#1

Entschwinden

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 12.07.2008 13:20
von Habibi (gelöscht)
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Vielleicht war das der Beginn gewesen: als er das leere Glas vom Mund nahm und inmitten des noch halb vollen Tellers absetzte. Mitten hinein in den Spinat. Warum habe ich dem nicht die Bedeutung zugemessen, die es verdiente? Wollte ich es nicht wahrhaben?
Hätte ich damals, an jenem winterstarren Mittag zu ihm sagen sollen: Jetzt ist es soweit, Geliebter. Lass mich dir den Schierlingsbecher reichen?

Oder hatte es schon früher begonnen? Als die minutenlangen Abwesenheiten, die seinem Gesicht den Stempel der Verwirrung und Verlorenheit aufgedrückt hatten, immer häufiger wurden? Er hatte dagegen angekämpft, nicht mehr Herr im eigenen Hause zu sein - der Kopf war ihm vom Verbündeten zum Feind geworden. Und war doch in seiner Hilflosigkeit gegen das zunehmende Versinken im Nebel des Nichts sichtbar von Furcht erfüllt. Was hätte ich tun können? Müssen? Die menschliche Psyche mit ihren Verdrängungs- und Beruhigungsmechanismen funktioniert ja so perfekt. Ein depressiver Schub, hatte ich mich beeilt, bekannte Erklärungen zu bemühen. Er wird halt vergesslich, beruhigte ich mich, wenn er mit dem Korkenzieher in der Hand verloren in der Küche stand und nicht wusste, was er damit wollte. Ich war schließlich auch nicht mehr die Jüngste und es konnte auch mir geschehen, dass ich mich, im Keller stehend, fragte, weshalb ich dorthin gegangen war, was ich dort holen wollte.

Wann hätte ich die Situation als die erkennen müssen, die unweigerlich einen bestimmten, oft diskutierten Schritt nach sich gezogen hätte? Wann hätte er selbst diese Entscheidung noch treffen können? Treffen müssen, wenn er seinen Teil unserer wechselseitigen Abmachung hätte einlösen wollen?
War es schon zu spät, als er eines Morgens vor seinem Lieblingsbild, Fontanes Porträt, im Wohnzimmer stand und mich fragte, wer der Mann auf dem Bild sei? War es auf jeden Fall zu spät, als er nicht mehr wusste, wer ich war?

Anfangs, als die Aussetzer nur von kurzer Dauer waren, einige Minuten, eine Stunde, er aber bereits spürte, dass etwas in ihm am Erlöschen war, hatte er noch versucht, mit Geschick darüber hinweg zu gehen, in der Annahme, wenn er so täte, als existiere das Bedrohliche nicht, wenn er es schaffe, dass ich nichts davon mitbekäme, wäre es weniger real. Ein Kind, das, wenn es nicht gesehen werden will, die Augen schließt. Wenn ich dann sein Arbeitszimmer betrat, fand ich ihn oft angestrengt in ein Buch schauend, als lese er. Dies hatte mich anfangs beruhigt, bis ich einmal beim Nähertreten bemerkte, dass er das Buch falsch herum hielt. Längst schaffte er es nicht mehr, die aus dem Regal entnommenen Bücher an ihren alten Platz zurück zu stellen.

Seine Wut, als ihm nach und nach immer bewusster wurde, was mit ihm geschah. Dass sein Geist ihn verlässt, dass etwas Unfassbares in seinem Kopf passiert. Etwas, das ihm die Fähigkeit raubte, klar zu denken. Das, was ihn sein ganzes Leben ausgemacht hatte, dieses zielsichere Denken - es verschwand. Und als er das realisierte, schlug er oft wild um sich, warf mit seinen geliebten Büchern. Er, der Sanfte, der nie seine Hand gegen einen Menschen oder ein Tier erhoben hatte. Fast noch schlimmer aber als diese Wutausbrüche war es, wenn er still auf dem Sofa oder an seinem Schreibtisch saß und die Tränen über sein faltiges, von unzähligen Altersflecken bedecktes Gesicht liefen.

Die Sprache, seine Geliebte, kam ihm mehr und mehr abhanden. Es schmerzte, wenn ich ihn stammeln hörte, nach den einfachsten Wörtern suchend, und daran dachte, was für großartige Werke er geschaffen, welch edlen Gestalten er seine Stimme geliehen hatte. Tausende von Studenten hatten sich von ihm in die Kunst der Rhetorik einweisen lassen. Jetzt verstummte er langsam. In einem seiner wenigen lichten Momente, als ihm die ganze Katastrophe voll bewusst wurde, hatte er gesagt: Mir ist die Sprache gestorben. Hätte ich damals die seltene Gelegenheit nutzen sollen und ihn fragen, ob er noch immer für Sterbehilfe war, ob er seinen Zustand als “menschenunwürdig” empfand?

Wer bin ich, dass ich die Entscheidung treffe, ob er sein Leben noch als “lebenswert” empfindet? Der Geist ist weg, doch vielleicht ist an seine Stelle etwas Anderes getreten, in dem er sich eingerichtet, mit dem er sich arrangiert hat. Heute freut er sich nicht an wohlgesetzten Hexametern seiner geliebten Griechen oder an Fontanes gelungenen Landschaftsbeschreibungen, heute freut er sich, wenn er mit der Pflegerin Einkaufen und den Wagen schieben darf oder wenn er beim Metzger ein Fleischkäswecken bekommt. Wer bin ich, dass ich ihm seine Freude aufrechne? Gibt es unterschiedliche Qualitäten von Freude? Ist die Freude über klassische Musik höher einzustufen als die über den Geschmack eines Stück Fleisches?

Und wer ist er heute? Ist er wirklich ein Anderer, nur, weil alles das, was ihn ausgemacht hat, nun entschwunden ist? Ist er nur die Hülle, die gefüttert, gewickelt und gestreichelt werden will wie ein Baby?

Ich sehe ihn an, seine lieben Augen, in denen jetzt abwechselnd die Angst und das Vergessen wohnt, sehe ihn an und weiß, dass er mich zwar sieht, aber nichts mit dem Gesicht, was er sieht, verbindet. Ein Mensch, der ihn umsorgt, wie seine Pflegerin. Ist für mich der Schmerz nicht viel größer als für ihn, der doch den Verlust gar nicht mehr realisiert?

Trauere ich deshalb der nicht genutzten Chance auf ein schnelles selbstbestimmtes Ende so nach? Weil ich nicht damit umgehen kann, dass ein Mensch sich so radikal ändert? Weil ich nicht sagen kann: diesen Mann habe ich nicht geheiratet? Er geht mich nichts mehr an! Denke ich so?

Er liegt auf der geblümten Tagesdecke in seinem Anzug, den er noch immer jeden Tag anziehen will, ebenso wie seine Schuhe. Er starrt mit offenen, leeren Augen an die Decke. Was sieht er?
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#2

Entschwinden

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 23.07.2008 00:48
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
Hi Cornelia

Alzheimer ist ein Thema, bei dem ich immer an Nicholas Sparks ‚Wie ein einziger Tag’ denken muss. Ich erinnere mich, dass ich damals – Mitte der 90er Jahre – das Buch regelrecht verschlungen, und sicher drei Kleenex-Boxen verheult habe. Ob es mich heute auch noch so begeistern würde, kann ich nicht sagen (ich müsste es testen), aber ich denke, Sparks hat es geschafft, diese erschütternde Diagnose und die schrecklichen Auswirkungen – vor allem aus der Sicht der Angehörigen – gefühls- und lebensnah zu vermitteln. Anyway. Es geht ja um Deinen Text.

Bei solchen Themen ist es nicht immer leicht, sich dem Sog, den Leser beeindrucken zu wollen, zu entziehen. Oft wird ganz heftig im Topf der Rührseligkeit und Betroffenheit gerührt, um das Gegenüber zu erreichen, damit man ja anerkennt, wie schlimm und furchtbar diese Krankheit sein kann. Ich denke, Du hast das hier aber gut hinbekommen. Obwohl Du aus der Sicht der Ehefrau schreibst, hat man doch kaum den Eindruck, man werde jetzt zum Mitleid gezwungen.
Jedoch, und das ist bei solchen Themen eben auch das Schwierige, bleibst Du im Bestreben, nicht zu gefühlsduselig zu werden, auch ein wenig (zu) distanziert. Schliesslich verliert die Ehefrau – vermutlich – viel mehr, als der Kranke, weil sie mit allen Erinnerungen allein zurückbleibt. Nebst dem Gesichtspunkt, der sich mit der Pflege des immer hilfloser werdenden Menschen befasst.
Zwar reisst Du diesen Aspekt kurz an ... ich hätte mir an der Stelle aber etwas mehr – sagen wir dem - Identifikation gewünscht. Und das daher, weil ich der Frau näher bin, als dem Kranken. Obwohl ich über ihn mehr erfahre, als über sie.

Das ist so, weil sie die Geschichte erzählt und als Identifikationsfigur fungiert. Dem Kranken bringe ich Mitleid entgegen, der Erzählerin aber Sympathie. Und zweites ist ein viel stärkerer Faktor, damit eine Geschichte „funktioniert“.

Was mich sehr stört, sind die vielen Fragen. Der Text besteht ja praktisch nur daraus. Gut, ich denke, rückblickend – und aus der Sicht der Frau – sind sie angebracht und vermutlich mehr als realistisch, aber literarisch nicht wirklich adäquat.
Du lässt dem Leser damit praktisch keine Gelegenheit, über Bestimmtes selbst nachzudenken, weil Du ihn sofort wieder in eine andere Frage wirfst. Das Tempo wird dadurch viel zu hoch. Gönne der Frau, und mir – dem Leser – lieber ab und zu eine Pause.

Etwas erstaunt war ich, dass Du kein Wort über medikamentöse Behandlung verlierst. Anhand einer Recherche, die ich mal für einen Roman brauchte, habe ich mich dahingehend schlau gemacht; und die Forschung hat doch schon einige Resultate aufzuweisen. Vor allem im Anfangsstadium erzielt man mit Medikamenten, wenn auch keine Heilung, doch eine Verzögerung.

Dass Du zum Ende hin noch ein brisantes Thema (Euthanasie) aufwirfst, ist wiederum verständlich, (mir) doch fast zuviel für diese Textgrösse. Ich bin ja immer noch mit den Fragen beschäftigt.

Das sieht jetzt nach viel Gemeckere aus, ist es im Grunde aber nicht, mir gefällt der Text (wenn man bei dem Thema von Gefallen sprechen kann). Du schreibst gut und flüssig und beleuchtest nahezu jeden Aspekt, der sich auftut und akut werden kann/wird.

Ich habe auch keine wirklichen Stolperer gefunden. Ausser vllt. diese Passage:

Zitat:

Anfangs, als die Aussetzer nur von kurzer Dauer waren, einige Minuten, eine Stunde, er aber bereits spürte, dass etwas in ihm am Erlöschen war, hatte er noch versucht, mit Geschick darüber hinweg zu gehen, in der Annahme, wenn er so täte, als existiere das Bedrohliche nicht, wenn er es schaffe, dass ich nichts davon mitbekäme, wäre es weniger real.

Die ist etwas lang.

Und noch etwas muss ich Dir sagen. Obwohl ich zu Anfang ja vom Geliebten lese, und ‚auch nicht mehr die Jüngste’, war ich am Ende erstaunt, dass sie von ‚Mann geheiratet habe’ spricht. Ich war nämlich in der Zwischenzeit mehr auf der Tochterschiene. Keine Ahnung, weshalb, aber das wollte ich noch anmerken.

Gruss
Margot




Die Frau in Rot

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#3

Entschwinden

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 23.07.2008 14:59
von Habibi (gelöscht)
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Hallo Margot, deine Anmerkungen sind sehr wichtig für mich, deshalb habe ich auch explizit noch einmal um Beurteilung für diesen Text gebeten. Ich möchte kurz auf die Hintergründe eingehen, warum ich diesen Text überhaupt geschrieben habe, das erklärt nämlich auch einiges, z-B. die vielleicht etwas unverständliche Distanziertheit der Ehefrau. Ich weiß nicht, ob du Walter Jens kennst, er ist ja, wie ich Tübinger, und ich kenne ihn auch ein wenig persönlich. Seit einem halben Jahr nun sind in verschiedensten Printmedien (heute beim Arzt habe ich ein Interview in einem Yellow-Press-Blatt gefunden) Interviews mit seiner Frau, Inge Jens, zu finden. Und in diesen Gesprächen äußert sie sich teilweise so erschreckend kalt - nicht bloß distanziert - zu dem, was aus ihrem Mann geworden ist. Das hat mich total schockiert. Ich verehre ihn nämlich sehr. In der Geschichte nun sind viele wörtliche oder sinngemäße Zitate dieser Interviews eingeflossen. Allerdings wollte ich sie nicht so ganz kalt zeigen, wie sie in der Press rüberkam.

Das mit den vielen Fragen versteh ich und ich werde versuchen, es zu ändern. Über medikamentöse Dinge wollte ich nicht schreiben, das sollte nicht Thema des Textes sein. Was aber sehr wohl, und zwar zentrales Thema des Textes sein soll, ist die Frage, die nicht erst - wie du schreibst - am Ende durchklingt, sondern schon im ersten Absatz. Die beiden hatten sich nämlich geschworen, sich dabei zu helfen, damit eben nicht so etwas eintritt, was jetzt doch geschehen ist. Weil man einfach den Zeitpunkt verpasst hat. Das ist eigentlich das Thema. Wie kann man es selbstbestimmt tun, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, bevor man nicht mehr in der Lage sein wird, es zu tun. Und damit verbunden: ist das Leben nur deshalb nicht mehr lebenswert, weil man sein Gehirn nicht mehr in gewohnter Weise nutzen kann,sich die Prioritäten, die Gründe für Lust, Spaß, Befriedigung, eben verschoben haben.

Lies die Geschichte doch bitte nochmal vor dem Hintergrund und teile mir, so du fündig wirst, mit, was nicht passt. Ich möchte gern eine wirklich runde, berührende, auch aufrüttelnde Geschichte schreiben.

Danke nochmal für deine Mühe.

Gruß von Habibi
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#4

Entschwinden

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 24.07.2008 23:15
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte

Zitat:

Habibi schrieb am 23.07.2008 14:59 Uhr:
Lies die Geschichte doch bitte nochmal vor dem Hintergrund und teile mir, so du fündig wirst, mit, was nicht passt. Ich möchte gern eine wirklich runde, berührende, auch aufrüttelnde Geschichte schreiben.




Hi Cornelia

Das verstehe ich jetzt nicht ganz. Soll ich die Geschichte nochmals lesen, in dem Wissen, dass eine reale Person dahinter steht. Oder, dass Du eine berührende Geschichte schreiben möchtest?

Gruss
Margot

Die Frau in Rot

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#5

Entschwinden

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 25.07.2008 09:34
von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Hallo Habibi,

ich habe jetzt Deine Anmerkungen gelesen bevor ich den Text gelesen habe. Daher war ich natürlich eingestimmt und kann leider nicht sagen, wie sich der Text ohne die Erläuterungen liest. Was schade ist, denn das sollte der Text alleine für sich ja leisten.
Mich haben jedenfalls auch die vielen Fragen gestört. Ansonsten ist der Text schön flüssig geschrieben.
Die Eutanasie bringst Du mit dem Schierlingsbecher ja schon zu Beginn rein. Daher war es für mich von Beginn an eigentlich weniger ein Text über Alzheimer, sondern über Sterbehilfe. Wobei sich das nachher etwas verliert und erst zum Schluss wieder aufgenommen wird, was ich aber o.k. finde.

Ich denke aber auch, da fehlt so ein bisschen die Interaktion zwischen der Frau und dem Mann. Wenn Du jetzt bei jeder Situation, die Du beschreibst, seine Wutausbrüche, sein Weinen, die Bibliothek, das Essen, wenn Du da beschreiben würdest wie die Frau reagiert, beschreiben würdest, wie sie interagieren, das würde mehr noch die Brücke schlagen und das ganze würde eine Handlung bekommen. Es wäre sozusagen eine Geschichte. So sind alle beide völlig passiv. Der einzige Aktive da ist die Krankheit, auf die er nur ausgeliefert reagiert, und sie macht gar nichts außer das zu beschreiben.
Lass die Gedanken der Frau und ihre hier und da durchblitzenden Gefühle sich in ihren Handlungen ausdrücken. Dann wird ein Schuh draus, denke ich.
Das mit den Medikamenten wäre übrigens auch eine gute Möglichkeit zur Interaktion zwischen den beiden. Die würde ich vielleicht nutzen.
Die Ansätze und das Gerüst sind jedenfalls gut.

Grüße,
GerateWohl

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#6

Entschwinden

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 25.07.2008 17:00
von Habibi (gelöscht)
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Hallo Margot, vergiss die Frage, war nicht durchdacht.

Geratewohl hat recht, natürlich muss der Text aus sich heraussprechen und ohne Erläuterungen auskommen.

Danke Geratewohl für deine Anregungen, ich werde mir die Geschichte mit deinen und Margots Anmerkungen noch einmal vornehmen. Obwohl ich sie ganz gerne so kurz und knapp halten möchte. Aber das ein oder andere kann man schon noch mit einfließen lassen. Und auch die Fragen etwas mindern.

Danke euch beiden.

Habibi
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