#1

Wie wir sterben

in Düsteres und Trübsinniges 04.02.2006 16:12
von Motte (gelöscht)
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Noch ehe wir geboren sind,
entstiegen aus dem nassen Schleim,
im Schöpfungsbade taub und blind,
da nistet er sich in uns ein.

In unsre Körper leere Hüllen,
zerbrechbar, gläsern, leicht verletzlich,
kehrt ein die Seele, sie zu füllen,
er folgt ihr leise, sacht und setzt sich

im Seelenhaus mit Vorsicht nieder
und hofft, dass wir ihn tragen werden.
So öffnen wir taunass die Lider,
beginnen unsern Weg auf Erden.

Mit wachem Auge hält er Schritt,
geduldig teilt er unsre Stunden
und wachsen wir, so wächst er mit,
wie Tropfstein zählt er die Sekunden.

Denn nichts wird jemals ihn erschüttern,
auch wenn wir kränkeln, straucheln, fallen,
wird das nur seine Stärke füttern,
sein Warten schmälern, ihm gefallen.

Und kommt die Blütezeit des Lebens,
reift weiter er und nährt sich stet.
Die Körper engen ihn vergebens.
Er bricht sie, nimmt die Seele - geht.


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#2

Wie wir sterben

in Düsteres und Trübsinniges 04.02.2006 18:07
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
Hi Motte

Ich überlege noch immer, von wem du hier sprichst. Kann es sein, dass es der Tod ist? Ja, ich denke schon. Das gefällt mir gut. Man muss sich etwas in den Rhythmus einlesen, aber dann klappt's wunderbar. Beim Stein habe ich gestockt. Der Vergleich mit dem Wachsen fand ich zu Anfang etwas quer. Steine wachsen ja nicht (ausser Gallensteine *g), aber mit der nächsten Zeile klappt dann der Vergleich wieder. Das 'entstiegen' zu Anfang finde ich nicht so toll. Ich kenne keinen Säugling, der das könnte. Mit dem 'Sein' habe ich auch immer meine (persönlichen) Probleme, ich kann das Wort nicht (mehr) ausstehen und die 'Blüt', na ja, da schüttelt's mich ein wenig. Aber sonst, habe ich das sehr gerne gelesen. Ich habe ja ein Faible für alles, was mit Vergänglichkeit zu tun hat. Frag mal den Knud.

Gruss
Margot

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#3

Wie wir sterben

in Düsteres und Trübsinniges 04.02.2006 18:35
von Joame Plebis | 3.690 Beiträge | 3826 Punkte
Liebe Motte!

Ich dachte auch vage an den Tod, aber ein Widerspruch zu dieser Annahme wäre hier:


Zitat:

auch wenn wir kränkeln, straucheln, fallen,
wird das nur seine Stärke füttern,
sein Warten schmälern, ihm gefallen.



Wenn Du es in dem Sinne meinst, sein Warten würde kürzer, dann wäre es klar; nur schmälern wirkt mir hier verwirrend.
Denn schmälern kann den Sinn nach eine Verringerung bedeuten,
wird aber meist im Zusammenhang mit einem Sustantivum benutz, wie
Liebe schmälern, Profit, Hoffnung eventuell, ...
Ein substantivisches Verbum wird in Verbindung mit schmälern erfolgloser, wirkungsloser, was auch auf das Warten zuträfe.

Ist es der Tod, so wird sein Warten verkürzt durch unser Kränkeln, Straucheln, Fallen, somit auch erfolgreicher.
(Weiters würde mir des Lebens Blüte besser gefallen,
doch ich weiß, das gäbe Probleme beim Schema ABAB. Da heißt es eben umstellen und anders - oder doch dabei bleiben.)

Prinzipiell ein gut gemachtes Gedicht, das eine große Wahrheit beeinhaltet, wenn es der Tod ist.

Freundlichen Gruß!
Joame

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#4

Wie wir sterben

in Düsteres und Trübsinniges 04.02.2006 20:16
von Motte (gelöscht)
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@ Margot,

Ja genau, es geht um niemand anders als den Tod! Ich fand es ganz originell, ihn zur „Hauptperson“ zu machen, ohne ihn ein einziges mal zu erwähnen. Das Gedicht ist schon etwas älter und da ich vorhin dein „Vermächtnis der drei Tode“ entdeckte, dachte ich mir: könnt ich ja mal posten.
Hmm, der Stein, der nicht wachsen kann... Über die Stelle habe ich mir auch schon Gedanken gemacht und wollte einen „Tropfstein“ daraus machen... was nicht nur schön passen würde, weil es das Wachsen und den Stein zusammenbringt, sondern weil das Tropfen wie ein Zeitzähler wirken würde.. so wie die Laute in einer Tropfsteinhöhle. Aber ich kriege das metrisch nicht so ganz hin, werde mich nochmal drübersetzen..
Ja, und wieder die leidige Elision, am Ende kommt sie doch noch! Ich habe bestimmt 4 bis 5 weitere Elisionen, seit ich das Gedicht geschrieben habe, getilgt.. Dann soll mir das bei der letzten auch noch irgendwie gelingen.
An Alternativ-Strophen hatte ich schon gebastelt:

Kommt dann die Blütezeit des Lebens /Erreicht das Leben seine Blüte,
reift weiter er und nährt sich stet,
die Körper engen ihn vergebens. /und bis zuletzt währt keine Güte.
Er bricht sie, nimmt die Seele - geht. /Er bricht es, nimmt die Seele - geht.

Aber die “Güte” passt mir nicht so in den Kram, weil es eine zu direkte Charakterisierung des Todes ist. Der kommt zwar nicht grade als gnadenvoller Erlöser daher, aber als gnadenlos wollte ich ihn auch nicht bezeichnen. Mal sehen.
Über das “entstiegen” denke ich noch nach, finde es eigentlich nicht so schlimm, wenn man die Geburt etwas euphemisiert...
allerdings sagt das eine, die diese Prozedur noch nicht bewusst erlebt hat.

@ Joame,

danke für deinen Kommentar! Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich den feinen Unterschied bei der Verwendung von “schmälern” verstehe, denn eigentlich soll es schon heißen: das Warten verringern. Was du mir erklärst, verstehe ich zwar ungefähr, doch bin ich mir nicht ganz sicher, ob es so zutrifft. Ich muss mir das mal durch den Kopf gehen lassen, wenn der aufgeschlossener ist, als jetzt gerade..
Auf die notwendigen Änderungen in der letzten Strophe bin ich oben schon eingegangen - nun doppelt motiviert, noch daran zu feilen.

Ja, es gibt so viele verschiedene Arten, den Tod zu betrachten, dass es sicher schwierig ist, von “Wahrheit” zu sprechen... so, wie ich ihn hier bewerte. Aber hast insofern recht, dass die Unausweichlichkeit des Sterbens und die Sterblichkeit des Menschen harte Fakten sind... (ups, seltsamer Satz.)

Liebe Grüße euch beiden,
Motte


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#5

Wie wir sterben

in Düsteres und Trübsinniges 04.02.2006 20:55
von Ulli Nois | 554 Beiträge | 554 Punkte
Hi Motte,

jetzt kann ich direkt anknüpfen an unseren Dialog zu den Entgleisten, denn auch hier geht es ja offenbar um etwas sehr Ambivalentes. Der Titel "Wie wir sterben" klingt bedrohlich, ich besitze ein Buch mit genau diesem Titel, wo ein amerikanischer Arzt sehr detailliert verschiedene Todesprozesse schildert. Aber der "Tod", den du beschreibst, ist ganz anderer Natur. Meine erste Assoziation war Rudolf Steiner (bitte, das soll keine Beleidigung sein). Jedenfalls tritt der Tod vorsichtig tastend, sacht, ja fast zärtlich in das Seelenhaus, er wächst mit dem Leben, ist also weniger der brutal zuschlagende Gegenspieler als eher die Rückseite des Lebens. Später wird er dann allerdings mehr zum schmarotzenden Kuckuck, der sich auf Kosten des Lebens dicke macht und am Ende die Seele "bricht" und geht. So scheint der Tod doch noch seinem Klischee gerecht zu werden, ein bloßer Killer zu sein, der nur auf den richtigen Moment wartet. Das fände ich schade, fast langweilig, nach dem originellen Beginn. Aber vielleicht verbirgt sich hinter dem Seelenbrecher ein Art spiritueller Herzensbrecher, der die Seele auf eine Reise mitnimmt?

Liebe Grüße, Ulli

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#6

Wie wir sterben

in Düsteres und Trübsinniges 04.02.2006 22:35
von Motte (gelöscht)
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Hallo Ulli,

die Idee mit dem „spirituellen Herzensbrecher“ hat in der Tat etwas reizvolles und bringt eine ganz andere Facette der unerklärlichen Natur des Todes zum aufleuchten. Es vermenschlicht ihn - zur Abwechlung mal etwas positiver. Oder mehr noch, denn als wäre die Freude an der Qual nichts Menschliches; es gibt ihm eine nachvollziehbare, wenn nicht sogar liebenswerte Schwäche.
Auch wenn das wohl nicht so ganz auf dieses Gedicht zutrifft, jedenfalls nicht auf erklärte Weise und man es allemal hineinlesen kann. Aber auf die Absichten des Todes gehe ich ja auch nicht so stark ein, sondern vom Standpunkt eines Lebenden aus, der zwar ahnt, das der Tod in ihm wohnt und ihm auch immer zur Seite ist, seinen „Charakter“ und seine Beweggründe aber nicht einzuschätzen weiß.
Und welches Gefallen er an der Peinigung der Lebenden findet, ist nicht definitiv klar, es könnte durchaus eine lustvolle Freude sein. Und worauf er wartet.. allein auf den Moment des Tötens? Vielleicht steckt eine größere Sehnsucht dahinter.
Eine ganz wichtige Stelle war mir die, wo es heißt, dass er ja an dem Dasein der Lebenden Teil hat, dass er - wie auch immer - wahrnimmt, was sie wahrnehmen. Es ist ja eigentlich der Mensch, der ihn einen Sekundenzähler nennt.
Tja, wo will er mit einer Seele hin, die er nach einer ganzen Lebenszeit, so genau kennt...
Oh, ich würde jetzt gern sinnlos (über Selbstgeschriebenes??? ) spekulierend weiterschreiben. Vielleicht muss da mal jemand etwas über das „Geistesleben des Todes“ schreiben oder über eine andere, freundlichere Sicht der Menschen auf den Tod, die nichts mit religiöser Erlösungshoffnung oder lebensverneinender Todessehnsucht zu tun hat..

Liebe Grüße,
Motte

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