#1

Zwischen Abfahrt und Ankunft

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 03.01.2006 23:38
von Roderich (gelöscht)
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Zwischen Abfahrt und Ankunft


Der Zug fährt ein. Von weitem sieht man die Lichter, die ihre Schneisen in den winterlichen Bahnhof schneiden. Schneeflocken reflektieren das Licht, es glitzert und leuchtet überall. Es ist kalt, viel zu kalt um spät am Abend noch am Bahnhof zu stehen. Die Kälte dringt durch meine Handschuhe und lässt mich zittern. Ich klammere mich an die beiden Lichtkegel, die nun immer größer werden. Was der Zug verspricht: Wärme. Ruhe. Mein Abteil: Eine Höhle, in die ich mich kuscheln kann. Winterschlaf.

Tatsächlich ist noch niemand in meinem Abteil, als ich einsteige. Ich nehme mir einen der beiden Fensterplätze, den in Fahrtrichtung. Eigentlich spielt es keine Rolle, denn draußen ist es dunkel und so macht es keinen Unterschied, ob man nun in der Fahrtrichtung oder dagegen sitzt. Dennoch nehme ich instinktiv diesen Platz ein. Es fühlt sich richtig an.
Ich verstaue mein Gepäck oben auf der Halterung, lege meinen Rucksack, in dem sich meine CDs, mein CD-Player und mein Buch (die drei essentiellen Utensilien des Reisens) befinden, auf den mittleren Platz und atme durch. Neun Stunden. Genug Zeit, um sich zu entspannen. Vielleicht auch ein wenig schlafen, obwohl mir das im Zug nur selten gelingt. Auch nicht im Flugzeug oder im Auto. Stattdessen lese ich für gewöhnlich oder höre Musik. Alles, nur nicht schlafen. Es scheint, als ob sich mein Körper weigern würde, einzuschlafen, wenn er unterwegs ist. Auch, wenn ich eigentlich müde bin. Zuletzt habe ich auf Reisen geschlafen, als ich nach Dänemark geflogen bin. Mit der ersten Maschine, um neun Uhr morgens. Davor hatte ich eine vierstündige Busfahrt durch die Nacht hinter mir. Und eine dreistündige Wartezeit am Flughafen. Da musste ich einfach schlafen.

Gerade, als ich meine Füße hochlegen möchte, wird die Tür aufgeschoben und ein Mädchen steigt ein. Vielleicht Anfang, Mitte Zwanzig. So wie ich. Ich kann mich natürlich auch täuschen. Aber sie ist definitiv nicht jünger als zwanzig und garantiert nicht älter als sechsundzwanzig. Keine besonders genaue Schätzung, ich weiß. Jedenfalls ist sie ein wirklicher Hingucker: Etwa eins siebzig groß, tolle Figur – nicht zu dünn, aber auch, soweit ich das unter ihrem grauen Wollpullover erkennen kann, nirgendwo zuviel. Hellbraune Haare, mit natürlichen blonden Strähnen versehen, gewellt und schulterlang. Ein schmales, aber nicht dünnes Gesicht. Haselnussbraune Augen. Ein voller, sinnlicher Mund. Und sie lächelt, als sie das Abteil betritt. „Ist hier noch frei?“ Ich blicke mich kurz um: Einmal ich, dann mein Rucksack, vier Plätze unbelegt. „Natürlich“, sage ich, und, um ihre letzten Zweifel zu beseitigen, ziehe ich den Rucksack, dessen Tragriemen ein wenig auf den Nachbarsplatz lugt, ein wenig näher an mich heran. „Ist nicht viel los“, meint sie, „sind wohl alle im Liegewagen. Aber das gebe ich mir nicht noch einmal. Vor einem Monat bin ich nach Madrid gefahren, im Liegewagen. Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können, weil einer fürchterlich geschnarcht hat. Und außerdem war es eng und stickig. Ich bekomme dort keine Luft. Das ist nichts für mich.“ Ich stimme ihr zu, sage, dass Liegewagen ungemütlich sind. Dabei war ich noch nie in einem. Aber sie erwartet von mir, dass ich ihre Ansichten teile. Das erkenne ich an ihrem fragenden Blick zu mir, als sie ihren Unmut über Liegewagen ausspricht.
Dann fragt sie mich, wohin ich fahre. „Rom“, sage ich, „einen Freund besuchen.“ „So wie ich!“, entgegnet sie erfreut. Für sie scheint es etwas zu bedeuten, dass wir beide nach Rom fahren um einen Freund zu besuchen. Und sie beginnt, von ihrem alten Schulfreund zu erzählen, der nach der Schule eine Stelle bei der Repräsentanz einer österreichischen Firma in Italien angenommen hat. „Dem geht es gut“, wiederholt sie mehrere Male, „lebt in einer der schönsten Städte der Welt“. Dazu kann ich nichts sagen, denn ich war noch nie in Rom. Auch spreche ich nicht über meinen Freund in Rom, denn tatsächlich ist dieser Freund eine Freundin. Eine gute Freundin, mehr nicht. Warum ich das nicht von Anfang an gesagt habe, weiß ich selbst nicht. Aber ich fühle, dass es so richtig ist. Die Unbekannte, die mir hier im Zug gegenüber sitzt und mir lebhaft von Leuten erzählt, die ich nicht kenne und die ich auch nie kennen lernen werde, versucht, so etwas wie eine Beziehung für die nächsten Stunden aufzubauen. Der Schatten einer fremden weiblichen Gestalt würde ihr die Freude an dieser Aufbauarbeit trüben.
Plötzlich stockt sie mitten in ihrer Erzählung und lacht. „Wir haben uns ja noch gar nicht vorgestellt.“ Ich lächle angesichts unserer Vergesslichkeit – dabei warte ich schon seit sie begonnen hat, von Liegewagen zu sprechen, auf eine Gelegenheit, meinen Namen zu nennen – und sage: „Stimmt. Jetzt plaudern wir schon so gemütlich und wissen nicht einmal, mit wem wir es eigentlich zu tun haben. Gestatten, Alexander,“ – ich betone das ‚Gestatten’ übertrieben förmlich, deute sogar eine Verbeugung an, was sie witzig findet (ihre Augen lächeln) – „und mit wem habe ich das außerordentliche Vergnügen?“ sage ich mit gestelztem Englischer-Butler-Akzent. Jetzt lacht sie laut auf (ich mag ihr Lachen) und mitten ins Lachen hinein sagt sie: „Judith.“
Bis jetzt war ich ein wenig steif, kein wirklich lebhafter Gesprächspartner, aber diese kleine Posse scheint mich noch einmal gerettet zu haben. Ich kann meine Mitmenschen zum Lachen bringen. Nicht, weil ich ein lustiger, humorvoller Geselle bin, sondern weil ich mich selbst nicht ernst nehme. Ich mache gerne Witze über mich selbst, stelle mich als unfähig oder als tollpatschig dar, übertreibe oder reiße kleine Possen, wie gerade eben. Die anderen Menschen fühlen, dass sie mit mir lachen können, dass es nicht beleidigend ist, wenn sie über mich lachen. Das vermittelt ihnen ein Gefühl von Sicherheit und Vertrautheit. Sie erwarten von mir nichts Böses. Wie kann ein Mensch, der sich selbst zum Gaudium der anderen durch den Kakao zieht, auch etwas Schlechtes im Sinn haben? Ich bin ungefährlich und so lachen die Menschen in meiner Gegenwart auch mehr. Ganz einfach. Und das habe ich wieder einmal geschafft. Judith hat gesehen, dass ich harmlos bin und sie ist lockerer und freier. Gut, das war sie vorhin auch schon (wer hat zuletzt schon so intensiv etwas von sich erzählt, ohne mich zu kennen?), aber nun hat sie von meiner Seite auch noch die Gewissheit, dass sie nichts fürchten muss. Und so lacht sie. Erzählt nicht nur, sondern hört plötzlich auch zu. Darin erkenne ich einen bedeutsamen Unterschied. Der Erzählende hat die Kontrolle über das Gespräch. Der Zuhörer ist passiv und dem Erzählenden fast schutzlos ausgeliefert. Nun übergibt Judith durch ihr Lachen die Rolle des Erzählenden an mich weiter. Heißt: Sie vertraut mir. Nach fünf Minuten. So geht es mir immer.

Inzwischen sind wir losgefahren. Ich blicke aus dem Fenster und sehe die Lichter der Stadt vorüber gleiten. Ich mag die Bewegung. Das kaum spürbare Schaukeln des Zuges, die verschwimmenden Häuser, in denen sich die unterschiedlichsten Dinge abspielen. Es wird gegessen, geschlafen, gestritten, geliebt in diesen Häusern, aber ich bin zu schnell daran vorbei, um mir darüber Gedanken machen zu können. Ein Haus. Noch eines. Immer das gleiche Bild. Überall Menschen bei verschiedenen Tätigkeiten, in verschiedenen Gemütslagen. Doch ehe man sich deren Situationen widmen kann, kommt schon das nächste Haus. Wenn man in Bewegung ist, sehen alle Häuser gleich aus. Sie werden zu einer konturlosen Masse, abstrakt. Die Menschen, die darin wohnen, stehen nicht mehr im Vordergrund. Sie verschmelzen mit dem Haus und die Häuser verschmelzen zu einer gesichtslosen Stadt. Selbst, wenn ich am Haus eines geliebten Menschen vorbeifahren würde, würde ich dennoch nichts empfinden. Ich würde das Haus nicht einmal erkennen. Es ist nur ein kleines Teilchen in dieser Masse.

Bei Reisen gibt es nur zwei Dinge: Den Abfahrtspunkt und den Ankunftsort. Dazwischen ist nichts. Dieses Nichts versuche ich nun, durch ein Gespräch mit Judith zu füllen. Auch aus nichts kann etwas werden. Und je länger ich mich mit ihr unterhalte, desto mehr wird das Abteil, in dem wir sitzen, von diesem Etwas erfüllt. Das Reisen an sich erhält auf einmal eine Bedeutung. Wenn ich ein Buch lese oder Musik höre, ist das anders. Wenn mich dann jemand fragt, wie die Reise gewesen sei, antworte ich immer: „Angenehm.“ Weil ich eigentlich nicht weiß, wie sie war. Ich weiß nur noch, dass ich gelesen habe, dass ich Musik gehört habe. Aber bin ich tatsächlich unterwegs gewesen? Da war doch nichts.
Doch hier, nach nur zehn Minuten, ist etwas. Allein durch Judiths Lachen, als ich von den Fettnäpfchen erzähle, in die der Hund meiner Eltern zu tappen pflegt. Er ist tollpatschig. Einmal ist er auf seinen eigenen Schwanz gestiegen, hat gejault und ist blind losgerast – mitten in eine geschlossene Türe hinein. Das gefällt Judith. Meine Erzählung und ihr Lachen dazu füllt dieses Nichts zwischen Abfahrt und Ankunft einer Reise mit etwas. Auch, wenn ich nicht beschreiben kann, worin dieses Etwas liegt. Noch nicht.

Nach einer halben Stunde weiß ich mehr über sie. Und sie über mich. Sie weiß, dass ich einen jüngeren Bruder habe, der die HTL besucht. Fünfte Klasse, die letzte. Dann hat er seine Matura. Was er danach machen möchte, weiß er selbst nicht. Ich erzähle gerne von ihm. Seine Planlosigkeit bezüglich seiner eigenen Zukunft ist immer wieder eine gute Geschichte. So etwas hören die Leute gerne. Vielleicht haben sie dann das Gefühl, das eigene Leben besser unter Kontrolle zu haben.
Ich habe ihr auch mehr von dem Hund meiner Eltern erzählt. Irgendwie komme ich immer wieder auf ihn zurück. Immer, wenn es um Small Talk geht (Hunde eignen sich als Thema hervorragend dafür), aber auch in ernsten Gesprächen. Ich war ein Kind, als wir ihn bekommen habe und bin gemeinsam mit ihm aufgewachsen. Er ein wenig schneller, ich dafür sorgfältiger. Nun ist er alt und ich immer noch jung. Während seine letzten Tage angebrochen sind, stehe ich vor dem Aufbruch ins Leben. Am Ende meines Studiums, der Sprung in die Ungewissheit. Auch ihr gehe es diesbezüglich ähnlich, wie sie mir versichert. Sie hat Archäologie studiert, oder besser: Sie studiert Archäologie. Noch zwei Semester und das war es dann. Was sie danach anfangen möchte, weiß sie nicht. Sie wirkt aber keineswegs betrübt wegen dieser Ungewissheit. Zwei Semester sind noch eine lange Zeit. Viel länger als die drei Monate, die mein Bruder noch vor sich hat, ehe er eine weitere grundlegende Entscheidung in seinem Leben treffen muss. „Aber eigentlich stehen wir täglich vor lebenswichtigen Entscheidungen“, sagt sie. „Meistens entscheiden wir über Dinge, die wir nicht tun werden. Auch das Unterlassen von Handlungen ist mit der Entscheidung für das Unterlassens verbunden. Nur entscheiden wir hier unbewusst.“ Sie philosophiert. Das gefällt mir. Überhaupt ist ihre Wortwahl beeindruckend, sie scheint einen messerscharfen Verstand zu haben. Meinen eigenen, wie immer wirren und teils zusammenhangslosen Sätzen folgt sie mühelos. Und es gibt Momente, da nickt sie zu etwas von mir Gesagten, ehe ich es vollständig ausgesprochen habe.
Sie nickt viel, wenn ich rede. Aber sie nickt überzeugend. Ich denke nicht, dass sie bloß aus Höflichkeit nickt. Damit habe ich Erfahrung, diese Art von Nicken kenne ich gut. Meistens wird dabei der Kopf dreimal oder noch öfter schnell auf und ab bewegt, die Augen blicken in diesem Moment irgendwo anders hin. Bei ihr ist es anders. Sie nickt nur jeweils ein einziges Mal mit dem Kopf, die Augen fest auf mich gerichtet. In diesen Augen sehe ich zusätzliche Bestätigung. Irgendwann, zwischen der Darlegung meiner Familienverhältnisse und dem Werdegang meines Hundes, hat sie gesagt: „Wir scheinen auf einer Wellenlinie zu liegen.“ Da war ich es, der genickt hat.

Was ich von ihr weiß: Sie ist ein Einzelkind, aber ans Teilen gewöhnt. „Wir hatten immer viele Kinder zu Besuch, Familienmitglieder, Freunde aus der Schule. Mir ist es nie in den Sinn gekommen, etwas nur für mich alleine zu beanspruchen. Das habe ich einfach nicht gekannt“ hat sie erklärt. Auch weiß ich, dass sie vierundzwanzig Jahre alt ist. Nur ein paar Monate älter als ich. Sie hat es von sich aus erzählt, als wir über das Studieren gesprochen haben: „Mit vierundzwanzig Jahren kann man einmal daran denken, mit dem Studium zu einem Ende zu kommen.“ „Dann bist du fertig, wenn du fünfundzwanzig bist?“ „Ich werde sogar noch mit vierundzwanzig fertig sein, ich hatte in diesem Monat meinen Geburtstag.“ „Ja, das geht sich dann aus. Mit den Ferien und so.“
Sie ist viel eloquenter als ich. Mein Problem ist, dass ich schneller spreche als ich denke. Und so verhaspele ich mich, gehe zwischen meinen eigenen Gedanken verloren. Sie spricht zwar nicht langsamer als ich, aber sie kann schneller denken. Zumindest kommt mir das so vor.
Was ich noch weiß nach dieser ersten halben Stunde: Sie hat angefangen Archäologie zu studieren, weil sie früher die Indiana Jones Filme geliebt hat. Und davon ist etwas hängen geblieben, eine Neugier auf unentdeckte Spuren vergangener Zeiten. „Die Archäologie kann sehr frustrierend sein. Man müht sich über Wochen ab, nur um am Ende festzustellen, dass der Stein, den man vor sich liegen hat, doch nur ein Stein ist. Aber wenn man dann wirklich etwas gefunden hat, wenn man weiß, dass dieses unbekannte Ding vor sich tatsächlich ein Überbleibsel aus längst versunkenen Tagen ist, dann ist die Freude gewaltig ... man kann das Gefühl eigentlich gar nicht beschreiben ... so ... erhaben.“ Und dabei leuchten ihre Augen, ihr Blick hat etwas Verträumtes, Schwebendes. Selten habe ich einen Menschen mit einer derartigen Leidenschaft von Dingen, mit denen man sich den ganzen Tag beschäftigt, sprechen sehen. Ich könnte ihr stundenlang zuhören. Vielleicht kommt es tatsächlich dazu, die Fahrt ist lang.

Sie erzählt mir aus ihrem Leben und ich höre zu. Nie weichen meine Gedanken ab, immer sind sie bei ihr. Sie schafft es, ihre Welt plastisch vor mir aufzubauen, allein durch ihre Worte. Ich kann durch diese Welt hindurchgehen. Ich sehe ihre Eltern unter dem Weihnachtsbaum sitzen, kann die bunten Kugeln, die am Baum hängen, anfassen, so glatt, so glänzend. Ich spüre den Fahrtwind im Gesicht, als sie von dem Seifenkistenrennen mit den Nachbarskindern erzählen und fühle ihren Schmerz, als der Unterarmknochen bei dem Unfall in der Kurve bricht und zersplittert. Ihre Welt verschmilzt mit meiner eigenen und ihre Erinnerungen werden zu meinen. Mittendrin fragt sie: „Wie spät ist es?“ Ich blicke auf die Uhr: „Schon drei Uhr. Nur noch vier Stunden.“

Und auch ich erzähle. Mehr und mehr, immer intimere Details. Meine Sorgen und Ängste, alles, worüber ich mit meinen besten Freunden nicht reden würde.
Woran liegt es, dass wir uns innerhalb kürzester Zeit derart vertraut sind? Woran liegt es, dass ich bei allem, was ich ihr erzähle, das Gefühl habe, dass sie mich versteht?

Wir durchfahren Stadt für Stadt, nehmen kaum noch die Namen dieser Städte, die auf den Bahnhofsschildern stehen, wahr. Zeit und Raum haben hier, in diesem Abteil, keine Bedeutung mehr. Wie immer, wenn ich auf Reisen bin, verschwimmt die Außenwelt zu dieser gesichtslosen Masse. Allerdings ist – im Gegensatz zu meinen anderen Zugreisen – das Abteil, in dem ich mich befinde, nicht bedeutungslos. Im Gegenteil, von Minute zu Minute mehr wird das Abteil zu einem Stück von mir selbst, wird zur Heimat. Die zerschlissenen Sitzpolster, das leicht milchige Fenster, der ein wenig stickige Geruch, den fremde Füße und nasse Kleidungsstücke hinterlassen haben, all das wird zu einem Teil von mir.
Und Judith.
Sie wird immer mehr zum Mittelpunkt dieser ganzen Reise. Es ist, als hätte ich diese Fahrt nur ihretwegen unternommen. Laura, meine Bekannte, die ich in wenigen Stunden mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange begrüßen werde? Ein flüchtiger Schleier, irgendwo im Hinterkopf. Nebel. Bedeutungslos. Doch Judith und ihr dezentes Parfum, ihr Lachen, ihre manchmal herausfordernd blitzenden, manchmal lachenden, manchmal teilnahmsvollen Augen. Sie ist überall in diesem Abteil und überall in meinen Gedanken.
Müdigkeit? Weder bei mir noch bei ihr. Es gibt keine Nacht in diesem Abteil. Es gibt keine Zeit. Die Zeiger auf unseren Uhren, die sich fortlaufend im Kreis bewegen? Eine vage Erinnerung an ein früheres Leben, vor dieser Fahrt. Die Zeiger drehen sich, aber sie bedeuten nichts. Wozu also müde sein?
Nur weiterreden, sie zum Lachen bringen. Oder dazu, dass sie ihren Kopf leicht neigt und sagt: „Das tut mir leid.“ Das ist fast noch besser als sie zum Lachen zu bringen. Ihr zeigen, dass auch ich schon Schicksalsschläge erleiden musste. Und mir dennoch meinen Humor bewahrt habe.
Auch sie hat schon einiges erlebt. Am schlimmsten war wohl der Tod ihrer Tante, an der sie sehr gehangen ist. Alkohol. Deshalb trinke sie fast nichts, sagt sie. Sie habe den Tod dieser Tante lange nicht überwunden, vor allem, weil er gewollt, selbst herbeigeführt war.
Nun liegt der Ball bei mir. „Das tut mir leid“, sage ich.

Reden. Lächeln. Manchmal lachen. All das geschieht automatisch, ohne unser Zutun. Stundenlang. Oder sind es schon Tage?
Wie man sich die Ewigkeit vorstellen kann? Man sitzt in einem Zug mit einem Menschen, den man vor einem Tag noch nicht gekannt hat und redet die ganze Nacht lang. Nie gehen die Themen aus, immer findet man etwas Neues, über das man reden kann. Und das völlig ungezwungen. Oft geschieht es in einem Gespräch, dass alles gesagt wurde, was man sagen kann. Vor allem, wenn man mit jemanden redet, den man nicht gut kennt. Man hat keine gemeinsamen Erlebnisse, an die man sich erinnern kann. Keine gemeinsamen Bekannten, deren Leben man aufrollen kann. Dann kann man nur noch schweigen, sich zulächeln, Löcher in die Luft starren. Die mit der Zeit unerträgliche Stille mit einem Räuspern übertünchen, ehe man etwas völlig Belangloses von sich gibt, über das Wetter oder über die Luft im Raum.
Mit Judith rede ich weder über das Wetter noch über die Raumluft. Wir haben einfach andere Dinge, über die wir reden können. Und egal, wie lange wir auch schon reden, es gibt immer neue Themen, die an das bereits Gesagte nahtlos anknüpfen.
Ich habe bis heute nicht gewusst, dass ich so viel zu sagen habe.

Die Uhr zeigt an, dass es langsam Morgen wird. Ich wende meinen Blick kurz von Judith ab und sehe nur die Nacht. Tiefe, schwarze Nacht. Es ist Winter, die Tage sind kürzer, die Nächte länger, klar. Und trotzdem hofft man auf ein Zeichen, dass der Morgen graut, wenn man aus dem Fenster blickt. Nicht nur, wenn man, so wie Judith und ich, die ganze Nacht über wach ist, immer wieder mal aus dem Fenster sieht, jede Minute der Nacht auskostet. Sondern auch, wenn man zufällig im Winter in den frühen Morgenstunden aus dem Schlaf erwacht und die Dunkelheit beim Fenster hineinkriechen sieht. Man ist enttäuscht, wenn man keinen einzigen Vogel singen hört, wenn sich kein rötlicher Streifen am Horizont zeigt. Man weiß, dass man im Sommer das Erwachen der Stadt zu dieser Zeit fühlen könnte. So tastet man sich hinaus in die Nacht und fühlt gar nichts außer Kälte. Dann legt man sich wieder schlafen und hofft, erst dann wieder aufzuwachen, wenn es heller geworden ist. Wenn dann der Wecker läutet, weil man früh raus muss, kommt man lange nicht in Schwung. Man lässt sich träge durch die Dunkelheit treiben. Meistens hilft hier nicht einmal Kaffee im Übermaß.
Allein Judith ist es zu verdanken, dass ich diese Enttäuschung dieses Mal nicht so stark erlebe wie üblich, wenn ich in den frühen Morgenstunden im Winter in die Dunkelheit hinaussehe. Sie lenkt mich ab. Stets bin ich gedanklich bei ihr. Ich habe keine Zeit für Sentimentalitäten.

Sie streicht sich eine Strähne aus der Stirn. Eine beliebige Geste, schon tausendmal gesehen. Auch von ihr in dieser Nacht ein paar Mal. Und doch bin ich dieses Mal wie elektrisiert. Ich habe die paar Mal davor einfach nicht richtig hingesehen. Habe nicht gesehen, dass bei dieser Bewegung auch etwas in ihren Augen passiert.
Immer die Augen.
Immer wieder ihre haselnussbraunen Augen.
Sie begleiten jede ihrer Bewegungen, verstärken diese auf unnachahmliche Art und Weise. Als sie sich die Haarsträhne aus ihrer Stirn streicht, mit einer zerstreuten Bewegung ihrer Hand, tut sie das auch mit ihren Augen.
Oder werde ich verrückt?

Nur noch eine halbe Stunde. Keine Verspätung.
Ich brauche mehr Zeit.

Wenn jetzt der Zug entgleisen würde:
Ich nehme die verwirrte Judith an der Hand, führe sie zu einem abseits gelegenen Baumstumpf, wo sie sich setzt. Dann lege ich ihr meine Jacke über ihre Schultern, denn es ist kühl. Sie versteht nicht, wo sie ist, was sie hier tut. Sie steht unter Schock. Und leise flüstere ich ihren Namen, sage ihr, dass sie sich nicht zu fürchten braucht, denn ich bin für sie da. Sie versteht meine Worte nicht, aber sie fühlt, was ich sage. Sie zittert ein wenig und dankbar schmiegt sie sich an mich. So verharren wir, bis die Rettung kommt.
Doch wie endet das?

Die Häuser von Rom. Auch nur Teil dieser Masse, auch wenn die Masse hier ein wenig anders aussieht als zu Hause. Schäbiger, südländischer, gelber. Aber nicht fröhlicher.
Und nun wird es auch hell. Langsam. Das ist das Zeichen. Die Fahrt ist so gut wie vorbei.
Ich könnte heulen.
Stattdessen lächle ich Judith an und sage: „Sieht so aus, als ob wir da wären. Endlich. War eine lange Fahrt. Ich bin schon ganz verkrampft vom Sitzen.“ Sie lächelt ebenfalls und meint: „Ja, jetzt aufstehen tut gut.“ Aber in ihren Augen sehe ich, dass sie noch länger sitzen bleiben würde, wenn sie könnte. So wie ich.

Abschied.
Wir reichen uns die Hände. „Es hat mich sehr gefreut“, sagt Judith. „Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine angenehmere Reise gehabt zu haben.“ „Ja“, antworte ich, „es war wirklich sehr schön.“
Dann stehen wir am Bahnsteig, sehen uns an. Wir sagen nichts. Als das Schweigen unerträglich wird, lächelt sie noch einmal. „Ich muss los. Hannes erwartet mich draußen, beim Busstand.“ Ich nicke, sage nichts.
Und sie geht.

Warum hat sie nicht gefragt, ob wir uns einmal treffen könnten? In Rom, auf einen Kaffee. Wenn wir schon beide hier sind, beide Zeit haben. Sie hat nichts dergleichen gesagt. Sie ist einfach gegangen.
Viel zu spät begreife ich, dass das meine Aufgabe gewesen wäre. Und es wäre so einfach gewesen. „Hast du vielleicht die nächsten Tage mal Zeit auf einen Kaffee? Ich meine, wenn du nach dieser Fahrt nicht schon genug von mir hast.“, höre ich mich in meinen Gedanken sagen. Und sie antwortet: „Ja, ich würde dich gerne auf einen Kaffee treffen.“ Dann schreibt sie mir ihre Nummer auf. „Das ist die Nummer von Hannes. Dort bin ich. Melde dich einfach mal die nächsten Tage. Dann treffen wir uns in der Stadt. Ich freue mich schon darauf.“
Sie hat es von mir erwartet. Das habe ich in ihren Augen gesehen, eigentlich die ganze Fahrt über.
Ich habe es verbockt.
Wieder einmal.
„Unverbesserlicher Idiot“, sage ich laut. Ich nehme meine Sachen und gehe Richtung Ausgang. Zeit, wieder an Laura zu denken. Geschenk für sie? Ist noch da und zudem heil. Adresse? Steht auf dem Zettel.

Während der Taxifahrt blicke ich aus dem Fenster. Wieder diese vorbeischwimmende Masse. Nur sehe ich überall hellbraune, mit natürlich blonden Strähnchen versehene, gewellte Haare. Das Gesicht passt jedoch nie.

Das undefinierbare Etwas auf dieser Reise zwischen Abfahrt und Ankunft, wo normalerweise nichts ist? Nun weiß ich es:

Das war die Möglichkeit einer Liebe.

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#2

Zwischen Abfahrt und Ankunft

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 12.01.2006 17:29
von Motte (gelöscht)
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Hallo Roderich,
Ich las deine Geschichte schon gestern Abend, wollte mir aber ein bißchen Zeit lassen, da ich hoffte, genauer auf einzelne Textstellen eingehen zu können. Das lasse ich jetzt aber trotzdem, weil es doch das Gesamte und der Inhalt ist, was bei mir hängenblieb.
Von den anderen Texten, die ich auch (unkommentierend) gelesen habe, gefällt mir dieser besonders gut, weil du die Begegnung der beiden Personen so nachvollziehbar beschreibst - und weil ich wahrscheinlich auf Innensichten verstehe.
Als jemand der gerne und auch relativ häufig Zug fährt, habe ich mich sofort gut in die Athmosphäre versetzten können. Und man kann sich wunderbar in die Situation der beiden einfühlen: erste Begegnung, erster Wortwechsel, Aufbau von Gespräch und einer Beziehung. Das hat mich glatt ein bißchen an den Film “Before sunrise” erinnert, vor allem, als der Austausch intensiv wird.. ein nicht enden wollendes Gespräch, ein Fluss, der zwischen beiden entsteht! Ich erinnere mich noch so genau daran, wie sehr mich dieser Film überrollt hat, als ich ihn das erste mal gesehen habe, als hätte man selbst die ganze Nacht mit jemandem durchgeplaudert. Vielleicht hättest du diese Intensität und diese Empfindung noch ein wenig genauer beschreiben können... um diesen Effekt beim Leser auszulösen. Ich meine, das tust du ja, aber an manchen Stellen eher von der Erzählebene aus, Meta-mäßig meine ich... anstatt vom momentanen Zustand des Ichs.
Sehr gut ist, dass du im Präsens schreibst! Und was mir auch gefiel, waren die subtilen Beobachtungen, die der Erzähler macht und wertet.
Am Ende ist das schmerzvolle Gefühl des Erzählers nach diesem seltsamen, unwiderruflichen Abschied richtig gut übergesprungen. Mir gefällt nur nicht so sehr, dass er dann in Wehleidigkeit verfällt und der letzte Satz. Das Unwiderbringlichkeit bleibt wirkt immens. Aber vielleicht solltest du eher beschreiben, wie diese Begegnung nachgewirkt hat..

Ok, das zu meiner Leser-Perspektive! Ein sehr schöner Text und weiter so!

Liebe Grüße
Motte

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#3

Zwischen Abfahrt und Ankunft

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 12.01.2006 19:58
von Krabü2 (gelöscht)
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Hallo,
ich hab Deinen Text gern gelesen. Auch ich konnte mich gut einfinden. An manchen Stellen ist er kürzbar nach meinem Empfinden, an anderen hätte auch ich mir etwas mehr Präsenz gewünscht - wie mein Vor'kritiker'. Dein Stil gefällt mir dennoch gut, Du malst z.T. in feinen Nuancen, was mich anspricht. Ich freue mich auf mehr von Dir.
Grüße von der
Kratzbürste

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#4

Zwischen Abfahrt und Ankunft

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 14.01.2006 19:47
von Roderich (gelöscht)
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Hallo Motte, hallo Kratzbürste,

ich danke euch beiden sehr für euer Lob und eure Anregungen.

@ Motte: Mit "Before Sunrise" hast du wahrscheinlich Recht. Diese Kurzgeschichte ist - unbewusst - eine Art Hommage an den Film geworden, wie ich im Nachhinein feststelle. Auch mir hat der Film gut gefallen. Ich denke aber, dass ich derartige Situationen an sich mag und mir deshalb der Film gefallen habe und weniger, dass ich diese Geschichte geschrieben habe, weil mir der Film so gut gefallen hat. (Mensch, bin ich heute wieder mal kompliziert ...)

Zu deiner Anregung, die Nachwirkung der Begegnung zu beschreiben: Finde ich prinzipiell eine gute Idee, nur befürchte ich, hier dann etwas zu sehr zu schwafeln. Für mich ist die Sache relativ rund geworden - quasi vom Einstieg bis (mehr oder weniger) zum Ausstieg aus dem Zug. Wenn ich dann noch einiges nachschieben würde, hätte ich das Gefühl, zu sehr um die Sache herumzuschreiben. Mir ging es um die Begegnung der beiden Menschen und weniger um die Konsequenzen. Aber danke dennoch für die Anregung.

@ Kratzbürste: Dass hier ein paar Stellen kürzbar sind, ist mir auch bewusst. Ab und zu kommt einfach zu sehr meine Vorliebe fürs Schwafeln durch. Ich hoffe aber doch, dass du dich nicht gelangweilt hast - auch, wenn manche Stellen vielleicht nicht unbedingt sein mussten. Nur, selbst kann man sich nur sehr, sehr schwer von Textpassagen trennen, sie sind doch irgendwie wie eigene Kinder. Und für den Autor hat jede Textstelle ihre Berechtigung, weil er sich beim Schreiben etwas dabei gedacht hat, etwas damit transportieren wollte.

Es freut mich aber sehr, dass du empfindest, ich male in feinen Nuancen. Das ist ein sehr schönes Kompliment. Danke!

Viele Grüße euch beiden

Thomas

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#5

Zwischen Abfahrt und Ankunft

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 15.01.2006 00:30
von Motte (gelöscht)
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Hallo Rod,
Ja, ich kann verstehen, dass du den Protagonisten keine Konsequenz aus der Begegnung ziehen lassen möchtest. Aber dieser letzte Satz: “Das war die Möglichkeit einer Liebe” ist ja so eine Art Fazit, der irgendwie alles, was sich in den 9 Stunden Zugfahrt zwischen den beiden Figuren ereignet hat, zusammenschmilzt und irgendwie einen Haken dahinter setzt. Diese Art von Pointe hat der Text nicht nötig! Ich meine, er braucht eine solche Pointe nicht, da der Text stark genug ist, um das, was passiert rüberzubringen und eben für sich weiterzuwirken. Dieser Satz wirkt so, als würde der Ich-Erzähler alles abzuschließen versuchen nach dem Motto: Deckel drauf. Vielleicht könnte man das irgendwie abmildern, z.B. an der Stelle, wo er denkt: “Das Gesicht passt jedoch nie.“ Und dann „Aber ich wusste, dass ich es immer wieder erwarten würde.“ Oder so ähnlich.

Liebe Grüße zu später Stunde
Motte


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#6

Zwischen Abfahrt und Ankunft

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 15.01.2006 11:11
von Nonverbal • Mitglied | 407 Beiträge | 407 Punkte
Hallo Rod,

Als ich sah das die Geschichte recht lang ist habe ich erstmal gestöhnt, aber nach dem ersten Abschnitt konnte ich nicht anders und musste weiter lesen. ich konnte mich gut hinein fühlen in den ich-erzähler. schade jedoch das du zum ende nochmal ein fazit gezogen hast, so hätte man seine eigenen gedanken spielen lassen können , das ist schade.wenn es mit dem satz endete " das gesicht passte jedoch nie!" dann wäre das wunderbar gewesen...

Liebe Grüße
Franzi

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#7

Zwischen Abfahrt und Ankunft

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 15.01.2006 19:28
von Roderich (gelöscht)
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Hallo Franzi,

es freut mich sehr, dass du nach erstmaligem Stöhnen dann doch in die Geschichte reingefunden hast und dass sie dir dann auch noch gefallen konnte. Vielen Dank dafür!

Und euch beiden, Motte und Franzi, auch danke für die Anregung bezüglich des Endes. Aber ich denke, ich werde es so lassen. Ich hänge an der Geschichte so, wie sie ist. Ihr könnt euch aber gerne den Schlusssatz wegdenken, damit habe ich kein Problem.

Viele Grüße euch beiden

Thomas

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