als sie um die Ecke zu den Kühlregalen bogen, bot sich ihnen ein bizarrer Anblick. Ravioli von Maggi waren im Angebot. Das war nicht zu übersehen. Da stand ein riesiges Werbeschild vor einer bestimmt vier Meter hoch aufgebauten Pyramide aus Konservendosen. Verena brach sofort in hysterisches Gackern aus. Olga schwieg wie erstarrt. Ihr war extrem unbehaglich zumute. Sie stand wie angewurzelt da. Verena ging auf das Bauwerk zu, berührte eine Dose unten in der Mitte mit dem Zeigefinger und meinte zu Olga, die immer noch dastand wie ein Playmobilmännchen: „Na, Olga, willst du die hier herausziehen? Ich glaube, wir müssen wohl den Sicherheitsdienst rufen. Wir wissen doch alle, dass du dich beim Anblick so vieler Konserven nicht beherrschen kannst.“ Sie lachte wieder. Jetzt wurde Olga sauer, richtig sauer und sah ihre Schwester verkniffen an.
Ein Verkäufer eilte zu Verena und meinte: „He, passen sie auf! Nichts anfassen.“ Er zog sie sanft weg von dem Konserventurm. Verena lachte ihn mit ihrem charmanten Geklimper an. „Keine Sorge. Ich albere nur ein wenig rum mit meiner kleinen Schwester.“
Sie sahen beide zu Olga herüber.
Au Scheiße, dachte Olga, Herr Bräsel, der Vater eines dieser missratenen, fiesen Jungs aus ihrer Schulklasse, die sie immer hänselten.
Herr Bräsel erkannte sie zu allem Übel auch noch und meinte: „Ach, du bist doch in der Klasse von Thomas. Thomas Bräsel. Ich bin sein Vater.“
Olga antwortete nicht. Sie hatte viel zu viel Angst, dass ein falsches Wort aus Verenas Mund purzeln könnte, etwas wofür sie ihre Schwester wahrscheinlich ihr ganzes restliches Leben lang hassen müsste, was nicht mehr sehr lange sein dürfte, weil Olga sicher war, dass sie dann auf der Stelle vor Scham sterben würde. Verena, bitte, erzähle ihm nichts von dem Traum, schrie sie innerlich.
Dann stellte Herr Bräsel der grinsenden Verena die fatale Frage.
„Was ist denn so lustig?“
Olga bekam keine Luft und war den Tränen nah. Die Pyramide stürzte quasi über ihr ein, aber diesmal würde sie nicht vor dem Aufschlag aufwachen. Verena sagte, ohne zu ihr herüber zu sehen zu Herrn Bräsel: „Ach nichts. Nur Schwesternkram. Was persönliches.“
Herr Bräsel lachte.
„Ah, verstehe. Na ja, Hauptsache ihr lasst dieses Kunstwerk hier stehen. Höhö.“
„Keine Sorge. Wir sind ja nicht lebensmüde“, antwortete Verena kichernd.
„Na, dann noch einen schönen Tag die jungen Damen.“ Er sah sie beide freundlich an und ging weiter.
Olga war fertig – und Olga war glücklich. Sie war plötzlich erfüllt von einer wohligen Wärme für ihre große Schwester. Irgendwie spürte sie eine Welle der Zuneigung und des Vertrauens durch sich hindurch schwappen und die Gewissheit, dass sie sich irgendwie auf Verena verlassen konnte. Sie gingen mit dem Einkaufswagen weiter, und diesmal empfand sie den Arm, den Verena ihr um die Schulter legte als liebevoll und wohltuend.
„Danke“, sagte Olga.
„Wofür? Dass ich mich dir in den Weg stellte, bevor du dich wie eine Abrissbirne auf die Konserven stürzen konntest?“ Wieder lachte sie schallend.
Verena machte sich lustig über sie. Aber das machte Olga gerade nichts aus. Sie freute sich des Lebens und wusste irgendwie, dass sie nächste Nacht nicht mehr diesen Raviolitraum haben würde, und wenn doch, dann würde sie diesmal keine Dose herausziehen – warum auch immer.
Cool, dachte sie und lächelte.

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#2

Der Raviolitraum

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 06.01.2006 10:09
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
Hi GW

Erinnert mich irgendwie an meine grossen Schwestern.

- Man kann nicht vor sich hin trotten. Man kann trotten und vor sich hin murmeln, aber so, wie du das in der 2. Zeile schreibst, ist es nicht möglich. Vorschlag: Olga trottete mürrisch neben ihrer grossen Schwester her ..... so was in der Art.
- Ich würde die Pyramide nicht erklären. Vertrau auf die Intelligenz deiner Leser. *g
- Etwas Formales. Fange, wenn du mit direkter Rede beginnst, jedes Mal eine neue Zeile an. Das braucht zwar Platz, ist aber übersichtlicher.
- Vermeide übertriebene Adjektive. Das wirkt meist so, als wolltest du bemüht witzig sein.

Gruss
Margot

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#3

Der Raviolitraum

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 06.01.2006 10:51
von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Hallo Margot,

vielen, vielen Dank fürs Lesen und für Deinen Kommentar.
Zu Deinen Kritikpunkten:
- Ich muss zugeben, ich bin noch nicht so überzeugt, dass man wirklich nicht vor sich hin trotten kann. Und Die Schwester will ich bewusst aus dem ersten Absatz raus lassen, weil ich hier nur Olga zeichnen will.
- Tja, ausgerechnet den Satz mit der Pyramidenbeschreibung habe ich als allerletztes nachträglich eingefügt. Wohl wieder nicht rechtzeitig gemerkt, wann Schluss ist.
- Das mit dem Zeilenbeginn bei der wörtlichen Rede ist ein guter Tipp. Hab's ja instinktiv fast überall gemacht. Gehe ich nochmal durch.
- Ja und das mit den übertriebenen Adjektiven... Ich fürchte, da wollte ich wohl auch bemüht witzig sein.

Danke für das wertvolle Feedback.

Lieben Gruß,
GerateWohl

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#4

Der Raviolitraum

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 06.01.2006 14:29
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
Du bist zwar der Erzähler, aber du solltest deine pers. Einstellung zu Dingen, dem Leser nicht auf silbrigen Tabletten vorlegen. Auch Vergleiche, sagen wir mal, den mit der Nonne, sind zwar witzig, aber in einer Geschichte über kleine Mädchen haben sie nichts zu suchen. Nicht, dass der Text naiv daher kommen muss, aber bei so Kleinigkeiten schimmert die Person des Autors zu fest durch.
Ich weiss, wovon ich rede, ich tue das auch immer wieder und muss das dann im Nachhinein korrigieren.

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#5

Der Raviolitraum

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 06.01.2006 15:48
von Gemini • Long Dong Silver | 3.094 Beiträge | 3130 Punkte
Hallo GW

missmutiges Gesicht, knubbelige Beine. Ich finde zu Beginn ist deine Sprache zu ausführlich und blumig. Sie wird dann gegen das Ende hin stark vereinfacht. Ich finde du hast zu Beginn all dein Pulver verschossen. Die Beschreibungen wie z.b. die Beschaffenheit verschiedener Körperteile ist, könntest du auch über die ganze Geschichte verteilen. So, hast du alles am Anfang gedrängt und gegen das Ende hin, wurde auch deine Erzählweise weniger ausführlich.
Ich würde mich um eine klare Sprache bemühen und unnötige verschnörkelungen vermeiden.Ich finde ebenfalls, dass man mit vergleichen sehr vorsichtig und sparsam umgehen sollte, denn auch ich finde die Sache mit den Nonnen nicht gut.
Auch ist die Beschreibung der Äusserlichkeiten vielleicht zu vernachlässigen, da es sich ja um den Traum und die Beziehung der Schwestern zueinander handelt. Dies hättest du, finde ich etwas besser herausarbeiten sollen. Das wäre wichtiger gewesen als den Mund so genau zu beschreiben. Ich weiß als Leser auch nicht, warum Olga so missmutig ist. Liegt es an der Gesellschaft der Schwester, oder an den knubbeligen Beinen? Weil sie zu fett ist und sie nichts zu fressen zu Hause hat?
Ich finde, du hättest uns die Psyche der Beiden etwas näher bringen sollen.

LG Gem

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#6

Der Raviolitraum

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 06.01.2006 17:30
von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Hi Margot, Gemini,

vielen Dank für die extrem konstruktiven Beiträge. Mir behagte die Sache an vielen Stellen auch nicht, hatte aber keine Ahnung warum. Ihr habt das sehr gut herausgearbeitet. Mal sehen, ob ich da noch was draus gebastelt kriege.

Schöne Grüße,
GerateWohl

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