#1

Von der Wahrheit und vom Warten

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 01.01.2008 15:50
von Simone • Mitglied | 1.674 Beiträge | 1674 Punkte

Von der Wahrheit und vom Warten



Ich habe mich im Laufe der Jahre oft gefragt, ob es etwas wie die so genannte reine Wahrheit überhaupt gibt. Ist die Wahrheit eine feste, berechenbare Größe, oder liegt sie, ähnlich der Schönheit, nur im Auge des Betrachters?

In meiner frühen Kindheit war alles einfach und klar definiert. Wahrheit, das war unser weißes Haus am Rande des Dorfes, unweit der Kornfelder, der weitläufigen Wiesen und des Nadelwäldchens, in dem mein Vater im Dezember unseren Weihnachtsbaum noch selbst schlug. Wahrheit, das waren mein älterer Bruder und seine Freunde, denen es ein unbändiges Vergnügen bereitete mich an einen Apfelbaum, in unserem kleinen Garten, zu fesseln und erst Stunden später zu befreien. Wahrheit, das war mein Vater, der am Sonntagnachmittag, hemdsärmelig, hinter dem Haus auf der alten Holzbank saß, rauchte und uns Geschichten aus seiner Kindheit im Krieg erzählte. Wahrheit war der Geruch nach Heu im August, Benny unser Schäferhund und meine kratzenden Socken.

Aber vor allen Dingen war Wahrheit meine Mutter: Ihr Duft nach frisch gebackenem Heidelbeerkuchen, ihre braunen Augen und ihr Lächeln, wenn sie mich jeden Morgen mit einem Kuss auf die Stirn weckte.

Als sie fort war, veränderte sich nicht nur mein Leben, wie ich es bis dahin kannte, sondern auch mein Bezug zur Wahrheit. Mit den Jahren verblasste die Erinnerung an sie, verfärbte sich, formte sich neu, zerstieb und setzte sich wieder zusammen. Sie war nicht mehr da, aber war sie deswegen auch weniger wahr?

Ich kann mich an das Datum noch genau erinnern, weil mein Vater, am Vorabend dieses Tages, leicht angetrunken aus der kleinen Dorfkneipe nach Hause kam und erzählte, dass die Amis es nun endlich geschafft hätten, eine Rakete auf dem Mond zu landen und darauf herum zu spazieren. Er konnte keinen Sinn darin sehen, gab es doch auf der Erde genug zu tun.

Es geschah also am 22. Juli 1969. Meine Mutter weckte mich an diesem Morgen wie immer und machte mir das Frühstück. Ich trank meinen Kakao und ging danach, zum spielen, nach draußen. Bewaffnet mit dem kleinen Taschenmesser, das ich im April zu meinem neunten Geburtstag bekommen hatte, und dem Mut eines Drachentöters, ging ich in den Wald, schnitt ein paar Äste von den Bäumen und schnitzte mir Pfeile und einen langen, etwas krummen Bogen.

Mir wurde schnell langweilig. Ich schlenderte ziellos umher und stand plötzlich am alten Steinbruch. Es war uns Kindern streng verboten dort zu spielen, oder gar den Stollen zu betreten. Aber wen kümmern schon Verbote, wenn man neun Jahre alt, voller Tatendrang und noch dazu gut bewaffnet ist? Ich ging hinein. Mit jedem Schritt in die Tiefe wurde es dunkler, kälter und unheimlicher. Es roch nach abgestandener, feuchter Luft. Ich ging weiter, um eine Ecke herum und stand plötzlich in totaler Finsternis. Ich bekam schreckliche Angst, drehte mich, stolperte und schlug mir die Knie blutig. Ich rappelte mich wieder auf und rannte, so schnell ich konnte, nach Hause.

Ich ging ins Haus und rief nach meiner Mutter, doch bekam keine Antwort. Also suchte ich nach ihr, in jedem Zimmer, dann in der Garage und auch im Garten. Als ich sie nirgends fand, blieb mir nur noch der Keller. Ich zögerte ein wenig. Ich mochte den muffigen Keller nicht und fürchtete mich, nach meinem Erlebnis im Steinbruch noch mehr, hinunter zu gehen. Ich überwand mich schließlich und ging vorsichtig die ausgetretenen Stufen hinab, doch auch dort konnte ich sie nicht finden. So setzte ich mich in die Küche, an den runden Holztisch, auf dem noch das Geschirr und die Reste meines Frühstücks standen, und wartete.

Als mein Vater am Abend, nach der Arbeit, nach Hause kam, war sie immer noch verschwunden und sie tauchte auch am nächsten Tag nicht auf und am Tag darauf. Ihre ganzen Kleider waren noch da, alles unverändert an seinem Platz. Mein Vater benachrichtigte die Polizei und mobilisierte das halbe Dorf. Die ganze Gegend wurde abgesucht, aber meine Mutter blieb verschwunden. Es wurden keine Anzeichen für ein Verbrechen gefunden, keine Spuren für gewaltsames Eindringen. Es wurde nichts gestohlen, selbst das Haushaltsgeld für die nächste Woche lag noch in der Küchenschublade, und so ging man davon aus, dass sie uns – mich – einfach verlassen hatte. Sie hatte nichts mitgenommen. Sie hatte keinen Abschiedsbrief zurückgelassen, kein Wort der Erklärung, nur die Erinnerung.

Ich saß, von diesem Tag an, für den Rest des Jahres – und auch später noch sehr oft –, jeden Abend vor dem Zubettgehen, auf der Treppe vor unserer Haustüre und wartete auf sie. Ich war mir sicher, dass sie zurückkommen würde.

Ich frage mich, welche Wahrheit wohl für meine Mutter galt.



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#2

Von der Wahrheit und vom Warten

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 03.01.2008 11:49
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
Hallo Simone

Du weisst ja mittlerweile, dass ich selbst ein Faible für Kindheitserinnerungen habe und diese oft als Überleitungen in die Gedankenwelt der Erwachsenen gebrauche. Von daher gefällt mir die Geschichte gut. Vor allem die Sequenz mit der Wahrheit. Daher hätte ich mir auch gewünscht, dass Du diesen Gedanken am Schluss wieder aufgreifst, um den Kreis zu schliessen. Mit der 'Liebe und dem Glücklichsein' bringst Du aber eine ganz neuen Aspekt hinein. Der zwar auch zum Nachdenken verleitet ( ... Fragezeichen am Schluss? Wie melodramatisch! ), der Geschichte aber eine ganz andere Wendung gibt und sie daher nicht wirklich rund macht.

Zur Form: Mit den Kommas gehst Du zu grosszügig um, und wer sich Pfeile schnitzt, der wird vermutlich einen Bogen - und keinen Speer - brauchen.

Ansonsten: Mit guter Beobachtungsgabe, leichtem Witz und mit einem Touch Philosophie geschrieben. Gefällt.

Gruss
Margot


Die Frau in Rot

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#3

Von der Wahrheit und vom Warten

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 03.01.2008 17:55
von Simone • Mitglied | 1.674 Beiträge | 1674 Punkte
Hi Margot

ha, das nennst du melodramatisch, dann hättest du mal die erste Fassung lesen sollen.

Pfeil und Bogen, klar ist logisch … werd ich ändern.
und was die Kommas betrifft, mit denen musst du wohl leben wie sie sind, ich hab für die Kommas dreimal so lange gebraucht, wie das ganze zu schreiben, ich werd’s noch mal versuchen, aber ich fürchte besser kann ich’s nicht.

ich dachte eigentlich ich hätte den Gedanken mit der Wahrheit am Ende wieder aufgegriffen.
„Sie liebte mich doch und sie war glücklich gewesen. Oder etwa nicht?“
das sollte bedeuten, dass es für das Kind die Wahrheit war, sie liebt ihn und sie ist glücklich. aber war das auch für die Mutter die Wahrheit? wenn ja, warum ist sie denn dann abgehauen? o.k. ist wohl zu wirr.? wie soll ich das denn sonst schreiben?

auf jeden Fall hat mich der positive Kommentar sehr gefreut, das sind praktisch meine ersten Gehversuche in die Prosa-Richtung. (vielleicht schick ich dir mal einen Diät-Keks )

Besten Dank und Gruß
Simone

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#4

Von der Wahrheit und vom Warten

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 04.01.2008 11:42
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
Hi Simone

Also ja, schon klar ... bzw. nein, nicht wirr... *g ... jedoch ist mir diese Frage (eigentlich die beiden letzten Sätze) am Schluss wirklich etwas zu ... ehm ... kindlich (?), trivial.

Natürlich fragt sich ein Kind, weshalb und wieso und projiziert das Verschwinden unweigerlich auf sich, aber diesen Gedankengang würde ich dem Leser überlassen. Vielmehr würde ich, wäre ich der Verfasser, die Gedanken über die Wahrheit wieder - ganz direkt - aufgreifen. So in der Richtung:

Ich saß, von diesem Tag an, für den Rest des Jahres – und auch später noch sehr oft –, jeden Abend vor dem Zubettgehen, auf der Treppe vor unserer Haustüre, wartete auf sie und habe mich gefragt, welche Wahrheit für meine Mutter galt. (bzw. gegolten hatte.)

.... in der Richtung. Du verstehst?

Gruss
Margot

Die Frau in Rot

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#5

Von der Wahrheit und vom Warten

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 04.01.2008 19:16
von Simone • Mitglied | 1.674 Beiträge | 1674 Punkte
Hi Margot

Ja, kann ich nachvollziehen. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass ein Kind sich sowas direkt fragt. Wie wär das, wenn ich im letzten Satz ins Heute zurückkomme?
Dabei bin ich noch darauf gekommen, dass es irgendwie so blöd klingt, dass die Mutter nach Kuchen riecht. Wenn ich die also oben nach Parfüm riechen lasse, könnte ich das am Schluß noch mit reinbringen. Ich hab das mal probiert. oder ist das mit dem Parfüm dann zu viel?

Ich saß, von diesem Tag an, für den Rest des Jahres – und auch später noch sehr oft –, jeden Abend vor dem Zubettgehen, auf der Treppe vor unserer Haustüre und wartete auf sie.

Das sind meine Erinnerungen an die damaligen Geschehnisse und für mich sind sie so wahr wie der Duft von Chanel No.5. Doch frage ich mich immer noch, welche Wahrheit wohl für meine Mutter galt.

Danke und Gruß
Simone
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#6

Von der Wahrheit und vom Warten

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 04.01.2008 23:57
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
Jetzt stehe ich etwas auf dem Schlauch! Ich ging natürlich davon aus, dass hier ein Erwachsener spricht. Allein schon deshalb: Ich habe mich im Laufe der Jahre oft gefragt ... Das ist keine Kindersprache, oder? Da ist einer, der erinnert sich an all das und zuletzt geht ihm ein Lichtlein auf, weshalb die Mutter evtl. einfach verschwunden ist. Deshalb braucht es meines Erachtens ein Zurückkommen ins Heute gar nicht, weil es ja heute erzählt wird. Aber - eben - die Erkenntnis ist vielleicht neu.

Ich würde das mit dem Kuchen übrigens belassen. Diese Erinnerung/dieses Wort finde ich viel stärker, als der Name eines Parfums - oder Parfum überhaupt. Gerade weil diese Sequenz aus der Kindheitsperspektive geschrieben ist, sind solche Vergleiche authentischer. Des Weiteren finde ich Chanel No 5 eh zum Abgewöhnen.


Zitat:

Das sind meine Erinnerungen an die damaligen Geschehnisse ...


Diese Erklärung ist nicht nötig. Das merkt der Leser selbst. Unterschätze ihn nur nicht, er könnte Dir das verübeln.

Die Frau in Rot

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#7

Von der Wahrheit und vom Warten

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 05.01.2008 05:45
von Simone • Mitglied | 1.674 Beiträge | 1674 Punkte
Ja, da spricht ein Erwachsener und der denkt natürlich so. Aber ich meinte nur, während er auf der Treppe gewartet hat, war er ja noch ein Kind und das würde so nicht denken. Vielleicht denke ich auch einfach nur zu wirr. Ich denk noch mal drüber nach.

Gut, dann laß ich das mit den Erinnerungen weg und den Kuchen drin. Ich finde auch dass Chanel No.5 ziemlich stinkt, aber das ist das einzige Parfum, das mir eingefallen ist, was es damals schon gab.

Besten Dank
Simone
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