#1

Der Prinz

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 14.01.2006 14:09
von Motte (gelöscht)
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Ich sehe Etienne überall. Wenn ich durch die Stadt gehe, begegne ich ihm mehrere male. Das liegt allerdings nicht daran, dass er mich besonders beschäftigt oder ich sogar in ihn verliebt bin oder weil ich mir ständig wünschen würde, ihn zu sehen. Etienne sieht einfach aus wie jeder Junge. Er sieht allgemein aus. Vor allem sein Hinterkopf. Wenn mir ein Junge mit kurzgeschnittenen Haaren den Rücken zuwendet und einige Meter von mir entfernt steht, dann ist es schon Etienne. Er ist von mittelgroßer Statur und er hat mittelbraunes Haar. Er ist die Mitte oder das Mittelding von allem. Wenn man einen hübschen Jungen malen wollte, könnte man ohne Probleme Etienne malen, er böte sich hervorragend dafür an. Man würde das Bild ansehen, ohne große Begeisterung lächeln und nicken. Man könnte auch die Schultern zucken ohne großartig enttäuscht zu sein. Etienne ist hübsch. Gerade so, dass ein Mädchen mit wenig konreten Vorstellungen ihn zum Helden eines Tagtraums machen kann.
Ich gebe zu, dass ich das einmal ausprobiert habe, aber es hat nicht funktioniert, denn sobald Etienne im Traum den Mund aufmachte, war die schöne Illusion zerstört. Ich habe mich hin und wieder mit ihm unterhalten, wenn wir uns tatsächlich über den Weg liefen und wusste deshalb, wie er spricht. Etienne ist sehr korrekt und er ist überzeugt davon. Er entschuldigt sich ständig für seine Fehler. Das macht ihn leider etwas selbstverliebt, weil er so furchtbar stolz darauf ist. Aber er weiß nicht, dass er von diesem Stolz lebt und seine Entschuldigungsstrategie verbirgt ihm, was er selber nicht von sich weiß. Er ist strikt und deshalb ein bißchen borniert. Dennoch kann ich nicht sagen, ob sich das für immer so wiederholen wird, denn Etienne will lernen und Erfahrungen machen, um sie dann zu bewerten. Aber ich habe gesehen, dass er einige Erfahrungen einfach so an sich angepasst hat und sich nur immer wieder selbst bestätigt. Die Frage ist, ob man das nun beruhigend oder bedrohlich finden soll. Er ist so unerschütterlich, so gleichbleibend, so ewig. Doch wird er immer so standhalten und nicht irgendwann plötzlich und dann ganz auf einmal kaputt gehen?
Ich gebe zu, dass er es mir ein bißchen angetan hatte. Er ist der perfekte Schwarm für jemanden, der keine besonderen Vorlieben hat. Vielleicht hat sich das fünfzehnjährige, blonde Ich, das ich einmal gewesen bin, von ihm angesprochen gefühlt. Es hat sich wieder geregt und forderte nun ein, etwas erfüllt zu bekommen, einen Jahre alten, langvergessenen Tagtraum vielleicht. Aber ich, als diejeniege, die ich jetzt bin, habe mich alt neben ihm gefühlt, obwohl sogar er der ältere ist. Weil ich den Unterschied zwischen mir und der Fünfzehnjährigen fühlte und wie weit ich schon von ihr entfernt war. Ich dachte an die ersten Falten, die ich unter den Augen entdeckt hatte, auch wenn das noch garkeine Rolle spielen sollte. Neben ihm war das plötzlich wichtig. Und ich wusste das erste mal nicht, ob ich bedauern sollte, dass ich meine Haare färbe. Ich trage sie schon seit Jahren nicht mehr blond, vielleicht weil ich irgendwann mit diesem früheren Ich brechen wollte. Und bis dahin war ich auch froh, es los zu sein. Aber bin ich es wirklich los?
Etienne hat eine Freundin, eine mit langen Haaren und einem hellen, strahlenden Gesicht. Vielleicht habe ich sie mit dem Mädchen, das ich früher war, verglichen. Es hat mich ein wenig bestürzt, dass sie ihm in ihrer Art zu reden, so ähnlich ist. Ich sah sie immer schweigen, wenn er seine Monologe über “das Richtige” hielt. Aber sie himmelte ihn nicht an, wie ich es wohl an ihrer Stelle und in ihrem Alter getan hätte. Ihre Beziehung zueinander ist ein Geheimnis, das ich nicht entschlüsseln kann. Für mich ist Etienne eine realere und hübschere Version von Don Quischotte mit dem Unterschied, dass er nicht die Welt, sondern sich selbst vor schlechten Meinungen retten will. Aber er ist auch ein Prinz, denn Prinzen werden gemacht - von Leuten wie mir.


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#2

Der Prinz

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 14.01.2006 17:11
von Krabü2 (gelöscht)
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Hallo Motte,
ich find das durchaus interessant, die Story, und doch bin ich ein bisschen verwirrt. Dieses Mädchen (?) - was erfahre ich über sie? Sind das wirklich ihre Gedanken? Wie alt mag sie sein? Sie scheint sehr reflektiert, aber auf eine Weise, die sie sich selbst nicht gerade nahe bringt, oder sie hat ein Problem, ein größeres..., ist eine dissoziative Persönlichkeit? Oder eine multiple ....? Und - reflektiert jemand überhauput SO? So Ich-entfremdet? Und das sooo anhaltend? Ich weiß es nicht, wirklich nicht.
Als Auszug aus einem längeren Werk, aus einem Roman vielleicht, kann ich mir das durchaus vorstellen, denn was mir tatsächlich fehlt, ist eine Erzählstimme, die das Ganze, also DIE GANZE, in eine gewisse 'Realität' rückt. So 'allein' ist der Text nahezu schwebend für mein Empfinden.
Ein kleiner Fehler, falls dies nicht der neuen deutschen Rechtschreibung ... nene... ist Qui(s)chotte, ich denke, er wird ohne 's' geschrieben, und ('gar keine') ansonsten gefällt mir die Ausdrucksweise, aber eben nicht als Reflexion.
Hhhmm - kannst Du was mit meinem Kommentar anfangen?
Grüße,
Kratzbürste

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#3

Der Prinz

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 14.01.2006 20:46
von Gemini • Long Dong Silver | 3.094 Beiträge | 3130 Punkte
Hallo Motte

Ich finde, das die Geschichte doch gut geschrieben ist, nur weiß ich nicht, in welche Richtung du mich bringen willst. Ich war während des Lesens immer wieder hin und hergerissen, bis ich zum Ende hin, zu dem Schluss gekommen bin, dass hier eine Mutter über ihren Sohn spricht. Das ist vermutlich Unsinn, aber so würde ich den Text verstehen.

LG Gem

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#4

Der Prinz

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 16.01.2006 15:28
von Motte (gelöscht)
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@ Kratzbürste,
Danke für deinen Kommentar. Die Gedanken, die du dir gemacht hast, sind wirklich sehr interessant. Ja, man erfährt nur sehr wenig über die Erzählerin. Da sie aber nur von einem einzigen Sachverhalt erzählt bzw. ihre Überlegungen zu dem Etienne widergibt, fand ich es nicht unbedingt notwendig, ihr ein deutlicheres Gesicht zu geben. Es ist doch eigentlich offensichtlich, dass das, was sie an dieser anderen Person wahrnimmt und wertet, rein subjektiv ist, also von der Realität abweicht... und inwieweit, das wollte - kann ich vielleicht auch garnicht - thematisieren. Ich fand gerade interessant, die Gedanken/Überlegungen, die ein bißchen extrem in die ein oder andere Richtung gehen, nicht zu neutralisieren... so kann der Leser sich ihrem Blick auf die Dinge nicht entziehen.
Zum Thema Reflexion. Wenn es sich hier um ihre gesammelten Eindrücke von einer Person handelt, die sie einfach auswertet und wenn sie diese Person aus irgendeinem Grunde besonders stark beschäftigt hat.. ist so eine durchgehende Personencharakterisierung doch denkbar. Nicht? Sie sagt ja nicht, dass sie bei der “wirklichen” Begegnung mit Etienne schon so gedacht hat.
Aber du hast natürlich recht, sie übertreibt ihre Analyse der Umwelt/Person. Ihre Wertungen sind sehr großartig und endgültig, vielleicht sogar anmaßend?
Du meinst mit Ich-entfremdet sicher die Tatsache, dass sie sich selbst so stark in die Analyse einbezieht... Also, sich so stark von sich selbst zu distanzieren versucht? Beschäftigt hat mich auch dein Satz:

“Sie scheint sehr reflektiert, aber auf eine Weise, die sie sich selbst nicht gerade nahe bringt,“

Möglicherweise ist sie garnicht fähig auf eine andere Weise zu reflektieren bzw. die Umwelt wahrzunehmen, so “tunnelblickartig”. Vielleicht leidet sie sogar darunter, dass sie den Etienne nicht anders sehen kann. Sie sucht den Fehler schließlich auch bei sich.
Auf der anderen Seite bemüht sie sich vielleicht auch gerade um ein hohes Maß an Objektivität bei ihrer Beobachtung und versucht sich deshalb, von ihrer Ich-Sichtweise zu entfernen..
Widersprüchlich ist das schon..
Es liegt mir irgendwie nicht sehr, diesen Text verständlich zu machen. Ich glaube, dass er viel weniger konstruiert ist, als es den Anschein hat.
Danke dennoch für deine anregenden Gedanken..

@Gemini
Auch dir vielen Dank für das Lob! Ja, verstehen tue ich nicht, warum du hier eine Mutter zu ihrem Sohn sprechen siehst.. Die Beziehung der beiden wird wirklich nicht ganz klar.. aber, dass es sich dabei um ein Mädchen handelt, dass über einen Jungen schreibt, für den sie sich irgendwie interessiert.. dass, dachte ich, kommt raus.
Das Verhältnis ist durchaus gestört. Die Frage ist doch eher, woran das liegt.. an seinem Charakter oder daran, dass sie etwas in ihn hineinsieht bzw. wie sie ihn sieht? Sie kann ihrer eigenen Sichtweise nicht entkommen.. und der Leser auch nicht.. Deshalb ist dieser Etienne für sie auch irgendwie verloren.

Puhh, ich hab mich hoffentlich nicht bei der Betrachtung meines eigenen Textes zu sehr verzettelt!

Liebe Grüße euch beiden,
Motte

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#5

Der Prinz

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 17.01.2006 08:46
von Krabü2 (gelöscht)
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Hi Motte,
Du schreibst 'Ihre Wertungen sind sehr großartig und endgültig, vielleicht sogar anmaßend?'
Das meine ich gar nicht. Ich würde es jedenfalls so nicht ausdrücken wollen. Sie reflektiert auf eigentümliche Weise, so 'abgehoben' und von weit her, in großen Bögen sozusagen, sie wirkt nicht bei sich - das schien mir so fremd.
Sei's drum - ich finde den Beitrag trotzdem, vielleicht sogar darum, sehr interessant.
Viele Grüße
Kratzbürste

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