#1

Vom großen Glück eine kleine 5 zu sein

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 30.08.2011 19:39
von Ringelroth | 213 Beiträge | 213 Punkte

Es war ein Mal eine kleine 5.
Sie ging noch nicht zur Schule, denn sie war ja erst 5.
Eines Tages kam sie vom Spielen nach Hause und fragte:
„Opa, warum bin ich eine 5?“

„Tja“, sagte der Opa und setzte sich neben das Fenster in den schweren Polstersessel. Und während er nach einer Antwort suchte, kletterte die kleine 5 auf seinen Schoß.
„Du bist eine 5“, begann Opa bedächtig. „Weil du als 5 geboren wurdest“.

Die kleine 5 dachte über diese Antwort nach. Und während sie das tat, drehte sie den großen roten Knopf an Opas Strickweste hin und her. Mit dem Zeigefinger der anderen Hand bohrte sie in der Nase.
Nasebohren war beim Nachdenken immer die beste Hilfe.

Vorsorglich kramte Opa in seiner Hosentasche schon mal nach einem Taschentuch. Aber da war keins.

„Bist du auch eine 5?“, fragte die kleine 5 und spielte jetzt mit beiden Händen an dem großen roten Knopf. Die Sache mit dem Taschentuch war somit erledigt.

„Ja“, antwortete Opa und lächelte. „Wir sind alle 5en! Du, deine Mama, dein Papa, deine Oma und ich. Alle sind wir 5en“.
Der große rote Knopf an seiner Weste machte ihm jetzt langsam Sorgen. Die kleinen Hände seines Enkels strapazierten das schwarze Garn, das den Knopf bisher immer gut im Griff hatte, sodass es schon etwas locker wurde. Und dem großen roten Knopf war auch schon ganz schwindelig vom dauernden Hin-und-Hergedrehtwerden. Vorsichtig schob Opa seine großen Finger zwischen die Hände seines Enkels und hielt den Knopf fest. Woraufhin die kleine 5 ihre Hände auf die Knie legte.

„Opa, warum sind wir keine 7en?“

„Warum willst du denn eine 7 sein?“, fragte Opa erstaunt.

„Weil das ganz prima wäre“, sagte die kleine 5 und entdeckte, dass Opas Weste sehr grob gestrickt war und dass seine Finger ausgezeichnet durch die Löcher der Maschen passten. Während sie probierte, wie viele Finger gleichzeitig durch ein Loch gingen, fuhr sie mit ihrer Erklärung fort.
„Dann hätten wir den 7. Sinn, könnten über 7 Brücken gehen und hätten eine 7-Tage-Woche“.

Opa wusste schon lange, dass er einen besonders klugen Enkel hatte, trotzdem machte er große Augen, als er der kleinen 5 zuhörte.
„Aber das haben wir doch auch so. Dazu brauchen wir keine 7en zu sein“, beschwichtigte er.

„Oder wenn wir eine 13 wären, dann hätten alle Angst vor uns, denn 13 ist gaaanz furchtbar“.
Bei dem langgezogenen „gaaanz“ hatte er vier Finger auf einen Schlag in ein Loch gekriegt.

„Ja, ich weiß“, lachte Opa. „Und am Freitag dem 13. passieren einem die blödesten Sachen“.

Er fand es erstaunlich, dass nun die ganze Hand seines Enkels durch so ein kleines Loch geflutscht war. Nun, ja, die Weste war dehnbar, aber trotzdem ziemlich stabil.

„Oder ich möchte eine 6 sein“, sagte die kleine 5 und versuchte, die Hand wieder rauszuziehen. Ging aber nicht, und Opa musste helfen, wobei der froh war, dass seine Frau nichts davon mitbekam.

„Warum denn eine 6?“, fragte Opa neugierig.

„Weil Papa sich immer freut, wenn er Fernsehen guckt und dann auf dem Tisch ein Sechserpack Bier steht“, antwortete die unsichtbare 5, die ihren Kopf unter Opas Achsel geschoben und die eine Westenhälfte übers Gesicht gelegt hatte.
Das Problem war ja folgendes: Kann man seine Nase durch so ein Loch in der Weste drücken und gleichzeitig vor jedes Auge ein Loch ziehen, sodass man auf seine Unterlippe gucken kann, wenn man diese weit genug nach vorne durch ein anderes Loch schiebt?

Opa musste lachen: „Das kann ich gut verstehen“, sagte er und wunderte sich darüber wie stabil das Garn war. „Du möchtest also lieber etwas anderes sein als eine 5. Wie wär’s denn mit einer 1000?“
Er schaute durch die Löcher in die hellblauen Augen seines Enkels. Der nickte zustimmend, wobei er darauf achtete, dass seine Nasenspitze im Loch stecken blieb.

„Aber hast du dir schon mal überlegt, wie groß so eine 1000 ist? Da kommst du nicht so einfach hier durch die Zimmertür. Und in deine Kleider passt du auch nicht mehr. Du musst dir dann vom Schneider extra lange Hosen schneidern lassen, verstehst du? Das kostet ein bisschen was. Da reicht dein Taschengeld nicht“.

Die kleine 5 kam unter dem Arm hervorgekrochen und schaute ihrem Opa ins Gesicht.
„Ja, aber vielleicht könnte ich eine 9-malkluge 9, oder eine 8-bare 8, oder eine einzigartige 1, oder ein 4-blättriges Kleeblatt sein“.
Bei jedem dieser Vorschläge tippte die kleine 5 dem alten Mann mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze.

„Oh, ja“, antwortete Opa. „Das sind alles wunderschöne Dinge. Nur du solltest dir lieber nicht wünschen ein Kleeblatt zu sein. Denn wenn du dann auf der Wiese stehst, kommt ne Ziege und frisst dich auf“.

Nachdem die kleine 5 sich gerade vorgestellt hat, wie sie als Kleeblatt im Maul einer Ziege verschwindet, griff sie wieder nach dem großen roten Knopf und fragte: „Opa, bist du gerne eine 5?“

Opa atmete tief ein und sagte stolz: „Oh, ja, das bin ich“.

„Und warum?“

Opa lehnte sich nach hinten, zog die kleine 5 zu sich heran und gab ihr einen Kuss mitten auf den Haarschopf.
Den Kopf an Opas Brust gelegt, begann die kleine 5 wieder damit den großen roten Knopf zu drehen.

„Weißt du wie viel Zehen du an jedem deiner Füße hast?“, fragte Opa leise.

Die kleine 5 nickte und sagte: „Fünf“.

„Weißt du wie viel Finger du an jeder Hand hast?“.

Wieder nickte die kleine 5 und antwortete: „Fünf“.

„Siehst du“, sagte Opa zufrieden. „Du könntest nicht laufen, wenn dein Fuß nicht fünf Zehen hätte. Du könntest nicht mit dem schönen roten Knopf spielen, wenn deine Hand nicht fünf Finger hätte. Und ich könnte meinem kleinen Schatz hier nicht den Kopf streicheln, wenn meine Hand keine fünf Finger hätte“.

Bei diesen Worten fielen der kleinen 5 die Augen zu. Und in ihrem Traum war sie jetzt ganz stolz eine 5 zu sein.

Kurz darauf war auch Opa eingenickt.
Er öffnete nur einen Moment die Augen, als er durch ein kleines Geräusch kurz geweckt wurde.
Das war, als der große rote Knopf, der übrigens fünf Löcher hatte, auf die Holzdielen fiel und unters Sofa rollte.


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zuletzt bearbeitet 02.09.2011 15:06 | nach oben

#2

RE: Vom großen Glück eine kleine 5 zu sein

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 31.08.2011 08:45
von Rubberduck | 558 Beiträge | 558 Punkte

Hallo Erdbeermund,

ich bin ganz hin und weg von deiner kleinen Zahlengeschichte, die mit so wenigen Mitteln auskommt und doch mitten ins Herz geht.

Zitat
Die Sache mit dem Taschentuch war somit erledigt.



Seit diesem Satz war ich ganz dein......

lg,
rubber

zuletzt bearbeitet 31.08.2011 08:48 | nach oben

#3

RE: Vom großen Glück eine kleine 5 zu sein

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 31.08.2011 12:50
von pistacia vera (gelöscht)
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Ja, auch bei mir stellt sich kindliches Entzücken ein, obwohl die 13 für mich keine Unglückszahl ist. - Eigentlich sind alle Zahlen akzeptabel (selbst die böse 7 ), nur eine Null möchte wohl niemand gern sein. -
Im Mittelteil könnte ich mir etwas Einsparung an Beispielen vorstellen. - Nach "anderes Loch schiebt" sollte m. E. ein Fragezeichen stehen.
Aber diese zwei Kinkerlitzereien fallen angesichts des gelungenen Gesamttextes kaum auf.
Liebe Grüße
pista

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#4

RE: Vom großen Glück eine kleine 5 zu sein

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 02.09.2011 00:05
von MarleneM (gelöscht)
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Das ist entzckend geschrieben. Die Einshcübe mit dem Knopf sind perfekt, liebe Erdbeermund.
Ein weiser Opa, ein kluges Kind , das in sich selbst bestätigt wird.
Nimm dich, wie du bist und wenn du es nicht kannst, suche dir einen menschen, der dich so liebt, wie dieser pa.
Klasse geschrieben.
LG von Marlene

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#5

RE: Vom großen Glück eine kleine 5 zu sein

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 02.09.2011 15:02
von Ringelroth | 213 Beiträge | 213 Punkte

Hallo Ihr Lieben,

danke für Eure netten Worte.
Nun habe ich seit fast einem Jahr selbst eine Enkelin - nur mit der grob gestrickten Weste hapert's noch ein wenig. Und es bleiben ja noch vier Jahre - bis dahin wird Oma mir eine geklöppelt haben, gelle.

Das Fragezeichen hab ich doch glatt übersehen - danke für den Hinweis.
Gruß
erdbeermund


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