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Wollen und Lassen

in Kommentare, Essays, Glossen und Anekdoten 20.08.2009 17:28
von Karl Feldkamp • Mitglied | 194 Beiträge | 194 Punkte

Selbst die Wahrheit stellt sich entgegen aller Beteuerungen jener, die sie als ihren sicheren Besitz ansehen, immer wieder als relativ und flüchtig dar. Selbst das Wissen um ihre Relativität und Fluchttendenzen führt jedoch noch lange nicht in die daraus zu folgernden notwendige Einsicht. Viel lieber wäre oft zum Beispiel auch mir, wenn die Wahrheit absolut und unumstößlich für sich und nichts anderes stände. So wüsste ich immer ganz genau, was falsch und richtig, gut und böse, tatsächlich und erlogen ist. Ich wäre im Vollbesitz der Wahrheit und die Welt heil, übersichtlich und nahezu problemlos zu handhaben.
Doch genau das ist die Welt eben nicht.
Gut, es existieren offenbar Wahrheiten, die der Logik der mathematischen Aufgabe, eins und eins sind zwei, unweigerlich folgen. Aber es gibt auch solche - und vermutlich sind es die meisten - die irgendwo dazwischen und nicht selten gerade zwischen vermeintlicher Logik und vermeintlicher Realität ihr äußerst schillerndes Dasein feiern.
Wie unser blauer Planet befinden wir menschlichen Erdenbewohner und –bewohnerinnen uns immer wenigstens zwischen zwei Polen.
Somit ist es kein Wunder, obwohl es uns oft genau als ein solches erscheinen will, dass die Wahrheit häufig ziemlich genau in der Mitte beider Pole liegt, zum Beispiel zwischen denen von Wollen und Lassen.
Als alle noch an Gott glaubten, wollte der Mensch wollen, wenn Gott ihn wollen ließ. Heute muss ein und dieselbe gottlose Person möglichst gleichzeitig wollen und lassen können. Denn einseitiges unbedingtes Wollen führt meistens zu jener Verkrampfung, die das Gewollte ins Gegenteil verkehrt, während durch ausschließliches Lassen in der Regel gar nichts passiert.
Gleich der Wahrheit - und das nicht von ungefähr - scheint auch die Kunst des Literaten ihren genialen Platz irgendwo zwischen angestrengtem Wollen und lustvollen Lassen zu haben.
Wer zu gewollt schreibt, dessen Machwerk wird zwangsläufig ein gewolltes. Wer aber die Muse immer nur weiter küssen lässt, dem kommt der Wille zum Werk durch ausschließlich sinnlichen Lippengenuss abhanden.
Literatur ist offenbar ein Produkt intellektueller Wollust, ein Wunschkind geistigen Beischlafs. Wer beim Sex unbedingt will, kann nicht. Nur wer will und lässt, gelangt zu jenem Höhepunkt unbändiger Lust, der die Weitergabe neuen Lebens wahrscheinlich macht.
Schade um den Schreiber, der an seinem Schreibtisch unbedingt etwas zu Papier bringen will. Keiner wird, sollte jener überhaupt etwas zu Stande bringen, es mit Lust lesen wollen, weil dem Werk das eigentliche, unberechenbare Leben irgendwo zwischen Wollen und Lassen fehlt.

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