#1

Berlin, Scheunenviertel

in Gesellschaft 18.09.2016 07:12
von Antigone | 85 Beiträge | 85 Punkte

Berlin, Scheunenviertel*

In den Straßen hier und da noch
Geruch armer Leute. Bunte Fassaden
wollen Geschichte vergessen machen,
Geschichte, die nicht vergehen kann,
sich eingenistet hat ins Mauerwerk,
Mal des Jahrhunderts.

Und du weißt,
deine Schritte führen dich
durch die Welt der Verschwundenen,
du betrittst den Straßengranit
in den Tod, verstört von so viel
beflissener Jetztzeit.


*das ehemals jüdische proletarische Viertel
rund um den Alexanderplatz

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#2

RE: Berlin, Scheunenviertel

in Gesellschaft 25.09.2016 19:06
von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte

Zitat von Antigone im Beitrag #1
Berlin, Scheunenviertel*

In den Straßen hier und da noch
Geruch armer Leute. Bunte Fassaden
wollen Geschichte vergessen machen,
Geschichte, die nicht vergehen kann,
sich eingenistet hat ins Mauerwerk,
Mal des Jahrhunderts.

Und du weißt,
deine Schritte führen dich
durch die Welt der Verschwundenen,
du betrittst den Straßengranit
in den Tod, verstört von so viel
beflissener Jetztzeit.


*das ehemals jüdische proletarische Viertel
rund um den Alexanderplatz

oder aber du weißt es nicht, wo deine Schritte dich hinführen. ich jedenfalls wußte bisher nichts von diesem Viertel. als ich über den Alexanderplatz latschte, wußte ich noch nicht mal ob das ein Stadtteil aus dem ehemaligen Osten oder einer aus dem Westen sei, wenn es mir keiner gesagt hätte. mir kam das alles gleich schäbig vor.

hallo Antigone

bei der zweiten Strophe ging ich da also nicht mit. außerdem ist mir „Straßengranit in den Tod“ viel zu dick und pathetisch aufgetragen. ich hatte kurz an die Stolpersteine denken müssen, die ich in manchen Städten ins Pflaster verlegt fand.
und ich habe mich jetzt ein wenig informiert über das Scheunenviertel.

„verstört von so viel / beflissener Jetztzeit“ (empfand ich dennoch als stimmigen Tenor, hier, des lyrischen Ichs) kann, denke ich, nur jemand sein, der Bescheid weiß, wo er mit seinen Tretern hinlatscht. es sollte also nicht "du weißt" sondern "ich weiß" heißen, glaube ich.

Gruß
Alcedo

http://www.stolpersteine.eu

http://www.berlin1.de/berlin-sehen/gesch...he-welt-2013538


e-Gut
zuletzt bearbeitet 25.09.2016 19:13 | nach oben

#3

RE: Berlin, Scheunenviertel

in Gesellschaft 26.09.2016 07:44
von Antigone | 85 Beiträge | 85 Punkte

Danke, Alcedo, für den Kommentar. Rückfrage: Du bist kein Berliner? Für dein Nichtwissen über Berliner Verhältnisse wärest du als westdeutsches Geschöpf entschuldigt.

Nein, ich spiele bewusst nicht auf Stolpersteine an (habe ich dort überhaupt nicht gefunden), sondern auf den blanken Granit, mit dem vor dem Krieg eigentlich ganz Berlin gepflastert war. In den Seitenstraßen des Alexanderplatzes findet man ihn teilweise noch. Im Scheunenviertel steht die im Krieg ausgebrannte Große Synagoge, die im hinteren Teil wieder ausgebaut wurde und heute als Gebetsraum benutzt wird.
In der Sophienstraße wird an Hausmauern namentlich vielfach an die ehemaligen Bewohner erinnert, dort befindet sich auch das Jüdische Gymnasium, heute wieder jüdische Schule. Und dann gibt es noch den alten jüdischen Friedhof, der als solcher aber kaum erkennbar ist, es gibt nur einen einzigen Grabstein, ich glaube, von Moses Mendelsohn. Dort mussten sich die jüdischen Bewohner sammeln, um nach Auschwitz abtransportiert zu werden. Alfred Döblin hat in "Berlin Alexanderplatz" diese Gegend in den zwanziger Jahren beschrieben, mit all ihrem Lumpenproletariat, den Kriminellen, den Säufern und Huren, der schreienden Armut. Eine Straße fand ich, habe mir ein paar Häuser innen angesehen, die sehen noch genauso aus wie zur Zeit des ersten Weltkrieges. Ansonsten ist ja alles verändert. In der Hirtenstraße wohnten Bekannte von mir, ein völlig verbautes Haus mit einer Patina von Neunzehnhundert. Das ist heute alles aufgehübscht worden, noch immer wohnen nicht die reichen Leute da, nur die Mieten sind reichhaltig geworden. Übrigens spielt der Film "Rosenstraße" auch in dieser Gegend. Schon interessant, wenn man die Geschichte der Gegend kennt. Ich habe eine ganze Reihe von Berliner Gegenden mir angesehen und dazu etwas geschrieben. Das Gedicht gehört dazu.

Zum Ich: Das Du ist schon richtig, wenn du die Gedanken des Ich als eine Art Gespräch des Ich mit sich selbst verstehst oder als indirekten Versuch einer "Stadtführung". Ich finde das Du aussagekräftiger als das Ich.

Gruß, Antigone

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#4

RE: Berlin, Scheunenviertel

in Gesellschaft 29.09.2016 22:45
von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte

ja, kein Berliner, Antigone. aber ich verwehre mich auch gegen „westdeutsches Geschöpf“. ich kam 1989, als 23-jähriger nach D, und komme noch weiter aus dem Osten als du.

Danke für die Erläuterungen. über den ehemaligen jüdischen Friedhof Olosig in Großwardein habe ich mal hier geschrieben: Im Anstand auf die Nachtigall
der ist heute leider auch nicht mehr existent.

zum Ich: ich fände ein „Ich“ hier, authentischer, ehrlicher und aussagekräftiger als ein Du. beim Selbstgespräch des Ichs mit einem (ab)gespaltenen selbst, gehe ich ja noch freiwillig mit, aber den, dem „Du“ implizierten, indirekten Versuch, mich Leser, zu irgend etwas zu leiten oder zu führen, nehme ich als versuchte Manipulation wahr. deshalb sträube ich mich da entschieden gegen jedwelche Vereinnahmung und so etwas kann sich dann schlagartig, für mich, von guter zu schlechter Literatur wandeln. das Ich wäre deshalb hier, für mich die bessere Wahl.

habs mal ganz konkret ausprobiert:
#Und ich weiß,
#meine Schritte führen mich
#durch die Welt der Verschwundenen,
#ich betrat den Straßengranit
#verstört von so viel
#beflissener Jetztzeit.


Und ich weiß,
meine Schritte führen
durch die Welt der Verschwundenen,
ich betrete den Straßengranit
verstört von so viel
beflissener Jetztzeit.


ja, so klänge es definitiv unmissverständlicher, unmittelbarer, ehrlicher, kräftiger, also besser, für mich.

Gruß
Alcedo


e-Gut
zuletzt bearbeitet 29.09.2016 22:49 | nach oben

#5

RE: Berlin, Scheunenviertel

in Gesellschaft 30.09.2016 06:58
von Antigone | 85 Beiträge | 85 Punkte

Danke, Alcedo, für die nochmalige Beschäftigung mit dem Gedicht. Dass du kein "westdeutsches Geschöpf" bist, kann ich ja nicht wissen, gewöhnlich bin ich die einzige Ostdeutsche unter vielen Westdeutschen. Auslandsdeutscher? Ich hoffe, das ist geklärt.

Nein, ich halte das "Ich" hier zwar für möglich, aber ... Was meine ich mit dem Aber? Das Problem daran ist, dass kaum noch ein Berliner weiß, welcherart Leben rund um den Alex bis zu den Nazis sich hier abspielte.
Die meisten halten nämlich allein die Oranienburger Straße mit der Synagoge und dem koscheren Restaurant und dann noch eine Nebenstraße für das Scheunenviertel. Aber es war ein großes armes Viertel, noch heute, wenn man hinter die Tünche sieht, erkennt man das, falls man genau hinsieht. Aber das kannst du natürlich nicht wissen. Mit dem Du spreche ich den Leser an, deshalb habe ich es gewählt, und mich nicht auf meine eigene kleine Person konzentriert. Mit Manipulation oder Unehrlichkeit hat das überhaupt nichts zu tun, doch mal ehrlich, ein bisschen Erklärung ist mitunter gar nicht so falsch in der heutigen Zeit. Aber ich würde aufs Du nicht unbedingt bestehen. Zumal in der Lyrik jetzt ein Trend besteht, völlig ohne das Ich auszukommen.

Danke für deine Version, ich halte sie weder für besser noch für schlechter. Aber ich freue mich, dass du dir Gedanken gemacht hast.

Deinen Text habe ich noch nicht gelesen, wenn du es willst, schreibe ich dir dazu etwas.

Gruß, Antigone


P.S. Zum Thema Jüdischer Friedhof stelle ich dir mal ein Gedicht ein, das ich vor Jahren geschrieben hatte:


Weißensee, Jüdischer Friedhof

Durch die Reihen der Toten.
Efeugerank, schwarzer Granit,
übermannshoch Stein neben Stein, aufrecht,
als seien sie aufrecht gestorben.

Die großen Familien mit großem Namen.
Jemand kam über den Ozean, legte den
weißen Kiesel auf die Stufen zum Grabmal.
Über sie wird selten wer gehen.

Die Ermordeten in leeren Gräbern.
Wir lesen die Jahreszahlen, die
Schreckensorte: Treblinka, Babi Jar,
Auschwitz.

Auf das Grab des bekannten Dichters
legtest du einen Stein, ich umarmte
die Stele. Neidlos sagtest du: Vielleicht
würde ihm das gefallen.

Ich habe mir inzwischen deinen Text durchgelesen und hätte tatsächlich einige Anmerkungen dazu.
Möchtest du, dass ich sie aufschreibe?

A.

zuletzt bearbeitet 30.09.2016 07:34 | nach oben

#6

RE: Berlin, Scheunenviertel

in Gesellschaft 30.09.2016 22:13
von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte

ja, deine Anmerkungen zu meiner Kurzgeschichte würde ich gerne lesen, A.

schöner Text zum Weißensee-Friedhof. für Babi Jar ist die Jahreszahl zufällig genau heute: 75. seit mehr als 75 Jahren ist nun der Tod ein Meister aus Deutschland. habe heute diesen Artikel gelesen mit einem interessanten Interview mit dem Historiker Timothy Snyder, der sich gerade dort in Kiew aufhält: http://www.spiegel.de/einestages/timothy...-a-1113924.html
laut Snyder hat der Holocaust dort in Kiew begonnen wo, wie zuvor mit den ungarischen Juden in Kamenez-Podolsk, alle Dämme gebrochen waren.

aber zurück zum Topic:
freut mich dass du nicht auf das Du bestehst. und was die Trends betrifft: die kommen doch und gehen. aber Lyriker sollten so oft wie möglich Ich sagen in ihrer Lyrik, das erwarten wir doch alle von ihnen um uns selbst mit diesem Ich zu vergleichen, auf Deckungsgleichheit, Ähnlichkeiten, Differenzen.

Gruß
Alcedo


e-Gut
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#7

RE: Berlin, Scheunenviertel

in Gesellschaft 01.10.2016 19:02
von Antigone | 85 Beiträge | 85 Punkte

Lieber Alcedo,

was den Holocaust angeht, da ist der Herr Snyder offensichtlich nicht wirklich informiert. Er begann in Deutschland, Stichworte antijüdische Gesetze, Konzentrationslager, "Reichskristallnacht", nicht erst in der Ukraine. Dort sind jetzt die Täter wieder zugange, die ganze Welt sieht das, nur die deutsche Bundesregierung und die Grünen brauchen wahrscheinlich Vergrößerungsgläser. Dass manche Leute immer ihre "Überzeugungen" in die Welt blasen müssen, kann zu diplomatischen Verwicklungen und Pickeln führen.

Wann ich Ich schreibe, wann Du, wann Wir, das hängt für mich immer von Plot und Thema ab. Ich habe zu viele Ich-Gedichte gelesen, die nicht weiter als über ihre Wimpern hinaussahen, dass ich es als ganz angenehm empfinde, wenn da mal kein Ich über seinen Bauchnabel philosophiert.

Zu deinem Text schreibe ich morgen was.

Gruß, Antigone

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#8

RE: Berlin, Scheunenviertel

in Gesellschaft 06.10.2016 09:48
von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte

hallo Antigone

deine Spitzen gegenüber Berliner Regierung, Parteien und Ukrainekonflikt erscheinen mir hier deplatziert und nicht nachvollziehbar.

Snyder mit seinem „Bloodlands“-Konstrukt (diese Ansicht teile ich auch nicht) kann man natürlich durchaus auch kritisch sehen, aber du, Antigone, mach das doch bitte selbst mit Snyder aus. mir erschien seine These im obigen Spiegel-Artikel diesbezüglich jedenfalls schlüssig: erst die Zerstörung von Staaten, wie Polen, Tschechoslowakei und weiter ließ ein anarchisches Vakuum entstehen, einen gesetzlosen Raum, welcher den Holocaust letztlich ermöglichte. natürlich wurde der von D aus erdacht, geplant und eingeleitet. aber die Umsetzung erfolgte größtenteils dort, außerhalb. über dessen Singularität brauchen wir doch gar nicht zu diskutieren. da blasen doch alle ins gleiche Horn, zumindest alle die du bei deinem Rundumschlag aufzählst (muss das sein?). und ich auch. Celan hat es in seiner Fuge dichterisch komprimiert: der Meister kommt aus D.

Celans Zerrissenheit beruhte auf die Geschehnisse eben jener Tage. er hatte es nie überwinden können, seine Familie dort in der Ukraine zurückgelassen zu haben. seine Eltern starben 1942 im Lager Michailowka, unweit von Kiew, seine Mutter von einem SS-Mann erschlagen. bezeichnend, dass er später gerade aus dem deutschen Raum als Meisterplagiator verhöhnt wurde und gar ausgelacht in Niendorf bei seinem Vortrag der Todesfuge, weil die Zuhörer der Gruppe 47 mit seinem „Singsang“ nichts anzufangen wussten.

Gruß
Alcedo


e-Gut
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#9

RE: Berlin, Scheunenviertel

in Gesellschaft 10.10.2016 17:22
von Antigone | 85 Beiträge | 85 Punkte

Lieber Alcedo,

ich bedanke mich für die Belehrung, was ich schreiben sollte und was nicht. Vergiss nicht, du warst es, der den Pseudohistoriker Snyder erwähnt hat. Und die Ukraine kam auch von dir. Da ist es doch unter heutigen Verhältnissen ganz normal, dass man diese im Zusammenhang mit den entsetzlichen Verbrechen in Babi Jar aus der Thematik nicht ausschließen kann. Du kannst es, vielleicht bist du da etwas unempfindlicher als ich.

Danke auch für die Story um Celan. Die ist mir seit mindestens 40 Jahren nicht neu, aber gut, dass du sie mir noch mal erzählt hast. Doppelt hält besser.

Gruß, Antigone

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