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die letzten tage

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 10.01.2013 18:11
von Ephemere (gelöscht)
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Auszug aus "am ende warten wir nur aufs neue! - war ja vor einiger zeit schon mal im forum online, hat aber so schön zu eurem weltuntergangs sammelsurium gepasst, das ich es nocheinmal zum lesen eingestellt hab!

Die letzten Tage

Es stand nicht gut um Ludwig Wallmanns Vater. Um das zu sehen, musste man kein Arzt sein. Die letzten paar Tage war Ludwigs Vater selten klar gewesen. Heute bestand er dann darauf, zur Toilette gebracht zu werden.
„Lass mir ein bisschen Anstand, Sohn.“, sagte er zu Ludwig. Dieser musste ihn daraufhin zu dem Eimer hinter den Regalen begleiten und ihn dort festhalten, damit er nicht zusammenbrach. Während er über dem Eimer hing, begann Ludwigs Vater in seinen Armen zu weinen.
„Dass es so weit kommen musste!“
„Mach dir nichts draus, Papi.“, sagte Ludwig zu ihm. „Ich mach das gerne für dich. Es ist, als würde Gott dafür sorgen, dass ich jetzt alles wieder gut machen darf, was ich Zeit meines Lebens an dir verabsäumt habe.“
Sein Vater schluchzte und legte seinen Kopf an Ludwigs Schulter. Ludwig säuberte ihn und trug ihn zurück zum Bett. Als er die Decke über ihn schlug, hatte bereits der Wahnsinn wieder Besitz von ihm ergriffen.
„Jesus prüft uns jetzt.“, sagte er. Und: „Bist du der Engel, der gekommen ist, um mich zu den 144.000 hochzubringen?“
Als die Sirenen losgingen, vor etwas mehr als einem halben Jahr, war Ludwig nichts Besseres eingefallen, als heim zu fahren. Zu dem Haus, in dem er aufgewachsen war. In den Nachrichten hieß es, man sollte einen geschützten Ort unter der Erde aufsuchen. Der einzige Ort, der auf diese Beschreibung passte und der Ludwig in den Sinn kam, war die Schutzanlage unter dem Königreichsaal.
„Komisch.“, dachte er, als er durch das Gartentor trat und über den geschotterten Weg auf sein Elternhaus zuging. „All das, wovor ich geflohen bin, all dieser religiöse Humbug, den ich so verachtet habe, scheint sich nun zu bewahrheiten. Das sind die letzten Tage, von denen in den Bibelkreisen meiner Jugend immer gesprochen wurde.“
Ludwigs Mutter war gestorben, als er zwölf war. Autounfall. Ihre Religion hatte verboten, dass sie Bluttransfusionen erhielt.
„Sie wäre auch so gestorben.“, hatte der Arzt zu seinem Vater gesagt. Auf dem Krankenhausflur.
„Wegen des Blutverlustes ist es nur schneller gegangen.“
Nach ihrem Begräbnis war absolute Stille in das große Haus eingekehrt. Ruhig war es auch vorher schon gewesen. Aber nach dem Tod von Ludwigs Mutter, wurde kaum noch ein Wort gewechselt, das nicht in direkter Verbindung mit der Bibel stand. Ludwig wurde jeden Abend in das Studierzimmer seines Vaters gebeten und dort dann auf seine Bibelfestigkeit geprüft. Selten schaffte es der Junge, seinen Vater mit den gegebenen Antworten zufriedenzustellen.
Ein „Du musst dich mehr anstrengen, Ludwig. Jesus wird bald kommen. Er hat keine Liebe für die Unwissenden. Auf die wartet so nur der große, zweite Tod.“ bekam er dann zu hören. Ansonsten nichts.
Ludwig ging von zu Hause fort, als er 17 wurde. Eine Tante nahm ihn bei sich auf. Sein Vater zeigte kein Verständnis für das gottlose Leben, das sein Sohn damals wählte. Ludwig hörte bald darauf auf, ihn regelmäßig zu besuchen.
An jenem Nachmittag, vor einem halben Jahr, mit den Sirenen im Nacken, verlangte es Ludwig all seine Willenskraft ab, an die Eingangstür zu klopfen. Sein Vater öffnete mit einem Lächeln.
„Willkommen, Sohn.“, sagte er. „Ich habe auf dich gewartet. Die Zeit ist nun gekommen. Jesus wandelt auf Erden. Wir werden nun unter die Erde gehen und warten, bis Gott uns das Zeichen gibt, die neue Welt zu betreten.“
Ludwig fuhr mit seinem Vater zu der Bunkeranlage unter dem Königreichsaal. Am Eingang wurden sie vom Ältesten empfangen.
„Willkommen Bruder Wallmann. Wie ich sehe, bringst du ein verlorenes Schäfchen zurück in unsere Arme. Lobet den Herrn. Seine Zeit ist gekommen. Jesus wandelt bereits unter uns.“
Sie wurden von anderen Zeugen Jehovas in die riesigen Bunkeranlagen unter der Erde gebracht. In einem Saal mit mehreren Dutzend Feldbetten wurde ihnen eine Schlafgelegenheit zugewiesen.
„Wir verbringen unsere Tage hier mit dem Studium der Bibel. Damit wir vorbereitet sind.“, sagte ein hübsches, blondes Mädchen, als Ludwig scherzte: „Was man hier wohl den ganzen Tag so treibt?“
Als sich die ersten Erschütterungen bemerkbar machten, waren die Tore nach oben bereits verschlossen. Ludwig hatte auf seinen Rundgängen mehrere dieser großen Schlafsäle entdeckt. Es mussten sich hunderte von Menschen in der weitläufigen Anlage aufhalten. Als er den Speisesaal betrat, war sein Vater gerade dabei, jüngeren Zeugen Anweisungen zu geben, wie die letzten Nahrungsmittel in den Vorratskammern einzulagern seien.
„Mach dich nützlich, Ludwig.“, sagte er und deutete ihm, eine der Kisten mit Obst zu nehmen und ihm zu folgen.
Sie traten durch eine massive Betontür in eine Lagerhalle, die gefüllt war mit Regalen voller Lebensmittel und Haushaltsartikel.
„Dort drüben!“, sagte Ludwigs Vater und zeigte auf das gegenüberliegende Ende der Lagerhalle.
Den drei jungen Männern, die ihnen entgegenkamen, befahl er, ebenfalls Kisten mit Obst von draußen zu holen. Als Ludwig und sein Vater die Kisten gerade abstellten, begann der gesamte Komplex plötzlich zu beben. Man konnte Schreie hören. Eine Explosion. Dann fiel die riesige Betontür zu und versiegelte die Lagerhalle. Ludwig und sein Vater versuchten den Eingang wieder zu öffnen, mussten aber bald einsehen, dass es sinnlos war.
Das elektrische Licht versagte. Eine Weile lang klang es, als würden Teile des Komplexes einstürzen. Immer wieder bebte die Erde. Dann herrschte Stille. Ludwigs Vater besorgte Kerzen aus den Regalen und sorgte so für etwas Licht.
„Was ist geschehen?“, fragte er seinen Sohn. Ludwig konnte sich nicht erinnern, seinen Vater jemals so hilflos gesehen zu haben. Sie verbrachten die nächsten paar Stunden damit, in der Bibel nach Antworten zu suchen. Ludwigs Vater wurde zusehends bleicher und zittriger.
„Du musst etwas schlafen, Papa.“, sagte Ludwig, als er aus einem Traum hochfuhr und seinen Vater unverändert, über Gottes Wort gebeugt, vorfand.
Ludwig wusste nicht, wie lange sie hier bereits festsaßen, als sein Vater schließlich ohnmächtig wurde. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er zerrte seinen Vater auf das improvisierte Bettenlager, das er aus einigen Kisten und Decken gebastelt hatte und wartete darauf, bis er wieder zu sich kam.
„Du musst dich schonen, Papa.“, sagte Ludwig, als dieser die Augen wieder aufschlug.
„Wir müssen vorbereitet sein.“, antwortete der alte Mann. „Gott prüft uns. Wir müssen uns wappnen.“
Die beiden Männer fanden in der Lagerhalle alles, was sie brauchten. Nahrungsmittel und Gebrauchsgegenstände für mehrere hundert Personen waren hier unten eingelagert.
„Dies ist eine von drei großen Lagerhallen, die die Körperschaft in Wien hat anlegen lassen.“, erklärte Ludwigs Vater ihm eines Abends, als sie gerade aßen. „Wir beiden Tölpel wurden von Gott für eine besondere Aufgabe auserkoren, wenn er uns derart versorgt wissen will.“
Ludwig hatte begonnen, mit einer Kreide Striche an die Wand zu malen, um festzuhalten, wie lange sie bereits hier unten waren. Jeden Tag, wenn er erwachte, fügte er einen weiteren Strich hinzu.
Der Schlaganfall seines Vaters ereignete sich am 167. Tag unter der Erde. Ludwig und er hatten gerade gestritten. Ludwig war der Ansicht, dass sie, mit dem Werkzeug aus den Regalen, versuchen sollten, sich einen Weg ins Freie zu bahnen.
„Es ist noch nicht sicher da oben, Ludwig.“, sagte sein Vater. „Jesus führt noch seinen Krieg gegen den Teufel. Er bereitet noch die Welt für uns vor. Er merzt Religionen und Länder aus, für uns, damit wir danach das Paradies erbauen können. Die letzte Prüfung erwartet uns, da oben. Gott wird uns ein Zeichen geben, wenn es soweit ist, hochzugehen und sein Werk zu vollbringen.“
„Dein Gott kann mich mal.“, sagte Ludwig und griff nach einer Spitzhacke. Als er sie gerade erhob, um damit auf die Betontür einzuschlagen, hörte er einen dumpfen Aufprall. Als er zum Bettenlager zurückkam, sah er seinen Vater, mit dem Gesicht nach unten, auf dem kalten Beton liegen. Neben ihm lag seine Bibel.
Seitdem konnte sein Vater kaum noch sprechen. Die rechte Gesichtshälfte hing schlaff herab. Er war nicht mehr in der Lage, sich alleine zu erheben. Nicht einmal mehr, um seine Notdurft zu verrichten. Ludwig wachte an seinem Krankenbett. Fütterte ihn mit zerkleinerter Nahrung, gab ihm zu trinken und reinigte ihn, wenn es notwendig war.
Als sein Vater darauf bestand, auf die Toilette geführt zu werden, sah Ludwig dies als gutes Zeichen. Eineinhalb Kerzenlängen später starb er. Aber zuvor hatte er noch einen kurzen, klaren Moment.
„Ich bin stolz auf dich, mein Sohn.“, sagte er zu Ludwig. „Gott hat mir in Visionen gezeigt, welch gute Arbeit du für ihn vollbringen wirst. Du wirst ein wahrer Diener Jesu sein. Und während er unerkannt unter uns wandelt, wirst du die Menschen auf seine Ankunft vorbereiten. Es war wichtig, dass du in die Welt hinausgegangen bist, als du noch ein Junge warst. Auch das hat mir Gott gesagt. Nur so konntest du erfahren, wie verderbt sie durch den Einfluss Satans geworden war.“
„Warte auf das Zeichen, mein Sohn. Gott wird dich nach oben gegleiten.“
Ludwigs Vater schloss die Augen. Friedlich. Ludwig küsste ihn auf die Stirn und weinte. Dann nahm er die Bibel zur Hand und las darin.
Eines Nachts fuhr er hoch. Geweckt von einer Erschütterung. Ein weiterer Teil des Komplexes war zusammengebrochen und ein Riss hatte sich in der Betontür gebildet. Ludwig konnte fühlen, dass sich ein Luftzug in die Lagerhalle gestohlen hatte. Er schnappte sich eine Spitzhacke und machte sich ans Werk.
„Dein Wille geschehe!“, sagte er und senkte den eisernen Keil kraftvoll in die geborstene Tür.

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#2

RE: die letzten tage

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 23.01.2013 20:00
von yaya (gelöscht)
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Hallo Ephemere,

diese Geschichte habe ich schon einmal durchgesehen und fand die Story gut und lesenwert.
Handwerklich aber weist sie Längen auf. Organisatorische Einzelheiten des Bezugs dieser unterirdischen Befestigungen, von Zeugen Jehovas selbstverständlich hingenommen, werden ausgebreitet ohne Zusammenhänge für Leser zu klären, die der Religionsgemeinschaft nicht angehören.
Gut finde ich den Schluß. Dem Protagonisten und seinem Vater gelingt mit der Versöhnung zugleich eine Synthese. Dem Glauben muß die Selbstbestimmung nicht mehr vollständig geopfert werden. Fast scheint es, als habe Jesus ein Einsehen, wandelt nun wirklich mal, und schickt den Lebenshauch als frischen Luftzug. Grüße von Yaya

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