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Vibrationen

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 02.01.2010 15:25
von rabenrot (gelöscht)
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Vibrationen

"Ja, wir sind die Sterne vom Morgen am Himmel dieser Welt!", rief ich und Gunter sprang auf einen Tisch, wedelte mit seinem Seidenschal und schrie, "Frauen werden unseren Tod beweinen und Männer werden sein wollen wie wir!" Auf dem Korridor standen die anderen Schauspielschüler und schüttelten den Kopf.

Das Gefühl, wie es der Schüler im Faust ausdrückt: … in diesen Mauern, diesen Hallen will es mir keineswegs gefallen, es war längst vergangen. Wir beide waren der Übermut, die Löwen dieser Hallen. Gunter der Schwabe, typisch teutonisch, spielte den Marquis von Posa. Ich, Luis, der Itaker mit der fettigen Mähne, gab den Carlos. Wir waren die jüngsten der Schauspielschule und unserem Talent stand das Tor zur Film- und Theaterwelt sperrangelweit offen und wir taten alles, um dem Klischee des Schauspielschülers zu entsprechen.
Tagsüber, eingehüllt in die Gedankenwelt Schillers, Villons, Rambauds & Brechts, schlugen wir die Stunden mit Phonetik, Körpertraining und Rollenspiel tot.

Aber nachts! Wenn es Dunkel wurde in der Stadt, stiegen wir hinab in die Gosse. In Kneipen, die nach Tabak, Kotze und Bier stanken. Wir waren entschlossen, das Leben in vollen Zügen, wie einen Streifen Kokain aufzuschniefen. In Künstlerateliers dröhnten wir uns mit Drogen, Wein und Weibern zu. Wir träumten von einem Milieu, in dem die Stricher zu unseren Füßen lagen und sich die Pulsadern aufschnitten, Gigolos, die uns in die Kunst der Verführung einführten, und von versoffenen Pennern, die sich an unserer Seite schweigend in den Tod tranken. Euphorisch nahmen wir das Leben an.

Eines Tages, wieder einmal hatten wir in einer Kneipe den Abend versoffen und waren auf dem Weg nach Hause. Berauscht von unseren Gedanken, von Bier und Schnaps gingen wir durch Bogenhausen. Die Straßen waren mit Laub bedeckt und Nieselregen kühlte unsere erhitzten Gesichter. Wir beiden Freunde hatten stumm den Weg vom Max-Weber-Platz Richtung Max II Denkmal eingeschlagen. Es war kurz vor halb eins. Um diese Zeit waren bereits die Gehsteige dieser gottverdammten Stadt, hoch geklappt. Das größte Kuhdorf des Universums! München. Gunter blieb plötzlich stehen und hielt mich am Ärmel meines Mantels fest.
"Weiste, was Mut ist?", fragte er.
"Ja, ohne gelernten Text zur Probe zu gehen." Wir lachten.
"Nee, Mut ist, wenn wir uns nach drei Maß Bier, auf die Straßenbahnschienen legen, dort liegen bleiben und warten, bis die Trambahn unser Haar berührt und wer als Letzter aufsteht, hat gewonnen."
Ich sah ihn an und schüttelte den Kopf. "Geile Idee, du Spinner!"
"Haste Angst?"
"Ja, hätt´ ich Angst."
"Schisser!"
"Gunter, was, wenn dir die Trambahn ein Bein abtrennt? Patsch! Aus der Traum vom Hamlet."
"Dann setz ich mich hinter einen Tisch auf einen Stuhl und lese den Villon mit so viel Gefühl, dass den Frauen im Zuschauerraum das Höschen feucht wird." Gunther lächelte.
Ein Auto fuhr an uns vorbei und klatschte mit den Reifen über das Kopfsteinpflaster.
„Luis, wie wär´s?“
„Wäre was?"
„Die Mutprobe?"
„Hör auf, Gunther. Ist nicht gut. "
„Is nicht gut", spöttelte er.
„Is nicht gut“, wiederholte ich.
„Doch, es ist gut. Luis! Das schweißt uns für die Ewigkeit zusammen. "
„Nee, nicht gut!“
"Wenn du deinen Wert einsetzt, dann schaffst du alles. Wie beim Feuerlauf. Denk an Freundschaft, Erfolg, Liebe oder Ruhm. Wenn du es richtig machst, hast du keine Brandblasen an den Füßen. Wenn nicht, spürst du dein Versagen tagelang, bei jedem Schritt. Komm!"

Ich drehte mich um und schlug ihm mit der flachen Hand vor die Brust. Er lachte, ging in die Knie und hielt sich den Bauch, dann sagte er:
"Hey Kleiner, wir legen uns gemeinsam auf die Schienen. Denk an deine Ziele! An das, an das du glaubst!"
„Ich weiß nicht." Der Wind drang durch meinen Ledermantel.
„Glaubst du wirklich daran, dass du den Romeo spielen wirst? Dann leg dich hin und beweise, dass dein Glaube stark genug ist, deine Träume zu verwirklichen. Verlierst du, dann ist klar, dass dein Glaube jämmerlich dahin wabbelt.“
„Du Arsch! Ich bin stark genug, das weißt du.“
„Du musst spüren, dass du deinem Instinkt vertrauen kannst.“
„Was nutzt diese Erkenntnis im Tod?“
„Luis sei nicht so negativ! Bist vielleicht ne Memme!“
„Blödkopp! Bin ich nicht!“
„Beweise es! Wenn deine Werte nicht ausreichen, um deinem Instinkt zu vertrauen, dann weißt du, dass du daran arbeiten musst.“
„Echt Gunter, ist doch Scheiße!“
„Scheiße ist, wenn du jetzt kneifst, das ist Scheiße.“
Gunter zündete sich eine Gauloise an und blies den Rauch mit einer Kopfbewegung über die Straße.
„Die Trambahnschienen! Schau! Hier ist die ideale Stelle um die Mutprobe durchzuführen." Mit der Glut der Zigarette zeigte er auf die andere Straßenseite. Dort lagen die Schienen im Schatten des Maximilianeums in einem Kiesbett, abgegrenzt von der Straße durch eine Hecke. Einem Rondell gleich verlief das Geleise abschüssig hinunter und weiter über die Isar, die Maximilianstraße entlang.
Irgendwo in der Ferne hörte ich das Quitschen der Trambahn. Ein Taxi fuhr langsam an uns heran, hielt an und der Fahrer kurbelte das Fenster herunter.
„Du will mitfahren?“ fragte ein dunkelhäutiger Mann.
„Nee, kein Geld,“ antwortete Gunter. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, gab der Taxifahrer Gas und entschwand in die Nacht.
„Sag? Machste mit?“
„Nee, ich weiß nicht.“
"Haste Mut oder bist du ne Memme? Hast du den Mumm dich mit mir aufs Geleise zu legen und im letzten Augenblick, bevor dich das Stahlungeheuer in die Ewigkeit drückt, von den Schienen zu springen? Wenn du diesen Mut hast, dann kann dir im Leben nichts mehr passieren, Luis. Dann schaffst du jede Rolle: den Lysander, Romeo, den Hamlet, Faust, Mephisto. Alle Rollen der Weltliteratur! Wenn nicht, wenn du jetzt kneifst, dann wirst du immer Angst haben vorm Versagen. Dann wirst du nie die Gewissheit haben, zu den Leitwölfen zu gehören."
In mir stieg dieser brennende Kitzel der Herausforderung auf. Instinktiv wusste ich, dass, wenn ich es nicht machte, ich mir ein Leben lang die Frage stellen würde, ob es anders wäre, wenn ich mitgemacht hätte.
„Okey, ich machs, egal!“
Gunter packte mich am Arm und wir rannten wie Phantome mit unseren schwarzen Ledermänteln über die Straße, sprangen über die kniehohe Hecke in das Kiesbeet. Wir legten uns nebeneinander, jeder auf einem Gleisstrang. Mit dem Zeigefinger schnippte Gunter die Zigarette im hohen Bogen hinaus auf die Straße. Nieselregen fiel auf mein Gesicht. Meine Wangen heiß, der Wind kühl. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Wie ein Blitz kam mir der Gedanke was wohl Vater zu dieser Aktion sagen würde. Bub, damischer Hund!, würde er fluchen und dabei den Kopf schütteln.

Stille. Ich hörte nur Gunters Atem neben mir und das kratzige Rascheln des Laubes auf dem Asphalt. Die Schienen vibrierten. Meine Zunge fühlte sich pelzig an. Die Luft roch nach Feuchte und Metall. Gunter griff wie eine eifersüchtige Geliebte nach meiner Hand. Es fühlte sich an, als ob meine Finger in einen Schraubstock geraten seien. Für einen kurzen Moment wollte ich aufspringen und davon laufen. Aber da lag diese Schwere, wie ein Amboss auf meiner Brust und der fesselnde Griff meines Freundes quetschte meine Hand. Die Gleise surrten. Ich drückte die Augen zu. Ein Geklopfe im Eisen unter mir kündigte die Trambahn an. Ein Quietschen und dann die Stille. Nur mehr der Nieselregen auf meiner Gesichtshaut. Die Straßenbahn hatte an der Haltestelle Maximilianeum angehalten. Ich schaute zu Gunter. Seine Augen starrten in den Nachthimmel. Das Verstärken des Drucks an meiner Hand gab mir zu verstehen, dass ich schweigen solle. Dann fuhr die Straßenbahn wieder los und kroch näher. Die Eisenräder knirschten auf Metall und die Vibration der Schienen wurde wieder stärker. Ich drehte meinen Kopf nach hinten. Das Scheinwerferlicht der Trambahn kroch wie ein Gespenst um die Kurve. Vom Oberlicht sprühten Funken, knisternd in die Nacht. Der weißblaue Koloss schob seine Schnauze auf uns zu. Das Kreischen, Eisen auf Eisen, wurde immer lauter. Die Straßenbahn schlingerte durch die Kurve. Schnell kam das Ungetüm auf uns zu. Mein Herzschlag klopfte weit über meiner Schädeldecke im Takt.
"Bruder, nun sind wir des Todes oder die Stars von Morgen," flüsterte Gunter. In der Stimme lag eine ungewohnte Ernsthaftigkeit. Auf meinen Armen breitete sich Gänsehaut aus und ein Schauer flutete durch meinen Körper. Meine Finger schmerzten, der Amboss auf meiner Brust presste alle Luft aus meiner Lunge. Das Rollen der Räder summte durchs Metall.
"Ich stehe auf, wenn die Bahn mein Haar berührt", schrie ich, schloss die Augen und zog den Hals ein.
"Erfolg!", brüllte Gunter.
"Ruhm!", schrie ich.
Dann dieses klingeln, wie ein Vogelgeschrei und das Bremsen. Metall auf Metall. Ich fühlte das Scheinwerferlicht über mir und das Erdbeben unter mir.
"Jetzt, Luis!!!" Gunter ließ los und im nächsten Augenblick war der Schienenstrang neben mir leer.
Ich kann nicht sagen, dass ich aufgesprungen, aufgestanden bin. Vielmehr schleuderte mich etwas hoch, zwischen Gemäuer und Straßenbahn. Aus dem Innern der Bahn kam Geschrei.
„Ihr saublöden, verblödeten Deppen ihr! …"
„Ja, was is denn Herr Schaffner?“, fragte eine Stimme und von der anderen Seite der Straßenbahn schrie Gunter:
„Yeahhh, Luis!!! Lauf“ …
Ohne zu denken wohin, rannte ich los. Zurück zum Max Weber Platz, hin zur Einsteinstraße. Und als ich außer Atem an einer Hauswand abgestützt zur Besinnung kam, überkam mich das Gefühl eines Sieges und ich lächelte vor mich hin.

Am nächsten Morgen sah ich Gunter am anderen Ende der Probebühne. Verschmitzt sah er zu mir herüber, hob zwei Finger an die Stirn, salutierte und seine Lippen formten lautlos die Worte:
O Captain, my Captain

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