#1

Elsternschnee

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 17.12.2007 09:56
von corvinus (gelöscht)
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Elsternschnee

"Es geht auf Tanne, ..." sagt Vater und holt den Dachgepäckträger hinter Sommerreifen hervor und Campingtisch. Mit seinem "..., die ja eigentlich eine Fichte ist!" lassen wir die Siedlung zurück. Acker, Weide, Moor liegen unter schmelzendem Weiß. Mittagslicht schneidet Schwarz in das weite Land.

Zur Schonung, wo in den großen Ferien Nesseln meine Beine peitschen, Klette nach Sandale giert. Und Himbeeren locken... Vaters Blick prüft den ersten Baum, sucht bereits, ob der andere nicht doch schöner ist. Eine Elster schreit.

Ich ziehe den Fäustling aus, greife nach der Frucht des letzten Sommers, pflücke sie aus Rankenwerk. Ein kleiner Wurm tänzelt wie die Schlange Indiens aus dem tauroten Kelch. Flocken fallen, die Elster schreit; von ferne Vaters Fluch. Die Frucht schmeckt gut, obwohl nur Marmeladenobst, mit Fleisch.

"Marmeladenobst!" wiederholt meine Großmutter, lächelt mir zu und öffnet die Thermoskanne mit dem dicken Korkenpfropf. Zu gerne würde ich einmal den Silberlöffel hineinwerfen, doch Kleineomi ist streng. Auch wenn sie in ihrem blauen Kleid mit den Punkten lieb ausschaut.

Ihr gegenüber am Campingtisch sitzt ein alter Mann mit Bart, Falten, Pelz. Sie trinken Kaffee, reden wenig. Und jedesmal, wenn die Elster schreit, lauschen sie, ob man Vaters Axt hören kann. Vergeblich.

Schneedick liegt auf unserem Auto, Fichten und Himbeergesträuch. Unter dem Campingtisch blüht Johanniskraut. Großmutter hat das Reisespiel ausgepackt: 'Mensch ärgere dich nicht!'. Wir spielen zu viert: Kleineomi Rot, ich in Blau, der Fremde Grün und Vater Schwarz. Der Alte würfelt, zieht für ihn. Verliert.

Die Elster schreit. Unser Gast trinkt den Rest Kaffee, steht auf, ein stummer Abschied. Auch wir gehen einiges darauf. Nach Haus. Dass Großmutter nicht friert in ihrem dünnen Kleid?

Vater lassen wir zurück. Er hat sich im Labyrinth der schönsten Tanne verlaufen. Sein "..., die ja eigentlich eine Fichte ist!" wird mir fehlen.

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#2

Elsternschnee

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 07.01.2008 12:11
von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte

Zitat:

corvinus schrieb am 17.12.2007 09:56 Uhr:
Elsternschnee

"Es geht auf Tanne, ..." sagt Vater und holt den Dachgepäckträger hinter Sommerreifen hervor und Campingtisch. Mit seinem "..., die ja eigentlich eine Fichte ist!" lassen wir die Siedlung zurück. Acker, Weide, Moor liegen unter schmelzendem Weiß. Mittagslicht schneidet Schwarz in das weite Land.

Zur Schonung, wo in den großen Ferien Nesseln meine Beine peitschen, Klette nach Sandale greift. Und Himbeeren locken... Vaters Blick prüft den ersten Baum, sucht bereits, ob der andere nicht doch schöner ist. Eine Elster schreit.

Ich ziehe den Fäustling aus, greife nach der Frucht des letzten Sommers, pflücke sie aus Rankenwerk. Ein kleiner Wurm tänzelt wie die Schlange Indiens aus dem tauroten Kelch. Flocken fallen, die Elster schreit; von ferne Vaters Fluch. Die Frucht schmeckt gut, obwohl nur Marmeladenobst, mit Fleisch.

"Marmeladenobst!" wiederholt meine Großmutter, lächelt mir zu und öffnet die Thermoskanne mit dem dicken Korkenpfropf. Zu gerne würde ich einmal den Silberlöffel hineinwerfen, doch Kleineomi ist streng. Auch wenn sie in ihrem blauen Kleid mit den Punkten lieb ausschaut.

Ihr gegenüber am Campingtisch sitzt ein alter Mann mit Bart, Falten, Pelz. Sie trinken Kaffee, reden wenig. Und jedesmal, wenn die Elster schreit, lauschen sie, ob man Vaters Axt hören kann. Vergeblich.

Schneedick liegt auf unserem Auto, Fichten und Himbeergesträuch. Unter dem Campingtisch blüht Johanniskraut. Großmutter hat das Reisespiel ausgepackt: 'Mensch ärgere dich nicht!'. Wir spielen zu viert: Kleineomi Rot, ich in Blau, der Fremde Grün und Vater Schwarz. Der Alte würfelt, zieht für ihn. Verliert.

Die Elster schreit. Unser Gast trinkt den Rest Kaffee, steht auf, ein stummer Abschied. Auch wir gehen einiges darauf. Nach Haus. Dass Großmutter nicht friert in ihrem dünnen Kleid?

Vater lassen wir zurück. Er hat sich im Labyrinth der schönsten Tanne verlaufen. Sein "..., die ja eigentlich eine Fichte ist!" wird mir fehlen.


hallo corvinus

am wenigsten gefällt mir, bei dem Text, dass die Elster dauernd schreit. da kommt bei mir Missbehagen auf. vielleicht ist dies ja beabsichtigt. aber warum ruft sie nicht, oder schäkert, oder warum singt sie denn wenigstens, immerhin als Singvogel, nicht?

auch die Vergleichzeitigung von Vergangenheit und Gegenwart missfällt mir. ich mag es nicht, als Leser, wie auf einem verschwommenen Aquarell auf der Zeitschiene auseinanderzulaufen: wo peitschen steht, müsste peitschten stehen, für greift, griff und für locken, lockten. Johanniskraut blüht ab der Sommersonnenwende und höchstens bis August. was habe die Blüten im Schnee verloren, samt Campingtisch, samt Sommerkleid?

mag ja sein, dass du all dies als Stilmittel bewusst einsetzt. etwa zur schizophrenen Untermalung des Protagonisten, aber mir gleitet damit der Text aus dem Gefallen, trotz hervorragender Überschrift, trotz surrealistischen Maden die sich aus einer Eibenbeere (?) schlängeln.

mag auch sein, dass sich mit anderen Texten, wie dem "Tannengrab" eine lebensfähige Symbiose entwickeln kann. aber für sich allein, hat dieser Text, hier, für mich, keinen Bestand.

Gruß
Alcedo

e-Gut
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#3

Elsternschnee

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 07.01.2008 12:55
von corvinus (gelöscht)
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Salut Alcedo und Dank für Deine Rückmeldung. Gerade, da Dich der Text nicht so recht erreicht.

Der stetig wiederholte Elsterschrei soll zum einen Struktur geben, zum anderen nahendes Unheil ankündigen. Und da erscheint m.E. ein Schreien sinniger als ein Rufen oder gar Singen. Obgleich ich ansonsten schäkernde Elstern durchaus posierlich wie erfreulich finde.

Die Gegenwart der Erinnerung, bzw. das Verschwimmen der Zeiten ist eine Eigentümlichkeit des 'erzählenden Ichs'. Für ihn sind Augenblicke, die Monate zurück liegen, wirksame, präsente Wirklichkeit. Und so blüht denn auch - für ihn - das Johanniskraut unterm Campingtisch, obwohl 'eigentlich' ja Winter ist. Mir erscheint ein derartiges Spiel der Wahrnehmungsverschiebung reizvoll; manchem einem anderen auch, manch anderem nicht. Schade, doch nicht wirklich schlimm ;-).

Ach ja - die Sicht der Frucht als Eibe ist gut, vielleicht sogar sinniger darob der Kelchartigkeit. Dennoch sollte es eine Himbeere sein, sozusagen der Schlüssel, der ihm die Tür zur 'Zeitverschiebungssicht' öffnet.

Himbeergeistgruß!
c.

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#4

Elsternschnee

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 07.01.2008 13:54
von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte
stimmt. eine gepflückte, umgedrehte Himbeere geht auch. ich hatte aber zuerst an die giftigen Eiben denken müssen (wobei das Fruchtfleisch der Beere ja nicht giftig ist).

dann hab ich das mit dem Schrei und der Eigentümlichkeit richtig vermutet. wenns mir trotzdem nicht gefällt, ist es aber nicht schlimm, das stimmt.
ich mag ja auch das gesamte Krimi-Genre nicht besonders.

andererseits ist mir aber auch klar, dass derselbe Text mit possierlichen Elstern und brav erzählt, fade schmecken würde.

Himbeerwanzenduftgruß
Alcedo

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