#1

Müde

in Diverse 28.05.2006 23:57
von Roderich (gelöscht)
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Müde


In Nächten wie diesen, wenn
Flammen die Schultern verzehren und
den Körper auf den nackten Schmerz
zusammenschmelzen und

alles so aschgrau erscheint wie
wenn Bücher in jenem zuckenden Feuer
verbrannt worden wären und all das
Wissen der Zeit sich im donnernden
Nachtwind verstreut hätte, unauffindbar
in alle Himmelsrichtungen geweht,
in den Bäumen hängen geblieben gleich
Samenkörnern, die nie zu Pflanzen werden;

ja, in Nächten wie diesen
wache ich am Fenster und singe zu
den Geistern, müde und ausgezehrt bis
der Morgen graut.

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#2

Müde

in Diverse 02.06.2006 20:56
von Don Carvalho • Mitglied | 1.880 Beiträge | 1880 Punkte
Hallo Roderich,

interessanter Text, dessen Inhalt sich mir allerdings noch nicht so recht zu erschließen vermag. Naja, ich versuche mich mal Stück um Stück daran...

In Nächten wie diesen, wenn
Flammen die Schultern verzehren und
den Körper auf den nackten Schmerz
zusammenschmelzen und


Die Einleitung, die quasi "Zeit und Raum" festlegt. Das lyrische Ich scheint Schmerzen zu haben, nach einigem Überlegen vermute ich, es geht eher um körperlichen Schmerz. Natürlich könnte man auch überlegen, dass es seelisch leidet und dies als körperlichen Schmerz empfindet, irgendwie überzeugt mich das aber nicht so (keine Ahnung, warum^^).

alles so aschegrau erscheint wie
wenn Bücher in jenem zuckenden Feuer
verbrannt worden wären und all das
Wissen der Zeit sich im donnernden
Nachtwind verstreut hätte, unauffindbar
in alle Himmelsrichtungen geweht,
in den Bäumen hängen geblieben gleich
Samenkörnern, die nie zu Pflanzen werden;


Hm, was ist jenes zuckende Feuer? Grundsätzlich denke ich dabei an die Bücherverbrennung der Nazis, bin mir aber nicht sicher... eine andere Erklärung vermag ich jedoch nicht zu finden. Stehen womöglich auch die Schmerzen, die das lyrische ich erfahren hat, in Zusammenhang mit einer rechtsradikalen oder nationalsozialistischen Gewalttat? So ließe sich zumindest ein Bogen spannen und ein Zusammenhang herstellen... mehr noch, als dass das lyrIch den Gewaltakt der Bücherverbrennung verurteilt, dauert ihn all das verlorene Wissen und Ideen, die so keine Chance hatten, sich zu entfalten.

In diesem Mittelteil finde ich das Tempo des Textes übrigens höher, er ist etwas mitreißender als die anderen...


ja, in Nächten wie diesen
wache ich am Fenster und singe zu
den Geistern, müde und ausgezehrt bis
der Morgen graut.

Hier nun, werden die "Nächte wie diese" vom Beginn wieder aufgenommen und insgesamt das Tempo wieder rausgenommen. Sind die "Geister" womöglich die der Vergangheit? Dies würde, um beim Thema Nationalsozialsimus zu bleiben, darauf hindeuten, dass das Gedicht in der Zeit nach 45 angesiedelt ist, vermutlich in der heutigen Zeit. Aber warum singt das lyrIch zu diesen Geistern ?

Hm, insgesamt erscheint mir die Interpretation am überzeugendsten, dass es hier um daas Opfer einer rechten Gewalttat geht, dessen Schmerzen (da würden jetzt eigentlich Schmerzen körperlicher wie auch sselischer Natur) ihn keinen Schlaf finden lassen. Womöglich ist es jemand, der entweder schom im dritten Reich verfolgt wurde oder wahrscheinlich verfolgt worden wäre, hätte er damals gelebt - deshalb dieser Bezug zu der Bücherverbrennung. Vielleicht sind die Samenkörner, die nicht aufgegangen sind, auch nicht nur in den Ideen der Bücher zu sehen, sondern auch in den Lehren, die man aus der Vergangenheit hätte ziehen können/ müssen, dies aber - das lyrIch hat es am eigenen Leibe erfahren - nicht in ausreichendem Maße getan hat. Und so durchwacht es in Sorge die Nacht, während es sich an die Geister der Vergangenheit erinnert fühlt.

Ich muss gestehen, dass das zwar einigermaßen schlüssig ist, ich aber befürchte, dass ich mich mit meiner Interpretation arg auf dem Holzweg befinde . Wer weiß, was wirklich dahinter steckt und ob ich die wahren Hintergründe ebenso interessant fände, wie die von mir zusammengesuchten. Die Form sagt mir jetzt nicht übermäßig zu, ein freies Gedicht, klar, das aber auch in seiner Gestaltung keine Besonderheiten aufweist, sondern einfach "nur" beschreibt.

Dennoch gern gelesen,

Don




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#3

Müde

in Diverse 02.06.2006 22:42
von Maya (gelöscht)
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Hi Rod,

also an Nationalsozialismus habe ich beim Lesen nicht gedacht und auch nicht an körperliche Schmerzen. Für mich steht die Psyche im Vordergrund.
An manchen Tagen bekommt man Lasten aufgebürdet, die man nicht mehr schultern kann (Flammen stehen für den sonnerlichten Tag, Arbeit, Stress - Überlastung). Jedenfalls knickt das Ich nachts – als es den Tag noch mal Revue passieren lässt - ein (schmilzt zusammen), weil es dem Ganzen nicht mehr gewachsen ist, oder dies zumindest glaubt. So steht es am Fenster, weil es eh nicht schlafen kann…

„In jenem zuckenden Feuer“ beziehe ich dabei auf die in Strophe 1 angesprochenen Flammen und die Bücher sind für mich Symbol für die verworrene Gedankenwelt des Ichs.
Es ist so fertig mit der Welt, dass die Gedanken nicht greifbar sind, mal zucken sie in die eine, dann wieder in die andere Richtung, letztlich sind sie verstreut, unauffindbar.
In einzelnen Gedanken liegt natürlich Potential, wie man sein Leben wieder auf die Reihe bekommen könnte („Samenkörner, die nie zu Pflanzen werden“), jedoch sind sie in diesem Zustand dem Ich nicht zugänglich.

Die letzte Strophe finde ich etwas widersprüchlich, weil ich mir schlecht vorstellen kann, wie man „müde“ und „ausgezehrt“ noch in der Lage ist, zu den Geistern zu „singen“, auch, wenn es nicht wörtlich gemeint ist.
Aber der Begriff „singen“ ist mir da irgendwie zu positiv (aktiv) besetzt. Die Geister sind für mich Lebensgeister, man hofft, dass sie am Morgen doch wieder die Oberhand nehmen und neuen Schwung und Tatendrang bringen werden.

Na, so richtig hat mich das auch nicht gefesselt – aber, um einfach mal Don nachzuplappern – gerne gelesen habe ich es auf jeden Fall.

LG, Maya

P.S. aschegrau - aschgrau?

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#4

Müde

in Diverse 02.06.2006 22:53
von Motte (gelöscht)
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Also, als ich das Gedicht zuerst las, habe ich garnicht mal so tief geschürft und hatte eine Person vor Augen, die von den Anstrengungen und Mühen eines langen Arbeitstages so völlig ausgezehrt ist, dass sie sich leer und ausgebrannt fühlt (das burning-out-Syndrom). So, dass auch alles Wissen nicht mehr abrufbar ist, ihr die Konzentration auf irgendein Thema nicht mehr gelingt.
Vielleicht ist es auch die quälende Frage nach dem Sinn der Arbeit für die sie sich so völlig verausgabt hat, weil alles Wissen nun dafür garkeine Rolle spielt, der Leistungsdruck und das -bestreben aber dennoch enorm hoch sind. Letztlich erscheint aber alles aschgrau, das lyrI hält keine Ergebnisse in den Händen für die sich der ganze Aufwand gelohnt hätte, es gibt keine Pflanzen die aus den Samenkörnern hervorgegangen sind ..
Die Schmerzen in den Schultern hätte ich damit übereingebracht. Ich denke auch, dass es sich um körperliche Schmerzen handelt, solche, die sich nach langem Sitzen und Brüten über dem PC eingestellt haben, Verspannungen.
Und da das Gedicht so wirkt, als sei es in einem Guss geschrieben worden, also nicht endlos viel daran herumgebastelt worden, kommt es mir nicht so vor, als wenn bewusst Anspielungen auf so große Themen wie Bücherverbrennung intendiert gewesen wären..
Ich mag mich natürlich irren und bloß zu phantasielos sein mir mehr darunter vorzustellen...
Jedenfalls bin ich hier jetzt schon gespannt, was denn gemeint ist!

PS: Hatte meine Interpretation geschrieben, bevor ich deine las Maya. Das kommt dem ja nahe, nur dachte gerade, dass die Körperlichkeit der Schmerzen ein Zeichen für die Anstrengungen des lyrI sein könnten..

Liebe Grüße,
Motte


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#5

Müde

in Diverse 03.06.2006 09:17
von Roderich (gelöscht)
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Hallo, liebe Leute,

vielen Dank für eure Kommentare, die sehr ausführlich, interessant und hilfreich waren.

@ Don: Eine äußerst interessante und aufschlussreiche Interpretation, die mir selbst ungeahnte Lesarten des Gedichts offenbart. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich an die Möglichkeit, die du ansprichst, selbst noch nicht gedacht habe. Durchaus schlüssig, was du schreibst, wenngleich von mir nicht angedacht. Aber deine Argumentation hat Hand und Fuß und diese Sichtweise hat mich selbst wieder sehr zum Grübeln gebracht. Schreibt manchmal vielleicht das Unterbewusstsein jene Gedichte, die das Bewusstsein nicht schreiben kann?

@ Maya: Auch du lieferst eine interessante Interpretation, die schon ein wenig näher an meiner eigenen Intention dran ist, aber sie auch nicht wirklich trifft. Aber das ist doch letztlich egal, denn jeder Leser liest etwas anderes aus einem Gedicht heraus und das macht die Sache ja gerade so spannend. Einen Volltreffer hast du aber in einem Teilbereich gelandet: Das Bild der Bücher. Das habe ich selbst auch genau so gesehen. Die in alle Richtungen davon flatternden Gedanken, die nicht mehr greifbar sind. Das lyr. Ich kann nicht mehr ordentlich denken.

Übrigens danke für den Hinweis mit dem aschgrau - werde ich gleich korrigieren.

@ Motte: Mit dem burning-out-Syndrom bist du der Stimmung, in der ich war, als ich das Gedicht geschrieben habe, sehr nah gekommen. Tatsächlich beschreibt das Gedicht nicht viel mehr als eine albtraumhafte Nacht ohne Schlaf und mit viel Schmerzen - körperlich, ja. Totale Verspannung. Simpel, banal. Wahrscheinlich wolltet ihr das gar nicht wissen. Natürlich habe ich versucht, auch eine zweite Sinnebene hineinzulegen mit den Geistern der Nacht (Geister der Vergangenheit als Stichwort) und die Bücher kann man durchaus auch anderweitig deuten, ohne die Interpretationslinie zu verlassen, aber im Grunde ist es das. Wahrscheinlich seid ihr jetzt enttäuscht, aber so banal ist der Roderich nun mal.

Es freut mich jedenfalls sehr, dass ihr euch mit meinen Zeilen so intensiv beschäftigt habt - ihr habt mir dadurch auch neue Erkenntnisse zu dem Gedicht selbst gebracht - und dass ihr es trotz allem doch gern gelesen habt. Was will ich mehr?

Viele Grüße

Thomas

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