#1

bitter kalt

in Düsteres und Trübsinniges 14.12.2010 21:38
von der.hannes | 1.768 Beiträge | 1750 Punkte

I.

unter dem nordlicht

durchwärmt von induktion
sitzen alle nebeneinander

schwatzen sich plusternd
unter lautem schreien

verfehlt ein herabfallender eiszapfen
den vierten von links

fahren sie erschreckt auf
und verstreuen sich und ihre wärme

birst unter lautem knall
die vormals besetzte leitung

II.

das licht geht aus
sich heraus

in die innere emigration
will nicht jeder

im dunkeln


III.

am morgen

finden sich neben schwarzen
federn

eines kinderwagens und
neben weißen

auf torf der muff der
toten


IV.

der eiszapfen

hinterlässt ein loch
in der stirn

bildet eine pfütze neben
den augenhöhlen

tränkt einen schwarzen
besetzer



V.

in der amerikanischen zone

fleddern auch die weißen
federn wegen der kälte

besorgen sich die schwarzen
nebelkrähen

fleischrationen tief
im kinderwagen


VI.

in dunklen zimmern

wärmen kerzen blaue
augen und krause

hört man stille nächte
lustvoll beißend

vermisst den kinderwagen
niemand

zuletzt bearbeitet 14.12.2010 21:43 | nach oben

#2

RE: bitter kalt

in Düsteres und Trübsinniges 15.12.2010 09:06
von Rubberduck | 558 Beiträge | 558 Punkte

Hallo hannes (ok?)

die Atmosphäre ist sehr düster in deinem Gedicht, doch ich komme dem was du sagen willst nicht auf die Spur. Ich vermute du sprichst von menschlicher Kälte. Doch Einzelheiten kann ich nicht herausschälen. Oh, warte... ich glaube es dämmert. Es passiert eine menschliche Tragödie, alle erschrecken sich und regen sich auf, bis die Normalität wieder Einzug hält und es niemanden mehr interessiert - weiter zur Tagesordnung. So weit bin ich gekommen, die letzten Verse Pack ich dann doch nicht, wenn meine Interpretation überhaupt annähernd richtig ist. Geht es um ein politisches Ereignis? Einen Kampfeinsatz und seine Folgen?

Liebe Grüße,
die rätselnde Bärbel

zuletzt bearbeitet 15.12.2010 09:26 | nach oben

#3

---

in Düsteres und Trübsinniges 15.12.2010 12:35
von pistacia vera (gelöscht)
avatar

---

zuletzt bearbeitet 23.12.2010 08:51 | nach oben

#4

RE: bitter kalt

in Düsteres und Trübsinniges 15.12.2010 18:12
von der.hannes | 1.768 Beiträge | 1750 Punkte

Hallo Bärbel, hallo pista,

es ist eine ungereimte Moritat.

Falls Ihr lieber Eure eigene Phantasie spielen lasst, solltet Ihr das folgende einfach ignorieren :)

"Es ist auch dazumal bitter kalt, kurz nach Weltkrieg II. Natürlich sitzen da Krähen erst auf der Leitung, dann räubern sie nach dem tragischen eiszapfenfall nicht nur in augenhöhlen, sondern auch im kinderwagen, und das alles in der amerikanischen zone, wodurch die farbenspiele interessanter werden. Und die kälte hat natürlich wettrige und menschliche deutungsmöglichkeiten, wie auch das bitter :)"

es grüßt
(der.)Hannes

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#5

RE: bitter kalt

in Düsteres und Trübsinniges 16.12.2010 11:00
von Rubberduck | 558 Beiträge | 558 Punkte

Oh, magenherumdreh - ich hatte es fast befürchtet. Wo gräbst du solche Schauplätze aus....???!!!

Liebe Grüße,
Bärbel

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#6

RE: bitter kalt

in Düsteres und Trübsinniges 16.12.2010 22:02
von der.hannes | 1.768 Beiträge | 1750 Punkte

Hallo Bärbel,

ich hab grad Follett 'Fall of Giants' gelesen. Da geht es zwar um Weltkrieg I, aber abgesehen von der "amerikanischen zone" hätte das da auch passieren können.

es grüßt
(der.)Hannes

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#7

RE: bitter kalt

in Düsteres und Trübsinniges 17.12.2010 08:08
von otto | 637 Beiträge | 645 Punkte

Also. Lieber hannes. Da ist Dir sicherlich ein Kabinettstückchen irgendeiner Innenwelt gelungen. Ich vermute, dass ich sie noch viel besser betreten könnte, wenn sie in Prosa daherkäme. Respekt allerdings für die vielen Verpackungsverstecke der Handlungsbilder. Aber so ist Lyrik auch: sie will sich gerade so behaupten, wie sie daherkommt.

Ich besuche - dann und wann- Friedhöfe. Da finden sich immer wieder die Grabbeigaben, auch kleine Spielzeugkinderwagen, den Frühverstorbenen auf das Totenkleid gelegt. Welche Verschwendung, denke ich da. Aber fühlen kann ich da nicht mit. Mit wem auch?

Liebe Grüße für Deine Seitenwege.

otto.

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#8

RE: bitter kalt

in Düsteres und Trübsinniges 17.12.2010 19:08
von der.hannes | 1.768 Beiträge | 1750 Punkte

Lieber Otto,

Du hast recht, Lyrik - auch dieses Gedicht - ist oft hermetisch, verschlüsselt und somit dichter und schwieriger zu lesen als (kurz)prosa. Immerhin hast Du versucht, Dich diesem durchaus eigenwilligen Gedicht zu nähern. Dafür erstmal meinen Dank.

Ob man hier oder auch auf Friedhöfen mitfühlen kann, hängt immer sehr davon ab, ob man als Leser oder Betrachter persönliche Eindrücke oder Erinnerungen wiederfinden kann. Ist das nicht der Fall, fehlt dafür die Grundlage.

es grüßt
der.hannes

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#9

RE: bitter kalt

in Düsteres und Trübsinniges 20.12.2010 08:26
von otto | 637 Beiträge | 645 Punkte

Lieber Hannes!

Ich war Kriegskind, acht Jahre alt, 1945. Da lernst Du, das Verdrängen zum Vermächnis wird.
Für mich ist Dein Gedicht durchlässig wie frisch geputzte Fensterscheiben. Ich war oft auf dem Schwarzmarkt mit der Mutter, die Vaters Hose mit den dünnen Stellen so verdrehte, dass man nichts sah, was die Begehrlichkeit minderte.
Brennmaterial gab es in den Ruinen, den Parks bei stumpfer Säge und stumpfen Beil. Wir klauten die Presskohlen
vom vorbeirumpelnden LKW. Wir verfeuerten unsere Möbel. In der Wohnung war der Frost in unserem Atem.
Also die eigene Befindlichkeit war den Umständen angemessen und vielen platzten die Sicherungen ein für allemal.
Was verstand ich vom Satz meiner Mutter, als sie wie beiläufig wie zu sich selbst sagte: " Ich mach jetzt Schluß."
Die nationalsozialistische Bescherung dauerte für alle noch Jahre.

Ich bin der Auffassung, dass die Zeit der Nachkriegslyrik nach Borchardt und Böll beendet war. Heute ist Prosa, Klartext angesagt. Nicht wahr, wir sind im Krieg. Wie schon früher, in einem anderen Land. Bei uns kommen die Zinksärge zu Weihnachten ohne Nachnahme.

Liebe Grüße,

otto.

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#10

RE: bitter kalt

in Düsteres und Trübsinniges 20.12.2010 13:56
von der.hannes | 1.768 Beiträge | 1750 Punkte

Lieber Otto,

ich selber habe den Krieg und auch die Nachkriegszeit nicht mehr erlebt. Wenn für Dich das Gedicht "durchlässig wie frisch geputzte Fensterscheiben" ist, ist der Versuch gelungen, diese Erlebniswelt nachzuempfinden. Sicher fehlt mir die unmittelbare Betroffenheit dessen, der selber diese Erfahrungen gemacht hat. Mit der Nachkriegslyrik kann es sich sicher nicht vergleichen. Aber es gibt ja auch heute noch Kriege und Schrecken ohne Ende. "Bei uns kommen die Zinksärge zu Weihnachten ohne Nachnahme" ist das Thema kommender Tage.

es grüßt
der.hannes

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