#1

Acht Minuten Kartoffelbrei und andere Kuriositäten

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 24.07.2009 19:58
von LottaViktualia | 31 Beiträge | 31 Punkte

Acht Minuten Kartoffelbrei und andere Kuriositäten

In meinem Briefkasten ist ein hellblauer Umschlag. Darauf steht kein Absender und eine Briefmarke klebt auch nicht darauf. Nur mein Name steht da. Noch nicht einmal mein richtiger Name. Da steht „Crazy M.“.

Das ist eine von denen.

Es ist der Teil meiner Persönlichkeit, der sich erst ab zwei Promille Alkoholgehalt im Blut heraus traut. „Crazy M. ist verzogen“, denke ich, und werfe den Brief vorschriftsmäßig wieder in meinen eigenen Briefkasten ein.

So mache ich das seit drei Wochen jeden Tag. Crazy M. leert ihren Briefkasten nicht; aber ich weiß, dass ich mir keine Sorgen um sie machen muss – eines Tages steht sie wieder vor der Tür und heult und sagt, sie würde sich auch benehmen, ich könne doch nicht so kalt sein und sie abweisen, schließlich sei sie doch auch ein Teil von mir und eine Party ohne Crazy M. wäre doch auch keine Party ... und, ob ich denn wirklich für immer in meiner Langeweile ersticken möchte. Sie könnte mir da helfen bla bla bla...
Und dann lasse ich sie wieder rein, weil sie ja Recht hat.

Sie zieht dann in das Zimmer neben FrauKrümel, der melancholischen Alten, die sich im Selbstmitleid ertränkt. Es kommt dann schnell zu den alten Streitigkeiten, Crazy M lacht Krümel aus und Krümel steigert sich in ihren empfundenen Minderwert hinein. Es steht alles schon fest, bevor es überhaupt passiert – weil es schon immer so ist. Jedenfalls seit diese Irre Crazy M. zum ersten Mal einen Fuß in mein Haus gesetzt hat.

Eines Tages wird es wahrscheinlich einen Versuch geben, die Streithähne zu versöhnen. Dann zieht vielleicht eine Neue ein. Oder die die schon da sind ziehen alle um – oder eine verlässt fluchtartig das Haus. Das Haus Claudia. Das einzige Spannende daran ist also, wie es am Ende alles ausgeht. Nicht dass es zu viele Möglichkeiten gäbe, aber immerhin gibt es nicht nur eine.

Haus Claudia. Das klingt wie Urlaub – vielleicht am Meer. Nach Möwengeschrei und Strandsand zwischen den Zehen. Das klingt nach Krabben puhlen und Pommes rot-weiß. Das klingt nach Leuchttürmen und Möwenlachen und kalten Füßen. Nach Tote Tante Getränken oder wie sie eben heißen und nach getrockneten Wal-Penissen in skurrilen Seebärenkneipen. Das klingt schön!

Als ich am nächsten Morgen den Briefkasten öffne ist darin wie ich es bereits erwartet hatte ein hellblauer Briefumschlag ohne Briefmarke für Crazy M. Außerdem noch eine Postkarte aus Argentinien. Darauf steht:

„Liebe Claudia. Grüße bitte alle Bewohner des Hauses herzlich, besonders FrauKrümel. Ich bin bald zurück. Ich weiß, dass es dir nicht recht war, es immer so zu übertreiben. Deshalb bin ich für eine Weile in die Antarktis gereist. Ich wohne hier auf einer kleinen Forschungsstation im ewigen Eis. Stell dir mal vor, hier wurden sogar schon Kinder geboren. Mehr dazu bei meiner Rückkehr. Bis dahin, Deine Crazy M. PS: Die Antarktis ist bitter kalt und trotzdem will sie jeder für sich.“

Langsam kommt mir das alles sehr seltsam vor!

Ich nehme die Postkarte aus dem Briefkasten und verfahre mit dem blauen Briefumschlag in der gewohnten Weise.

In Gedanken versunken stampfe ich die Treppen wieder hinauf zu meiner Wohnung im dritten Stock. Heute ist Samstag. Ich habe Kopfschmerzen und bin schlecht gelaunt. Es ist ein scheiß Tag – obwohl ich bis Mittags geschlafen habe. Sonst nichts. Noch nichts gemacht meine ich.

Mir gegenüber wohnt Frau Kartoffelbrei. Frau Kartoffelbrei heißt natürlich eigentlich gar nicht so, das sage ich nur immer, weil sie mir einmal erzählt hat, wie sie ihrem Mann nach dem Krieg immer so viel Kartoffelbrei gekocht hat, weil er das so gerne mochte. Am Ende hat er sie aber doch verlassen. Trotz des ganzen Kartoffelbreis.

Und als sie dann allein war, hat sie weiterhin immer so viel Kartoffelbrei gekocht. Obwohl sie den gar nicht gerne aß. Aber den Heinrich, ihren Mann, den hatte sie geliebt.

Die alte Frau murmelt eigentlich immer so etwas vor sich hin, das nach irgendeiner Art Beschwörungen klingt. Als ich gerade die letzte Stufe erreicht habe öffnet sie die Tür. Und dabei ist sie sehr aufgeregt.

Sie fuchtelt mit den Händen und noch bevor ich „Guten Tag“ sagen kann jault sie laut auf: „Oh Frau Viktualia! Mein Waldi! Mein armer Waldi!“, wie eine Sirene. Jetzt sehe ich, dass sie ausnahmsweise mal nicht ihren dicken Dackel am Bein kauern hat.

„Mein Waldi! Er ist mir davon gelaufen! Im Park. Er wollte doch nur mit den kleinen Entlein spielen und dann ist er davon gelaufen und ich bin doch auch nicht mehr die Jüngste.“

Innerlich lache ich – ich hätte dem dummen Dackel gar nicht zugetraut, dass er die Enten jagt. Aber wahrscheinlich hatte er die ständige Kartoffelbrei-Fresserei satt und wollte auch mal ein richtiges, saftiges Stück Fleisch. Ich hoffe, dass das Kartoffelbrei-Geschoss nicht schnell genug war und die Enten ihm alle entwischen konnten.

„Aber Frau Schultze“ sage ich, denn so heißt die Frau eigentlich. „Beruhigen Sie sich doch erst einmal.“ Und dann verspreche ich ihr, in den Park zu gehen, und nach Waldi zu suchen.

Das werde ich dann unter meinen Random Acts of Kindness verbuchen. Die machen mich immer sehr glücklich. Vielleicht ist es doch gar nicht so ein Scheiß Tag.

Und in diesem Moment beschließe ich auch, endlich den Brief an Crazy M. zu öffnen. Aber erst, wenn ich Waldi wieder eingelesen und bei meiner alten Nachbarin Frau Schultz-Kartoffelbrei abgeliefert habe.

Das ist dann auch gar nicht so schwer. Waldi hatte offensichtlich die Nase voll davon hinter den Enten her zu laufen – die waren auch immer schnell wieder im Wasser und das mag Waldi gar nicht. Als ich zum Teich komme sitzt er hechelnd da und freut sich, dass ich ihn nun mitnehme.

Ich kann also den Dackel bei Frau Kartoffelbrei abgeben und sie weint ein bisschen vor Freude und Erleichterung, dass ihr Waldi nun wieder da ist. Wenn es schon nicht der liebe Heinrich ist, dann doch wenigstens der Waldi. Dann will sie mir noch Geld andrehen und Kuchen aber ich schaffe es, das alles abzulehnen und verabschiede mich.

Ich flitze die Mietshaus-Treppen hinunter zum Briefkasten. Plötzlich bekomme ich Angst, der blaue Umschlag sei nicht mehr da!

Aber als ich die Klappe vorsichtig öffne, liegt er da wie immer. Wie ein Ei in seinem Nest. Ich nehme ihn vorsichtig heraus und irgendwie fühlt er sich dieses Mal ganz anders an als sonst. In meiner Nasenspitze kribbelt es.

Aber so etwas Wichtiges kann man nicht einfach im Treppenhaus erledigen. Deswegen gehe mit dem Brief zurück in meine Wohnung. Dort koche ich mir eine große Tasse Kaffee und dann setze ich mich an den Tisch, atme tief ein und aus und öffne mit zittrigen Händen das Kuvert. Heraus kommt ein teures Briefpapier. Darauf steht in winzig kleinen Buchstaben am Rand: „Ein Farbklecks, Doppelpunkt, Sonnengelb“.
Kein Absender.

Ich wundere mich kurz, aber dann weine auch ich ein bisschen, vor Freude und Erleichterung. Denn eigentlich ist es doch egal, wer sonnengelbe Farbkleckse schickt, Hauptsache sie sind da.

(Und Crazy M. braucht wenn sie zurück kommt auch nicht mehr zu betteln. Dieses mal lasse ich sie ganz bestimmt rein, zu ihrem schönen Farbklecks.)

zuletzt bearbeitet 24.07.2009 20:00 | nach oben

#2

RE: Acht Minuten Kartoffelbrei und andere Kuriositäten

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 24.07.2009 23:44
von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte

hallo lotta, auch wenn ich gefahr laufe für einen schleimscheißer gehalten zu werden: dieses werk ist gut! nein, nicht mal nur das - zumindest zeitweise sogar großartig (wenn matt ruff "ich und die anderen" nicht geschrieben hätte, wäre ich versucht genial zu rufen). aber auch in anbetracht seines werkes ist deines doch originell und eigenständig, wird hier doch das "hausthema" nicht einfach nur abgearbeitet, sondern bisweilen sehr hübsch ausgeschmückt (diese haus claudia am meer passage ist herrlich skurril und dann dieses resumee: "Das klingt schön!": herrlich) und durch dieses reizende spiel mit der postkarte noch mal auf anderer ebene interessant. tja, wenn ich jetzt schriebe, dass mich folgendes "„Ein Farbklecks, Doppelpunkt, Sonnengelb“ " freudig berührte, dann wäre es ein ehrliches schlusswort punkt
Kjub

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#3

RE: Acht Minuten Kartoffelbrei und andere Kuriositäten

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 30.07.2009 13:52
von LottaViktualia | 31 Beiträge | 31 Punkte

Hallo Kjub,

ich freue mich ausgesprochen, dass dir der Text gefällt! Ich habe gleich nach dem Buch gesucht und es steht jetzt auf einem der oberen Ränge meiner Buch-Wunschliste. ... Wenn ich ja nur nich in der letzten Woche schon wieder so viele Bücher gekauft hätte ;) (und das auch noch für "Privat", das heißt die Lektüre scheibt sich immer weiter in die Nacht hinein).
Beruhigend, dass du die Haus Claudia Passage ansprichst. Für einen kleinen, inoffiziellen "Slam" (im Rahmen eines Uni-Kurses) hatte ich die streichen müssen, weil cih den Text auf 4 min kürzen musste. Ich mag sie selbst, aber für den Text ist sie nicht essentiell.
Es fällt mir ldier oft schwer abzuwiegen, was für einen Text wichtig ist. Natürlich will ich kein unnötiges Geschwofel. Über der Überlegung, welchen Stellenwert einzelne Passagen in einem Text einnehmen und ob das und die bloße Existenz der einzelnen Stellen gerechtfertigt sind, verliere ich oft den Mut zu einem Text.

Danke für die Rückmeldung.
Lotta.

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#4

RE: Acht Minuten Kartoffelbrei und andere Kuriositäten

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 31.07.2009 13:52
von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte

hallo lotta, nur mal kurz zwischendurch geschrieben, um dich vor übereiltem buchkauf zu bewahren: matt ruff ist zwar recht originell, aber meistenteils einfach nur slapstick, zum ende hin sogar unleserlicher, wie ich finde.

wie kam der text denn an? das würde mich interessieren. wieso soll die passage nicht essentiell sein? es geht doch um kuriositäten... (übrigens, da fällt mir doch ein kritikpunkt ein: die titelei würde ich abwandeln, sie ist zu banal für diesen text. irgendwas spritzigeres)

einfach schreiben schreiben schreiben... kürzen oder wegschmeißen kann man texte immer noch, nach ein paar tagen nochmal rübergucken... obwohl deine story eh so wirkt, als hättest du sie mit abstand korrektur gelesen.
die länge des textes halte ich für eine gute, sie dürfte zwei din a4 druckseiten betragen, ideal für das schnelle netzlesen zwischendurch. in einem anderen faden erwähnst du thomas kling, ein gedicht von ihm begegnete mir vor kurzem auf einem kolloquium zur rezeption moderner lyrik... klang interessant... hast du nen tipp, was man von ihm lesen sollte?
danke für die antwort ;)
kjub

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#5

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in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 28.09.2009 23:43
von Joame Plebis | 3.690 Beiträge | 3826 Punkte

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zuletzt bearbeitet 20.12.2021 00:04 | nach oben

#6

RE: Acht Minuten Kartoffelbrei und andere Kuriositäten

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 02.01.2010 17:12
von rabenrot (gelöscht)
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Hallo Lotta Victualia,

deine Geschichte habe ich mit Hochgenuss gleich zweimal gelesen. Sehr witzig, aber eben auch traurig und beklemmend.
Da gibt es ein paar Sätze, die erinnern mich an Valentin, Karl Valentin.

Jetzt mach ich mich auf die Suche nach mehr Texten von Dir.

Gruß Eugen

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#7

RE: Acht Minuten Kartoffelbrei und andere Kuriositäten

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 02.01.2010 17:12
von rabenrot (gelöscht)
avatar

Hallo Lotta Victualia,

deine Geschichte habe ich mit Hochgenuss gleich zweimal gelesen. Sehr witzig, aber eben auch traurig und beklemmend.
Da gibt es ein paar Sätze, die erinnern mich an Valentin, Karl Valentin.

Jetzt mach ich mich auf die Suche nach mehr Texten von Dir.

Gruß Eugen

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