#1

Grauschluchten

in Märchen, Fabeln, Sci-Fi und Fantastisches 14.09.2009 18:21
von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte

Uki lief und lief, Häuserschluchtenwinde umpfiffen seine Nase, der dunkelblaue Mantel wallte hinter ihm, mit der rechten Hand hielt er den schweren schwarzen Hut an dessen Krempe. Graupel peitschten ihm ins Gesicht, der Niederschlag lag fast waagerecht in der Luft. Es war, als hätte das Himmelspersonal seine tagelang zurück gehaltenen Kräfte auf einmal entfesselt, um gerade diesem Tag einen eisigen Stempel aufzudrücken.
Wenn Uki nicht beide Hände bräuchte – die eine hielt den Hut, die andere war ein wichtiges Rädchen seiner Laufmaschinerie - würde er seinen teilnahmslos wirkenden Wolkenschwestern die geballte Faust entgegen schütteln.
In seiner Welt aber gab es keine Konjunktive, nur Wirklichkeiten. Also lachte er, zeigte dem polarigen Wind seine glatten weißen Zähne und scherte sich nicht weiter um irgend etwas, das er nicht ändern konnte.
Die Häuser ragten wie Gebirge um ihn auf, schmutzige zehnstöckige Gebäude, deren Fenster die Bullaugen gigantischer U-Boote waren, die in dem Ozean der Möglichkeiten der Welt festgekettet und dazu verdammt waren, auf den lebensfeindlichsten Abschnitt schwarzer Tiefe zu starren. Ein Eismeer in fünftausend Meter Tiefe - keine Farbenpracht und kein Artenreichtum, nicht mal Fressen und Gefressen werden an diesem Tag.

Berlins nordöstliche Satellitenstadt war abweisender als üblich, die Menschen hockten trübselig in ihren Zimmern und versuchten sich halbherzig aufzumuntern, während ihre anderen Herzhälften damit beschäftigt waren Flachbildschirme voll zu tippen und Biervorräte leer zu saufen. Für ein paar Eiskristallsammler war es freilich eine Festzeit.
Wie lange Uki schon lief, war schwer zu sagen. Mehrere Jahre, vermutete ich. Als ich ihn persönlich fragte (was ich im Zuge der Story-Recherchen tat: Uki, fragte ich, wie lange läufst du schon?) redete er von der Lächerlichkeit jeglichen Zeitbegriffs, von Sonnenuntergängen und –aufgängen.

Das ist natürlich überhaupt keine Antwort, was ich ihm bei dieser Gelegenheit sagte.
Auf meine Hinweisung reagierte er nur mit weiteren wolkigen Formulierungen und blumigen Phrasen, zwischenzeitlich hielt ich ihn schon für einen dieser Wortakrobaten, die nichts tun, außer Wirklichkeiten hinter Worten zu verstecken.
(Aber nein, im Gegenteil: Eher war er wie ein fleischgewordenes chaotisches Ursprungswort oder die wortgewordene kakophonische Musikalität, möglicherweise von göttlichem Geist beseelt - außerdem aber auch so höflich, mir nicht ins Gesicht zu sagen, dass er mich für unhöflich und indiskret hielt.)
Um ihn nicht so leicht davon kommen zu lassen, bohrte ich tiefer, fragte nach und nach: An wie viele Jahreszeitenwechsel er sich erinnern könne, nach der Menge der Kleidungsstücke, die er während des Laufens vielleicht zerschlissen habe.
Was auch immer seine Wesensart ist – ein paar Sätze später werde ich meine Vermutung äußern – ein Feigling oder Blender ist er nicht.
In Reaktion auf meine Zudringlichkeiten explodierte Uki und erging sich in einer unglaublich geistreichen Kaskade von Beschimpfungen, umfasste die Welt menschlicher Begrifflichkeiten mit drei, vier skizzenhaften Wortschwällen, bevor er sie zwischen eisenharten Formulierungen schraubstockte, zur endgültigen Zerdrückung bereit.
Während seiner weltumfassenden, zerstörerischen Rede verdunkelte sich die Sonne in dem Maße seine wütenden Augen rot und röter wurden. Am Horizont bildeten sich graudrohende Windhosen und die Erde begann zu schwanken wie eine Schaukel, die von einem irren Kind angeschubst wurde.
„Halt!“ rief ich. „Komm zurück, lass gut sein! Die Zeit ist eine plumpe Illusion, du hast ja Recht!“ Ich wiederholte diese und bedeutungsähnliche Worte, verfiel in einen Singsang, der seinen Geist beruhigen und auf die Spur der Vernunft zurück locken sollte.
Er war kein sperriger Charakter, ebenso leicht entflammbar wie zu beruhigen, seine Iris entfärbte sich zusehends und war Sekunden später von ebenso reinem Weiß wie seine Zähne.
Während unseres Wortwechsels war er nicht einmal aus dem Tritt gekommen, die ganze Zeit war er weiter gerannt.
Nach diesem Ereignis vermutete ich, dass dieser Typ – Uki – die Personifikation der Welt war, vielleicht auch der Avatar eines fast vergessenen Gottes, dessen intuitives Wesen seine Kraft von einem zivilisationsfernen Volk bezog, das nicht missioniert oder rationalisiert worden war und ihn immer noch anbetete.
Nur, warum er ständig lief, wurde mir nicht klar. Lief er weg, wollte er wohin?

Aus einem anderen Hausaufgang, ein paar Straßen weiter, kam die Pea. Es ist nicht vermessen zu behaupten, dass ein Flor wie ein Duft von Frühling sie stets umwehte. Blonde Locken, die auf ihre Schultern fielen, grüne Augen, die genau so gut herausfordernd wie schelmisch blitzen konnten, reinweiße Haut, auf den Wangen ein Hauch von Rot, ebenso war die Nase etwas gerötet, was ihr den Reiz des Unvollkommenen schenkte und wohl der Kälte geschuldet war.
Ihr Körper, dessen sehr weibliche Form an eine Sanduhr erinnerte, wurde von einem praktisch wirkenden, olivgrünen Militärparka sackartig verhüllt. Sie hatte keine Not, sich schön zu machen, weder für sich noch für einen Irgendwen. Auf dem Weg, Uki zu treffen, war ihr nur ein Accessoire wichtig: Das grüne Tuch aus Brokat, das sie sich um Hals und vor den Mund legte.
Gelassen und von dem Hagel unbeeindruckt, schritt sie nobel und stolz wie die Hohepriesterin eines vorchristlichen Kultes die verlassenen Straßen von Hellersdorf entlang, hinter deren U-Boot-Häusern all die Manfreds und Mustafas, Edits und Edirnes ihre farblosen Leben fristeten, nichtsahnend, dass eine Auserwählte auf dem Weg zu ihrem Auserwählten war.

Uki aber ahnte dass sie unterwegs war, ohne zu wissen wer sie ist und was er mit ihr anfangen könnte, wusste er, dass sie für ihn und umgekehrt: dass es da eine Bestimmung gäbe.
Es war nicht mehr so, dass er vor sich selbst und seinem weltenzerstörerischen Zorn davon rannte, nein, jetzt lief er zu ihr, von Gefühlen baldigen Neuanfangs getrieben.
An einem Blumengeschäft vorbeilaufend, kaufte er „irgend eine blaue Blume to go“, das sollte die Morgengabe sein, sein Geschenk für die Braut.

Auf einer Kreuzung trafen sie sich, küssten sie sich, liebten sie sich. Von dichten Hagel- und Schneeschauern umgeben, die ihnen eine Intimität schenkten, wie sie in keinem vorhanggeschützten Turmzimmer eine größere hätte sein können.
Das Kind, das aus ihrer Verbindung entstand, wurde wenige Minuten später mit leuchtenden, bernsteingelben Augen geboren. Da die beiden nichts außer sich und ihrer Existenz besaßen, mussten sie von sich nehmen, um dem Kind etwas zu geben.
Pea gab einen Buchstaben, ihr A, Uki gab sogar zwei, das K und das I, so bekam das Kind den Namen Aki. Aus den Netzhäuten von Pe und U schliff U mit seinen scharfen Worten ein Prisma, froh, seine Wortgewalt für schöpferische Tätigkeit nutzen zu können. Vor dieses Prisma legten sie die blaue Blume und das grüne Tuch und Aki durchleuchtete alles mit ihren bernsteingelben Augen.

Die Welt erstrahlte nicht mit einem Mal in allen Regenbogenfarben, aber eine neue Farbigkeit sickerte langsam in jedes Ding und alles Leben hinein. Auf den Wänden der Betonschluchten wuchsen ein paar zaghafte Graffitis heran, die Kronen der Bäume bekamen das ihnen zustehende satte Grün und goldener Schimmer durchwob die Blätter, mancherorts begannen längst erloschene Menschenaugen zu leuchten.
Kurz: Überall, wo vorher nur das Grau herrschte, durchbrachen bunte Sprenkel die Tyrannei des Unbunten.
Als Manfred aufstand, um die Heizung hoch zu drehen, blickte er durch das große Balkonfenster nach draußen. Er verstand nicht, dass es an den Farben lag, aber fühlte eine Zufriedenheit bei der Betrachtung seiner altbekannten Umgebung, die jetzt um einiges frischer und lebendiger wirkte.
Dieses Gefühl wuchs zu einem kleinen Glück heran und zur Feier des Tages beschloss er, sich ein weiteres Bier zu gönnen und Edit, seine ewig geile Nachbarin, zu einem Youporn-Videoabend einzuladen.

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#2

RE: Grauschluchten

in Märchen, Fabeln, Sci-Fi und Fantastisches 10.10.2009 11:04
von gheggrun | 377 Beiträge | 377 Punkte

Hallihallo, Kjub!

Und nun folgt als Roman der jesusartige Lebenslauf Akis,
der schildert, wie sich die "teilnahmslos wirkenden Wolken-
schwestern" gegen Akis Wirkungen wehren werden.
Bin schon auf den Ausgang des Kampfes gespannt.
Prima Thema!


Hastanirwana
GHEG
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#3

RE: Grauschluchten

in Märchen, Fabeln, Sci-Fi und Fantastisches 10.10.2009 20:16
von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte

ah, gheg, den jesusartigen lebenslauf musst du wohl selbst schreiben, mit so was hab ich nix am hut. freut mich freilich, dass es dir gefiel. grüße, Kjub

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#4

RE: Grauschluchten

in Märchen, Fabeln, Sci-Fi und Fantastisches 13.10.2009 12:30
von gheggrun | 377 Beiträge | 377 Punkte

Hallalilo, Kjub!

Ich muß mich korrigieren, denn ich wünschte mir natürlich
einen diesmal happyendigenden "jeusartigen Lebenslauf".
Das wär' doch was -oder?


Hastanirwana
GHEG
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#5

RE: Grauschluchten

in Märchen, Fabeln, Sci-Fi und Fantastisches 14.10.2009 13:28
von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte

hi gheg, hier dreht sichs um archaische übernatürliche, die zeugen keinen erlöser. in der konsequenz passt ein klares happy oder unhappy end weder in diesem fall, noch bei einer fortsetzung. der triebgesteuerte manfred steht da schon ganz richtig. na ja, das von meiner seite. danke für dein kommentar.
beste grüße
Kjub

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