#1

Hausbesuch

in Philosophisches und Grübeleien 26.12.2010 19:49
von otto | 637 Beiträge | 645 Punkte

Durch die Dachluke hatte er einen freien Blick auf seine Stadt.
Auf dem Dachboden Winterkälte, über allen Dächern.
Man müßte... sie hatte Debussy gespielt, gut, wie er fand.
Manche im Haus meckerten, wenn sie übte.

Clara, immer war sie schneller ins Meer.
Er liebte ihr das abperlende Salzwasser von den Wimpern zu küssen.
Seine Speisen aß er ungesalzen.
Die Ratte stand unbeweglich neben der Flasche Prieuré-Les - Tours 2006.

Das Licht des Kerzenstummels flackerte, undicht das Dach.
Dachluke auf, Wind verblies die Kerze, Schnee ins Gesicht, Luke zu.
Das Jahr, ach das Jahr, es ging zuende.
Ein Glas Rotwein, dabei mußte es nicht bleiben, mußte keiner wissen.

Auf dem Dachboden würde er bleiben, bis die Flasche leer war.
Eingießen in bömisches Grünglas, Pokal vom Trödel, Schnäppchen.
Dicke Decke über die Schultern gezogen.
Er fühlte den Wein gegen die aufkommende Kälte.

Der letzte Sommer:Eleni hatte sie am Strand von Kokkari erwischt: "Unchristliche Saubande!"
Das Klavier, er schlug zwei Tasten an, es reichte, es , er waren verstimmt.
Die Ratte zurück ins Loch.
Eine neue Kerze auf den Stummel.

Der Wein zu kalt.
Bei Hoffmanns war jetzt Zeit für die Bescherung.
Er war arbeitslos, aber nicht obdachlos.
Möglich, dass es hier etwas zu hoch war für einen Rotweintrinker zu erfrieren.

War er Trinker ?
In den Fenstern, draußen, unter ihm in der Stadt Leuchtketten in den Fenstern.
Er rauchte, Gaulouise.
Er würde, er wußte, dass er nie aufhören konnte.

Joe Black, bis der Tod ihn holen würde, dieser Film mit Brat Pitt... Steuer und Tod. Seine Steuererklärung!
Rotwein stimmte ihn sentimental, Mist.
Er zog das Buch aus der Jackentasche.
Das Buch vom Fisch und dem Mann von dem Mann der sich erschoß.

Aber die drei heiligen Könige kamen darin nicht vor.
Durch den Dachboden drang Kindergeschrei.
Eigentlich könnte ich diese Nacht gut unter dem " Dach juchee" schlafen, dachte er.
Er notierte, was er las, in sein Tagebuch:

" Offensichtlich wird in der Bundesrepublik
noch immer ein Literaturunterricht gepflegt,
in dem sich Lehrer
und Schüler mehr oder weniger reflektiert
an " hoher" Dichtung erbauen und
in dem- um es mit den Worten
eines literaturwissenschaftlichen Reformmodells
der Universität Hamburg
einige Grade polemischer zu formulieren
- sozial vorbestimmte Normen und Werte
als quasi naturwüchsig und unpromblematisierbar
hingestellt werden und
damit der Literaturunterricht
zum Mittel der Anpassung
an den " kulturellen Wertehorizont der Mittelklasse"
degeneriert."

Er griff wieder zum Glas und las:
" Es war ein alter Mann,
der allein in einem Boot im Golfstrom fischte,
und er war jetz vierundachtzig Tage
hintereinander hinausgefahren,
ohne einen Fisch zu fangen.

Ich bin sehr müde, dachte er,
kurz bevor er einschlief.
Da war er wieder, dieser große
endlose Fisch.

Eigentlich war da nur sein Kopf.
Außerdem: Niemand sollte in einer Kurzgeschichte
an Clara erinnern.
Debussy setzte sich an das verstimmte Klavier.

zuletzt bearbeitet 26.12.2010 23:25 | nach oben

#2

RE: Hausbesuch

in Philosophisches und Grübeleien 27.12.2010 11:58
von Rubberduck | 558 Beiträge | 558 Punkte

Lieber Otto,

Dachböden ziehen mich magisch an.
Sie erzählen so viel über das Haus und seine Bewohner.
Danke,
Bärbel

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#3

RE: Hausbesuch

in Philosophisches und Grübeleien 27.12.2010 17:46
von chip | 433 Beiträge | 461 Punkte

Hallo Otto,

Ein überzeugend geschilderter Ausdruck von Trauer, in den sich heruntergekommene Einsamkeit und ein wenig Selbstmitleid mischen. Die Form des Textes zwischen Lyrik und Prosa, als hätte LI nicht mehr die Kraft sich für eine Gestaltungsweise zu entscheiden.
Den Schluß finde ich richtig gut: Du nimmst das Anfangsmotiv wieder auf. Hieß sie Eleni? Toller Telling Name: Das Elend als (un)treue Geliebte? Ein sehr lesenswerter Text. Chip

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#4

RE: Hausbesuch

in Philosophisches und Grübeleien 28.12.2010 12:29
von mcberry • Administrator | 3.230 Beiträge | 3490 Punkte

Hallo Otto, bin auch beeindruckt.

Der Text hat etwas! Prosa zerfällt in Zeilen und Lyrik wird zum Stilmittel der Auflösung. Eine Vielzahl von Bildern
ergänzt und bestätigt sich untereinander. Du bringst sogar ein Fernsehprogramm in dichtem thematischen Bezug unter.
Der Zeitgeist würde wahrscheinlich eine Straffung nahelegen, aber nicht jedem Hinweis muß Folge geleistet werden.

Obwohl ein Meermotiv in diesen todessehnsüchtigen Zusammenhang gut hineinpasst, bin ich über den Strand mit Eleni erst einmal gestolpert. Dazu könntest du vllt noch etwas sagen.

Wenn du so weiterschreibst, mutieren chip und ich noch zu deinen Fans. Jedenfalls gerne gelesen - mcberry

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#5

RE: Hausbesuch

in Philosophisches und Grübeleien 28.12.2010 13:31
von otto | 637 Beiträge | 645 Punkte

Danke liebe Leser!

Das Meermotiv: Liebe in einer Bucht auf Samos mit dem überraschenden Auftreten einer alten schwarzgewandeten Frau, die einen Stein gegen zwei aufhob. Zwei wie Vorchristliche... Dem Melancholiker fiel diese Erinnerung aus dem
Winter seiner Seele mitten durch die Dachluke der Erinnerung ins Weinglas: dort erblühte sie frischblau, um gleich wieder in den verstimmten Akkorden eines dachvergessenen Klaviers zu welken.
Als Kinder liebten wir die bunten Knetestangen zu mischen. Uns begeisterten die bunten Farbfäden des Durchgekneteten wunderbaren Stoffes. Doch je mehr wir versuchten den Farbzauber zu steigern, um so schneller verlief sich alles ins Grau. Und es hörte uns auf zu wundern.

Nicht wahr, liebe Freunde, ( ich darf euch doch so anschreiben?) zuweilen brennt in uns ein Feuerwerk gebündelter
Gedanken und Gefühle ab, durcheinander gerafft, hastig und augenblicklich dem Meer des Vergessens wie abgerissen...
( Puh, das war jetzt schwülstig).

LG. ,otto

zuletzt bearbeitet 28.12.2010 13:37 | nach oben


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