#1

Ein Toter ernährt eine Familie

in Kommentare, Essays, Glossen und Anekdoten 15.10.2012 19:17
von Lustiger (gelöscht)
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Wir wohnten in Berlin/Tempelhof, Ringstraße Nr.7 in einem Neubau. Von Zeit zu Zeit kam Großvater Gerson uns besuchen. Seinen Sohn Leopold liebte er besonders, weil er es im Vergleich zu seinen anderen Kindern sehr weit gebracht hatte. Leopold war als Jugendlicher nicht auf die ihm vorbestimmte Thoraschule gegangen. Stattdessen ging er nach Berlin, wo er eine Schlosserlehre begann. Er machte eine Erfindung, die ihm eine bedeutende Firma abkaufte. Von dem Erlös finanzierte er sein Ingenieursstudium, das er erfolgreich abschließen konnte. Nie ermangelte es dem Sohn Leopold an Energie und Lernfähigkeit.

Als uns der Großvater in der neuen Wohnung besuchte, war mein Vater Leiter einer Fabrik mit über achthundert
Angestellten. Natürlich erhielt Großvater bei seinem Besuch das beste Zimmer in der Wohnung. Aber, wie das Leben so spielt, verwandelte sich das Glück des Großvaters von einem Augenblick vom Glück ins Unglück. Denn als er hungrig in die Küche ging, um sich etwas gegen seinen Hunger zu holen, fand er dort etwas, was ihm in einem jüdischen Haushalt undenkbar war. Entrüstet verließ er die Küche, ging in sein Zimmer, sagte das Kaddischgebet für seinen ab sofort für tot erklärten Sohn, und verließ unsere Wohnung.

Oft bekam unser Vater Besuch von Freunden, denen er diese kleine Geschichte amüsiert erzählte. Dazu gehörte auch noch, dass er jeden Monat für die anderen im Ausland lebenden Familienmitglieder einen Scheck schickte, um sie in ihrer Not zu unterstützen. Stets wurde der Scheck dankbar angenommen, obwohl er von einem für tot erklärten Sohn kam.

Aus dieser Episode zog unser Vater seine moralische Qintessenz: " Lasse einen Großvater nie allein."

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#2

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in Kommentare, Essays, Glossen und Anekdoten 15.10.2012 23:14
von Joame Plebis | 3.690 Beiträge | 3826 Punkte

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zuletzt bearbeitet 20.12.2021 00:22 | nach oben

#3

RE: Ein Toter ernährt eine Familie, 1. Episode. Weitere folgen

in Kommentare, Essays, Glossen und Anekdoten 16.10.2012 11:05
von Lustiger (gelöscht)
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Was den Großvater so entrüstet hat, das willst Du wissen, liebe Joame Plebis? Nun, jedenfalls war es kein Giraffenfleisch, denn das gilt nicht als unkoscheres, sind doch die Giraffen Wiederkäuer und Paarhufer. Vielleicht
der Honig von einem Nichtbieneninsekt? Denn nur dessen Honig gilt als unkoscher. Vom König Salomon heißt es in einem Wort in der Tora:

" Honig und Milch sind unter Deiner Zunge." Honig ist eine häufig gebrauchte Metapher für die Tora. Bienenhonig konnte den Großvater also nicht entrüstet haben. Was dann aber? Er fand etwas in der Küche. Offen bleibt im Text, was es war. Der Leser möge aber davon ausgehen, dass der Großvater den Leopold in einer besonderen Verantwortung wußte, wonach er die Gesetze der Tora zu achten hatte. Mag sein, dass der Großvater garnicht preisgab, was ihn konkret in der Küche entrüstet hatte. Jedenfalls war es ihm so erheblich, dass er Leopold für ab sofort für tot erklärte.

Das Kaddischgebet ist ja, wie Du wahrscheinlich wissen wirst, ein Gebet für den Toten.

Und ja, es folgt bald Weiteres aus meinen Erfahrungen des Erlebten.
Danke für Deinen Kommentar und liebe Grüße,

Lustiger

zuletzt bearbeitet 21.10.2012 21:43 | nach oben


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