#1

Gezeitenstrom

in Düsteres und Trübsinniges 11.05.2005 14:28
von Velazquez | 315 Beiträge | 315 Punkte

Als wir bewanderten Strom Fingerzeig
schlug Steinwurf ein in unserm Dach aus Häuten
wie wir landaufwärts wuchsen
die Stirn gen Süden versilbernd

--- Flut Ebbe Ebbe Flut

Wie Strandgutsammler liefen wir
den Blick im Korb des andern
Was uns die Brandung heute bringt
wollen die Augen wissen

--- Flut Ebbe Ebbe Flut

Um die Gedanken wie Sandkorn
weht Wind die Nacht herbei
und schwarzen Grund zu unsern Füßen rot

--- Flut Ebbe Ebbe Flut

Was grämt dich, Nazife?
hast die Gezeiten gebändigt
du kannst doch jetzt nicht schweigen


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#2

Gezeitenstrom

in Düsteres und Trübsinniges 12.05.2005 10:40
von Don Carvalho • Mitglied | 1.880 Beiträge | 1880 Punkte
Hallo Velazquez,

zunächst einmal herzlich Willkommen im Forum. Ich schleiche jetzt schon einige Zeit um Dein Gedicht herum, ohne mich so recht heran zu trauen, es fällt mir schwer, dass Thema zu erfassen.

Ich beginne daher erst einmal mit einigen formalen Dingen:
dieser Fettdruck wirkt sehr eindringlich, dennoch bin ich kein Freund von derartigem. Ich denke, Du solltest Deine Zeilen auf "natürliche" Weise wirken lassen, schließlich geht es ja um das Gedicht und nicht um irgendwelche Formatierungsbefehle.
Die Strophenaufteilung lässt an ein Sonett denken, die Einschübe zwischen den Strophen sind interessant. Hat etwas...

Nun gut, dann versuche ich mich einmal inhaltlich (ich bin ziemlich erkältet, insofern wundere Dich bitte nicht, wenn meine Synapsen seltsam hopsen ). Ich schreibe jetzt einfach mal meine Gedanken zu den jeweiligen Strophen nieder, befürchte aber, dass ich sie nicht vollends in einen Kontext bringen kann...


Zitat:

Als wir bewanderten Strom Fingerzeig
schlug Steinwurf ein in unserm Dach aus Häuten
wie wir landaufwärts wuchsen
die Stirn gen Süden versilbernd


Hier werden Migrationsbewegungen umschrieben. Menschen folgen einem Fluss, dessen Namen man nicht kennt (oder der nicht wichtig ist), man zeigt mit dem Finger in die zu wandernde Richtung, was genügt. Auf ihrem Weg (oder bereits am Ziel angekommen) werden sie von Steinwürfen empfangen. Ist das Dach aus Häuten ein Hinweis auf die Zeit der Handlung? Dann würde ich den Zeitrahmen erheblich zurückdatieren. Oder werden die Menschen selbst getroffen, also ihr eigenes Dach aus Häuten? In diesem Zusammenhang könnte man auch an heutige Fremdenfeindlichkeit denken. Dieses Menschen (gar eine ganze Volksgruppe?) siedelten sich Stück um Stück landaufwärts an. Gen Süden? Ist das die Richtung? Und ist dieser Weg mit immer mehr Reichtum verknüpft? Die letzte Zeile bereitet mir Schwierigkeiten...


Zitat:

Wie Strandgutsammler liefen wir
den Blick im Korb des andern
Was uns die Brandung heute bringt
wollen die Augen wissen


Während dieser Wanderung liefen die Protagonisten hintereinander, scheinbar mit leicht gesenkten Köpfen (ich sehe diese Körbe auf den Rücken der Menschen). Die Brandung sehe ich hier als Metapher für die Zeit. Die Augen suchen die Brandung ab in der Hoffnung zu erkennen, was wohl die Zukunft bringen mag. Diese Strophe macht meines Erachtens deutlich, dass das keine Spaßveranstaltung ist, kein Erkunden der Wanderwege der schwäbischen Alb. Hier sind Menschen auf der Suche nach einer besseren Zukunft, was sie an unbekannte Ufer bringt.


Zitat:

Um die Gedanken wie Sandkorn
weht Wind die Nacht herbei
und schwarzen Grund zu unsern Füssen rot


Womöglich sind diese "Sandkorngedanken" ein Bild für die Gedankenleere - man hat schon so viel gegrübelt und ist nun leer, das Denken rieselt nur noch sandkorngroß (na ja). Oder ist das alles ein weitere geographischer Hinweis in dem Sinne, dass der Weg gen Süden in Wüstennähe führt? Der eigentlich schwarze, zu den Füßen aber rote Grund lässt mich an (na klar!) Blut denken. Vielleicht ein Hinweis darauf, dass dieses Volk gleich wo es sich auch niederlassen wollte, Hass und Gegenwehr erfahren musste mit blutigen Auswüchsen. Irgendwann weht der Wind immer die Nacht herbei- und das, was am Tag noch schön war, stellt sich nun anders dar.


Zitat:

Was grämt dich, Nazife?
hast die Gezeiten gebändigt
du kannst doch jetzt nicht schweigen


Wer ist Nazife? Vielleicht ein bekannte Person (Bildungslücke?), die Licht in mein Interpretationsdunkel hätte bringen können? Google hilft mir leider nicht weiter. Nazife ist meines Erachtens ein kurdischer Name. Ist wirklich diese Frau gemeint? Ich vermute (eben aus meiner Unwissenheit heraus) sie wird stellvertretend für das ganze Volk angesprochen, welches so will Schwierigkeiten in seiner Geschichte ertragen hat und nun aber den Kampf um seine Rechte nicht aufgeben soll.

Dahin führt mich jetzt auch einfach mal meine Interpretation: es geht hier um das kurdische Volk, dass durchaus schon Migrationsbewegungen unterworfen war und auch schon Vertreibungen und Gängelungen erfahren musste. Aber - und hier sehe ich einen Hinweis auf die Einschübe "Ebbe Flut" - es gab in der Geschichte nicht nur Leid, sondern auch größere kurdische Reiche, ein geschichtliches Auf und Ab, man könnte sagen: sie waren dem Gezeitenstrom unterworfen...

Naja, nun habe ich alles im großen Ganzen unter einen Hut gebracht, wobei ich mir nicht sicher bin, ob diese Interpretation sicher steht - schließlich basiert der kurdische Aspekt überwiegend auf dem Namen Nazife?

Interessantes Gedicht, dass mich zum Nachdenken angeregt hat. Gern gelesen,



P.S.: Die Zeichensetzung lässt sich bei Deiner speziellen Darbietungsweise schlecht kritisieren - zumindest nach dem Fragezeichen müsste aber das Hast großgeschrieben werden. Zudem müsste es Füßen heißen, außer natürlich, Du bist aus der Schweiz...

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#3

Gezeitenstrom

in Düsteres und Trübsinniges 12.05.2005 12:52
von Genesis (gelöscht)
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Auch von mir erstmal ein Willkommen Velazquez,
bei deinem Werk ist es schwer den Einstieg zu finden, da du mit der häufigen "Flut Ebbe Ebbe Flut" Wendungen den Leser in gewisser Weise auf diese Thematik sensibilisierst.
Die erste Strophe ist gespickt von Inversionen und grammatikalischen Ecken die nicht wirklich auf eine homogene Einheit zusammenlaufen.
Zugänglich sind deine Verse für mich leider absolut nicht, da es keinerlei Übergänge zwischen deinen Bildern gibt. Im allgemeinen sind die Metaphern sehr schwer aufzulösen da man keinerlei konkretes Gegenstück hat auf das man es beziehen könnte.

In Strophe 2 passt der Übergang zwischen Vers 1 und 2 nicht, jedoch spricht mich das Bild durch die zweiversige Komposition gleich an.
Vers 4 hingegen sagt nichts substantielles aus obwohl du mit diesem Vers das Bild der Brandung viel besser ausgestalten hättest können.

Bis auf die hackende Formulierung finde ich die 3. Strophe für sehr gelungen, obwohl sie auch nur teils mit den vorherigen vereinbar scheint.

Der Sprung auf eine sehr konkrete Ebene mit der Nennung eines Namens ist ein äußerst geschickter stilistischer Griff denn du jedoch in den Versen 2 und 3 noch besser verarbeiten hättest können.


Insgesamt ein sehr schwer zugängliches Werk, das weniger durch Formalität als durch freie bildliche Auslegung besticht. Jedoch solltest du unbedingt deine Bilder auch interhomogen anlegen, da es sonst zu vielen Verständnisproblemen kommen kann.

Thx & mfG GenEsis

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#4

Gezeitenstrom

in Düsteres und Trübsinniges 12.05.2005 13:58
von Velazquez | 315 Beiträge | 315 Punkte
Hallo Don,


Erstmal vielen Dank für deine ausführliche Interpretation.
Insgesamt gesehen hast du die Geschichte, die ich hier erzählen wollte, richtig gedeutet.
Doch handelt es sich nicht um die Migrationsbewegung des kurdischen Volkes.
Ich schrieb über eine Beziehung, genauer die zwischen des lyrischen Ichs und Nazife.


Es ist eine Verbindung zweier seelenverwandter Künstler (Schriftsteller, Dichter, Maler; soll gar nicht wichtig sein), die die Höhen und Tiefen des Daseins (und ihrer Liebe zueinander) durchwandern. ( ’Flut Ebbe Ebbe Flut’)
’Nazife’ soll dabei der Person diese orientalische Mystik, Verklärtheit in sich tragen lassen, die ihr etwas märchenhaftes verleihen mag.

Im Einzelnen:

Das 'Dach aus Häuten' ist hier sinnbildlich gemeint, steht für die eigene Empfindsamkeit, die sie zur Flucht zwingt vor der Welt, dem Steinschlag, der auf sie niedergeht.

’ Wie Strandgutsammler liefen wir
den Blick im Korb des andern ’ ,

sprich sie sind eng miteinander verwoben, inspirieren sich.

’ um die Gedanken wie Sandkorn
weht Wind die Nacht herbei
und schwarzen Grund zu unsern Füßen rot ’

Diese Strophe beschreibt Düsterkeit, eine Depression etwa, die Nacht, die sie stellenweise zu umgeben scheint und ’den schwarzen Grund’ der dabei herangeweht wird. Die roten Füße sind dabei eine Metapher für die lange Wanderung, den Weg, den beide hinter sich haben.

Am Ende steht eine Ankunft, eine Phase der Ruhe (’ Hast die Gezeiten gebändigt ’), die aber gleichsam hellhörig werden lässt (’ Was grämt dich, Nazife? (…) du kannst doch jetzt nicht schweigen ’).

Kurzum beschreibt es die Sprachlosigkeit (Leere), die sich in ihr auszubreiten scheint, zu einem tragischen Ende (der Beziehung?) hin, da das Leben dieser Beziehung sich die ganze Zeit nur über diesen Gezeitenwechsel definierte und jetzt plötzlich diesen Inhalts ’beraubt’ wurde.


Soviel erstmal dazu, sorry, wenn ich nicht auf alles so explizit eingegangen bin, aber ich hoffe es erschliesst sich soweit.

Ach ja, die ’Füsse’……da hast du natürlich recht, Don.
Bei dieser ganzen Tipperei passiert mir das bisweilen öfter, Änderungen vorbehalten.


LG, Velazquez

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#5

Gezeitenstrom

in Düsteres und Trübsinniges 13.05.2005 14:14
von Don Carvalho • Mitglied | 1.880 Beiträge | 1880 Punkte

Zitat:

Insgesamt gesehen hast du die Geschichte, die ich hier erzählen wollte, richtig gedeutet.
Doch handelt es sich nicht um die Migrationsbewegung des kurdischen Volkes.
Ich schrieb über eine Beziehung, genauer die zwischen des lyrischen Ichs und Nazife.


Lach... schön, dass Du mich aufmunterst...

Aber auf eine derart persönliche Ebene wäre ich bei Deinen Zeilen nicht gekommen. Interssant, wenn auch in der Tat schwer zugänglich...


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#6

Gezeitenstrom

in Düsteres und Trübsinniges 13.05.2005 14:46
von Velazquez | 315 Beiträge | 315 Punkte
@ Genesis: Vielen Dank für dein Feedback. Ich denke, ich habe Don schon fast alles geschrieben. Die Bilder habe ich bewusst so eingesetzt, auch wenn es dem Zugang des Lesers auf den ersten Blick abträglich erscheinen mag.

P.S.: Niemand kann Beuys' 'Butterkunst' verstehen, wenn er nicht seine Biografie gelesen hat....



@ Don: Ja, deine Interpretation gefiel mir so gut, deswegen mochte ich sie nur ungern als falsch bezeichnen...


Lieben Gruss, Velazquez

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