#1

Michael Allen

in Arbeitshügel 09.06.2007 16:30
von Brotnic2um • Mitglied | 645 Beiträge | 645 Punkte
M. Allen

„Datenfraß. Datenalzheimer, nennen sie es, wie sie es wollen, aber wir können ihnen Mr. Allen nicht mehr helfen.“, beendete der smarte Doktor seine Onlinediagnose.
„Mein digitales Echo stirbt?“
„Wir können den Datenverlust nicht aufhalten. Egal auf welches Medium wir ihre Erinnerungen überspielen. Nach kurzer Zeit tauchen Löcher auf. Immer an unterschiedlichen Stellen. Kein Muster. Jedenfalls keines, dass wir kennen.“

„Meine Meme sind also flüchtig.“, resignierte ich schließlich und wandte mich ein wenig ab.
„Exakt. Seltsamerweise lassen sich ihre Erinnerungen – wir haben das unter isolierten Bedingungen probiert – auch nicht auf eine andere Datenbasis übertragen. Auch da beginnen sich, ihre Daten aufzulösen.“
Dem Doktor war anzusehen, dass er wünschte das Gespräch geräuschlos beenden zu können. Die Situation, eine tödliche Diagnose zu überbringen, war ihm wahrscheinlich nicht neu aber er hat sie wohl in letzter Zeit kaum gebraucht. In letzter Zeit...

Alles hatte in den Microsoft Search Laboratories im Jahre 1998 begonnen. Das Team um Steven Lucas war besessen von der Idee gewesen, Leben zu digitalisieren. Nicht die Klonung von Genen war das Ziel, sondern Erinnerungen, Eindrücke, gesprochene und geschriebene Sätze und die körperlichen Empfindungen, die ein Bild oder ein knackiger Po bei einem Menschen auslösen; das alles sollte festgehalten werden.

Die ersten Versuche waren jämmerlich. Die Datenübertragungsrate war kümmerlich und der Speicherplatz nicht ausreichend. Ganz zu schweigen von den Softwareagenten und den Suchalgorhithmen. Sie waren nur stumpfe Waffen, um den Datenwust zu entwirren.

Das Projekt wäre fast gestorben, aber dann kamen kurz nach der Jahrtausendwende die Durchbrüche. Speicherplatz? Schnelle Medien? Alles kein Problem und so erschwinglich wie nie. 2007 kostete eine Festplatte mit Terrabyte Volumen nichtmal anhähernd soviel wie ein Monatsgehalt. Die Speicherkapazitäten des menschlichen Gehirns waren nicht mehr allzu beeindruckend. So hatte es beginnen können.


Ich war einer der ersten, der sich verkabeln ließ. Als junger Ingenieur bei MS wurde ich 2010 mit den damals neuesten W-Lan Gadgets ausgerüstet. Ich empfand mein Leben als nicht so geheimnisvoll, als das ich eine Aversion gegen eine Abspeicherung auf einem anonymen und nur mit meiner Einwilligung einsehbaren Datenträger gehabt hätte. Im Gegenteil.
Wenn sie sich die Online Dokumente dieser Zeit in den Archiven von Google und Microsoft ansehen – Asianet wir da nicht so ergiebig sein - dann werden sie erkennen, dass es ein geradezu unstillbares Bedürfnis der Masse gab, sich über sogenannte Bloggs und in diversen Foren auszutoben. Ein jeder brüllte seinen Wahn in die Welt und genoss narzistische Freude daran, gehört zu werden und sich selbst in einem öffentlichen Medium zu entdecken. Billige Berühmtheit oder Discount VIPs wie es sich dann nannte.

„Kannst du dir dann eigentlich so eine Art Porno ansehen, wenn du mit einer gevögelt hast ?“, wurde ich häufiger von meinen Freunden etwas nervös gefragt, wenn wir unterwegs waren. Ich log, dass ich nicht könnte, da Persönlichkeitsrechte verletzende Bilder automatisch meinem Zugriff entzogen würden.
„Wer hat denn das Recht?“
„Keiner. Außer es gibt eine richterliche Verfügung.“, log ich halb.
„Aha. Und wo hast du die Kameras überall?“
„Überall.“ Da konnte ich mir ein Grinsen meist nicht mehr verkneifen.
„Die Cams nehmen das jetzt alles auf?“
„Nur wenn ich mehr als durchschnittlich erregt werde. Also, mach dir mal keinen Kopf.“
„Wäre eigentlich cool in deinem Michael Allen Film aufzutreten, statt einfach zu verschwinden. Echt mal. Vielleicht sollte ich dich erregen?“

Es störte keinen mit einem verkabelten Mensch zu reden, zu streiten oder zu vögeln. Keinen, den ich kennen lernte oder kennen lernen sollte. Sie waren zufrieden, wenn ich sagte, dass es einen Datenschutzmechanismus gebe, der nur mit richterlicher Gewalt aufgehoben werden könnte. Das stimmte, aber eben nur halb. Die Administratoren hatten die Zugriffsmacht, dass sie keinen papiernen Wisch brauchten, um sich die Daten anzusehen. Ganz zu schweigen von professionellen Hackern.

Heute nach meinem letzten Gespräch mit dem Doktor, habe ich das vage Gefühl es sei häufiger zu Einbrüchen in die Datenbanken gekommen. Aber in der dritten Generation eines Michael Allen Mems, fällt es mir sowieso schwer zu unterscheiden, zwischen meinen natürlich ausgelösten Erinnerungen und einem per Agenten online ausgeführten Zugriff auf meine Michael Allen Datenbank bei MS oder dem globalen Verzeichnis.

Meme? Interessant um 2010 griffen die Menschen via PC und Internet auf die globalen Erinnerungsverzeichnisse zu, um sich lexikalisches Wissen einzuverleiben. Meme? Meme is a unit of cultural information that propagates from one mind to another as a theoretical unit of cultural evolution.

Heute ist es bequemer. Sollte der Name Noam Avram Nash in einem Gespräch fallen, und sie innerhalb der natürlichen On-by-Now Millisekunden Zeit unseres Gehirns keine Antwort erhalten, blättert ihr integrierter Agent die Online Enzyklopädien durch und füttert sie mit seinen Ergebnissen.

Wenn wir etwas riechen, hören, schmecken, sehen, kann das ein neuronales Gewitter auslösen, wenn es uns an etwas erinnert oder gemahnt. Bei vielen Eindrücken präsentiert uns unser Gehirn in atemberaubender Geschwindigkeit die gesamte Assoziation oder Geschichte. Wenn sich die richtigen Proteine entfalten, ist es wie bei einem Flash: Die ganze Vergangenheit, die ganze Geschichte ist sofort da.
On by Now. Ein alter Traum der IT-ler vor der Jahrtausendwende, wo das starten eines Computers eine langwierige und teilweise zermürbende Warterei war. Das Gehirn beherrscht On-by-Now immer schon perfekt. Seit Jahrtausenden.

Heute ist es so, dass selbst wenn ihr natürlicher Speicher sagt, Heh!,das kenn ich!, überprüft ihr implantierter Software Agent trotzdem ihr natürliches, das weiß doch jedes Kind Gefühl .
Als wir die Statistiken dazu – natürliches Empfinden korrekt oder falsch - im MS-Lab auswerteten, waren wir überrascht, wie häufig das Bauchgefühl unrecht hatte. Daher entwickelten wir das Referenzmodul, den Verifizierungsagenten.

Wächst man mit diesen technologischen Helfern, Assistenten auf, verwischt sich das natürliche mit dem künstlichen Empfinden. Jetzt, wo ich sterben werde, weil sich meine Meme auslöschen, kann ich wieder hinterfragen, ob die Wirklichkeit nur ein Traum oder der Traum die Wirklichkeit ist. Meine Erinnerung funktionieren nicht mehr. Sie lassen sich nicht mehr abspeichern. Nicht zuverlässig abspeichern. Also kann ich keinem Inhalt mehr trauen.

Ich vermute auch, dass sie mich von den Datenbanken abgeschnitten haben. Es wäre nur fair, da ich keine Sicherheit und kein Vertrauen mehr in meine Erinnerung habe. Was nutzt da eine dreimal gesicherte Verschlüsselung? Nichts. Jetzt erscheint es mir so, dass einige schon damals der Technologie des vernetzten Denkens und der gemeinsamen Erinnerung, der totalen Speicherung nicht trauten. Aber, ich bin mir nicht sicher.

Mag sein, dass ich die Kritiker vergessen habe, weil sie keinen Eindruck auf mich machten. Wenn ich die Erinnerungen, die mir noch zur Verfügung stehen durchgehe, ist da niemand.



An sich war die Digitalisierung simpel. Wenn ich von draußen nach innen ging, so wurde in dem Moment eine kleine Sequenz gemacht. Michael betritt sein Büro. Signifikanter Lichtwechsel, also Mitschnitt. Stieg der Puls, raste das Herz, begannen die Kameras zu filmen. Ab 2017 wurde alles mitgeschnitten. Es gab dazu ein Gesetz. Es wurde als höchstes Gesetz in alle westliche Verfassungen übernommen. Als Grundrecht der Gemeinschaft: Wider die Lüge, wider das Vergessen. Eine aufgeklärte Gesellschaft, die sich nicht aller Mittel der Aufklärung bedient, nimmt billigend in Kauf, dass ihr selbstverschuldetes Unwissen den Tod Aller durch Unwissenheit zur Folge haben könnte. Jeder, der sich weigert, sein Wissen zu digitalisieren, sein Wissen und seine Erinnerungen preiszugeben, ist eine potentielle Gefahr der allgemeinen Wohlfahrt.

Ich bin eines der ältesten Meme. Ich lebe seit - wenn meine Erinnerung nicht trügt - gut und gerne zwei Jahrhunderten. Aber mit dem Tod meiner Erinnerung, wird auch mein genetischer Klon sterben. Sie werden dem nächsten Michael Allen, nicht die Michael Allen Erinnerung implantieren, weil die Michael Allen Datenbank korrupt ist. Ob das ein Edward Teller schon bedacht hatte? Dass eine Erinnerungsimagedatei für alle Zeit kaputtgehen könnte?
Ja, genau der Edward Teller, der jedes Problem mit der Bombe lösen wollte und die erste Atombombe mitentwickelt hatte, war doch so, oder? Oder war das ein anderer? Chargaff? Doch, das war so. Gebt Edward eine Bombe und er löst das Problem. Und der selbe Teller hatte doch auch die Vision gehabt, sein Gehirn zu digitalisieren, abzuspeichern, oder? Das war die Idee und genau das haben wir gemacht. Wir haben das gemacht.

Michael Allen wurde wieder reloaded. In genetische Klone. Der Ursprungs Michael, der von 2010, war erst nur zu zwei Dritteln vorhanden und dann wurde er vonMichael Allen dem Zweiten um seine ersten zwanzig Jahre ergänzt. Michael Allen?

Die funktionierenden Inseln in meinem Kopf sagen mir, dass ich wie eine von BSE befallene Kuh bin. Prione? Prione sind Enzyme, die eine Art Hirnkrebs verursachen. Negative Enzyme. Sie fressen meine Erinnerungen auf. Außer Erinnerungen haben wir doch nichts? Ohne Erinnerungen sind wir doch nichts? Ich lebte wie ein Insekt ohne eine Referenz zu mir selbst. Hui, das ist gruselig. Was ist gruselig? Was weiß ein Insekt von sich? Nichts! Reißen sie einem Insekt ruhig ein Bein aus. Das ist nicht grausam. Es kann sich nicht erinnern, sechs gehabt zu haben. Das Insekt will ich sehen, dass sich erinnerte. Nein, ein Insekt wird in jedem Augenblick neu erschaffen. Haben die mich nun abgeschnitten? Wird das noch mitgeschnitten oder bin ich nicht mehr im WAN?



Ich spüre natürlich den Wind. Der leicht bewölkte Himmel löst bei mir Wohlgefallen aus. Ich atme tief durch und spüre, dass ich bin. Das ist schön.

„Ihre Spritze Mr. Allen.“
„Allen?“


http://www.spektrum.de/artikel/869379
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#2

Michael Allen

in Arbeitshügel 20.06.2007 17:52
von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte
"Heute, heute" <- mit Absicht wiederholt? (9.Absatz)

"eine Art Hirnkrebs" passt nicht. Krebs verursacht Wucherungen, also zusätzliche Materie würde im Kranium deponiert. Gehirne von Rindern, Schafen und Kannibalen mit Enzephalopathie sehen hingegen aus wie löchrige Schwämme (daher auch die Bezeichnung "spongiform" (heißt auf lateinisch: schwammförmig).

in der Überschrift würde ich das Fragezeichen weglassen, oder?

dafür wäre ein eigefügtes Mr. Allen im ersten Satz vielleicht hilfreich. ich begriff erst so gegen Mitte der Story, dass der Typ Allen heißt. oder wolltest du das so?

hallo Brot

manche Absätze erscheinen mir überfrachtet mit Fachjargon (z.B."dreimal per Hyper 1024 Bit SSL Verschlüsselung?") und Unwesentlichem (Microsoft, Google, VIPs).
meinst du wirklich jemand wird sich in 450 Jahren dafür interessieren, wieviel eine Festplatte heute kostet? die ganze Brimborium vom Gates-Bill nervt, ist aber grade noch zu ertragen, doch dass es im Jahre 2493 noch Greenbucks geben soll, ist ja die Höhe! mach dich also schleunigst auf die Suche nach einer wohlklingonischer Währung oder nimm die Eurotaste.
so wie bei den Memen! das ist dann nämlich Klasse. da werden meine orthographischen Genitalien feucht von. Blackmores Theorie der kulturellen Evolution war mir zwar noch bekannt, aber auch wohlig fremd genug, da halb vergessen. das Wort "Meme" im zweiten Absatz wurde also für mich ein Schlüsselfaszinosa für den Text. ich konnte nicht mehr mit dem Lesen aufhören. zwar dämmerte mir dann bald, dass du den Begriff nicht wie von Susan Blackmore angedacht verwendest (hab dann gleich mal ein wenig überprüft und nachgelesen), aber das ließe sich vielleicht zurechtbiegen. ich empfehle auch die Lektüre der Energontheorie von Hantschk.
andererseits möchte ich mitnichten dein Konstrukt über den Haufen werfen. abwägen darfst dann bitte selber.

Erinnerungsimagedatei ist mir die gelungenste Wortschöpfung, bravo!

das Finale gefällt mir ausnehmend. das kommt, unmittelbar nach den ausgerissenen Insektenbeinen, sehr, sehr gut. und ja, da bin ich mir jetzt ganz sicher: das Fragezeichen sollte ausschließlich diesem letzten Staunen vorbehalten bleiben - weg damit in der Überschrift!

Gruß
Alcedo


e-Gut
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#3

Michael Allen

in Arbeitshügel 25.06.2007 17:58
von Brotnic2um • Mitglied | 645 Beiträge | 645 Punkte
Hi Alcedo,

und danke für die Rückmeldung. Ich habe diesen Text angeregt von dem am Ende genannten Artikel schnell geschrieben, weil ich den Einfall nicht verlieren wollte. Vorschnell unter Kurzgeschichten gepostet und ihn dann aber lieber unter dem Arbeitshügel plaziert, unter anderem wegen der von Dir monierten Nervereien. Aber da Billy Boy nun mal der ist der forschen lässt und Vorreiter ist, lass ich den vorerst drin.

Die Meme sind mir untergekommen bei der Lektüre des egoistischen Gens von Richard Dawkins. Ein nicht mher unumstrittenes Buch, aber er gilt (nach meinem Wissen) als der Erfinder dieser kulturellen Gene genannt Meme.
Blackmore sagte mir peinlicherweise nichts. Peinlicherweise weil ich gerade ein wenig suchte und feststellte, dass Dawkins nur die Anregung gab und Blackmore das ganze wohl mit Leben gefüllt hat. Danke für den Hinweis.

Du schreibst aber richtig, dass es sich hier um ein Konstrukt und wackligen Rohbau und keine Geschichte handelt. Vielleicht ein Mem . Aber - insofern freue ich mich Deine Aufmerksamkeit wiedererweckt zu haben - sind Meme wenigstens mal ein Aspekt der Zukunft den Huxley nicht vorausgesehen hat.

Was ich mich jetzt frage ist, ob ich diese Geschichte von der Auflösunfg des Allen Mems nicht doch besser im Präsens mit Rückblenden erzählen sollte, Rückblenden die zunehmend diffuser werden. Vielleicht sollte ich mit einem Besuch eines Reporters in einem Sanatorium, in dem dieser Allen, der erste aufgezeichnete Mensch liegt, beginnen? Der Reporter hat die Aufgabe, eine Reportage über den ersten digitalen Adam zu schreiben?

Wie auch immer, ich danke für die Anregungen und Deine Beschäftigung mit dem Rohling.
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#4

Michael Allen

in Arbeitshügel 07.08.2007 12:39
von bipontina (gelöscht)
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für mich mißverständlich: sie statt Sie, ihr statt Ihr, das statt daß(dass) und vice versa. Verwirrend.

LG bipontina
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