#1

Wolkenseidenmeer

in Natur 06.06.2017 00:22
von Artbeck Feierabend | 119 Beiträge | 72 Punkte

Wolkenseidenmeer

Am Rande mokkadunkler Mooresflächen
Erzittern windzerzupfte Sommerflocken
Im stillen Moll versunk‘ner Kirchturmglocken.
Das Wolkenseidenmeer bezeugt Verbrechen.

Die Alten pflegten hier den Torf zu stechen,
Und was sie fanden, lässt den Atem stocken.
Im Geiste leg ich nun die Sümpfe trocken
Und höre nachts im Traum das Wollgras sprechen:

Wir woben seit Äonen Leichentücher
Aus unsren Toten - eure Opfer sanken,
Wir balsamierten sie im Erdfallwasser.

Wie lange wüten schon die Bruderhasser!
Ergründe dieser Menschen Schlussgedanken
Und lies vom Schmerz, gepresst in Wollgrasbüchern.

zuletzt bearbeitet 25.06.2017 18:22 | nach oben

#2

RE: Wolkenseidenmeer

in Natur 09.06.2017 14:49
von mcberry • Administrator | 3.230 Beiträge | 3490 Punkte

Finde ich klasse, Artbeck Feierabend,

und trifft in stiller Anmut, unprätentiös, den oft melancholischen Stil eines überzeitlichen Bildes.
Drei Stolpersteine:

"Wie ewig lärmt Gebrüll der Menschenhasser!" erweist letzteren zu viel der Ehre.
Menschen sind nicht ewig, -hasser schon gar nicht.

"Wir woben seit Äonen Leichentücher /Aus unsren Toten;" meint abgestorbene Wollgrasfasern, ja?
Mußte ich 2x lesen um zu raffen, daß die Zeile zwischen unsren Toten und euren Opfer die Kategorie wechselt.

"Gedenke ... letzter Gedanken" scheint mir wegen der Verdopplung sprachlich holprig. Kriegst du eleganter hin.

Insgesamt ein Super Sonett. Gerne gelesen. HG - mcberry

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#3

RE: Wolkenseidenmeer

in Natur 10.06.2017 21:14
von Artbeck Feierabend | 119 Beiträge | 72 Punkte

Guten Abend, mcberry!

Vielen Dank für dein Lob und für deine konstruktive Kritik! Habe mich sehr darüber gefreut, zumal es mein erstes Sonett ist und ich diese Form recht schwierig fand.

Die beiden Terzette setze ich kursiv, um den Perspektivwechsel stärker zu verdeutlichen.

Dein Einwand

Zitat
"Wie ewig lärmt Gebrüll der Menschenhasser!" erweist letzteren zu viel der Ehre.
Menschen sind nicht ewig, -hasser schon gar nicht.

überzeugt mich. Den zwölften Vers habe ich entsprechend geändert.

Und genau! Die abgestorbenen Wollgrasfasern bilden zusammen mit den Torfmoosen die Grundlage für die Moore und die entsprechende spätere Torfdecke, unter der dann auch Moorleichen gefunden werden… so zum Beispiel im Emsland der „Rote Franz“ oder der „Tollundmann“ in Dänemark.

Der vorletzte Vers klingt wirklich holprig – Das „Gedenke“ habe ich jetzt durch „Ergründe“ ersetzt. Hoffe, der doppelte Genitiv geht so...

Gruß,
Artbeck

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#4

RE: Wolkenseidenmeer

in Natur 11.06.2017 16:24
von yaya (gelöscht)
avatar

Zitat
Ergründe deiner Brüder letzter Gedanken
Und lies vom Schmerz, gepresst in Blütenbüchern.


Hallo Artbeck Feierabend,

der Text gefällt. Da Schlußzeilen besonderes Gewicht haben, bitte noch einmal genau hinsehen:
S4Z2 steht im Akkusativ: Ergründe deiner Brüder letzte (r) Gedanken
und S4Z3 ist missverständlich: soll ich lesen, während ich in Blütenbüchern gepresst werde?

Kann man alles auch machen. Schönes Restwochenende von Yaya

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#5

RE: Wolkenseidenmeer

in Natur 11.06.2017 20:57
von Artbeck Feierabend | 119 Beiträge | 72 Punkte

Guten Abend, yaya!

Du hast völlig recht, das "Ergründen" erfordert natürlich im Gegensatz zum "Gedenken" den Akkusativ - da war ich wohl zu dösig! Ändere ich jetzt! Deine Überlegungen zum letzten Vers behalte ich im Hinterkopf, werde mir da noch eine Alternative überlegen.

Vielen Dank fürs genaue Hinschauen und Lektorieren!

Dir noch einen schönen Sonntag Abend!

Gruß,
Artbeck

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#6

RE: Wolkenseidenmeer

in Natur 24.06.2017 17:03
von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte

Zitat von Artbeck Feierabend im Beitrag #1
Wolkenseidenmeer

Am Rande mokkadunkler Mooresflächen
Erzittern windzerzupfte Sommerflocken
Im stillen Moll versunk‘ner Kirchturmglocken.
Das Wolkenseidenmeer bezeugt Verbrechen.

Die Alten pflegten hier den Torf zu stechen,
Und was sie fanden, lässt den Atem stocken.
Im Geiste leg ich nun die Sümpfe trocken
Und höre nachts im Traum das Wollgras sprechen:

Wir woben seit Äonen Leichentücher
Aus unsren Toten - eure Opfer sanken,
Wir balsamierten sie im Erdfallwasser.

Wie lange wüten schon die Menschenhasser!
Ergründe deiner Brüder letzte Gedanken
Und lies vom Schmerz, gepresst in Blütenbüchern.




hallo Art

origineller Versuch, habe ich so noch nie gelesen. nur bei Hermann Löns mal was entfernt ähnliches ( sein Sommer: http://www.gedichte-fuer-alle-faelle.de/...dicht_1296.html )

bloß erscheint es mir hier bei dir, als hättest du viel zu viel versucht auszumalen in diesen knappen, formalen Sonett-Zeilen, so las es sich für mich insgesamt.

dabei sind die einzelnen Bilder durchaus ansprechend. möchte mal versuchen es für mich aufzudröseln und zähle auf, nach meinem Lesegefallen, als hervorragend:
- mokkadunkle Moorflächen ist ein trefflicher Vergleich, weil so wie der Kaffeesatz dieses Getränkes, so erschienen mir auch Farbe und Beschaffenheit des Wassers, welches ich aus solchen Tümpeln in meine Handfläche schöpfte, etwa am Eversmeer.
- einzelne erzitternde windzerzupfte Wollgrasbüschel
vereinigt im
- Wolkenseidenmeer (was auch als Spiegelung der Wolken in den Wasserflächen der Moore gesehen werden kann) das ergibt mir schöne expressionistische Tupfer, verschwommen aus der Nähe, realiter als real, aus einigen Schritten Entfernung. so wie ein Sonnenblumenfeld, gemalt von van Gogh, beim Betrachter mehr Emotionen auslösen kann als ein reales Sonnenblumenfeld, so holst du mir hier die Essenz aus dem wogenden Wollgras, Art.
- Sumpftrockenlegung im Geiste bildgewaltig in der ersten Ebene durch den evozierten Torfabbau, da laufen mir sämtliche Kopfkinos an, zu diesem Thema und surren mir abstrahiert in der zweiten Ebene mit: sich die Grausamkeiten in aller Deutlichkeit auszumalen und sich ihnen Stellen im freien Gedankenfluss, in nachdenklicher, historischer Reminiszenz unseres grausamen Geschlechtes - es ist da, alles da in diesen Zeilen.
- Personifizierung des Sauergrases (Moorwasser schmeckt sauer wegen dieses Wollgrases). es hebt an zu sprechen, erhebt Anklage in kursiver Synthese und stößt (uns) Menschenhassern die mumifizierten Grausamkeiten die wir uns selbst angetan haben, vor die Nase.
- das Wollgras als Weber des konservierenden Leichentuchs für die Moorleichen
- eure Opfer versus unsere Toten: Melange einer abstrakten Anklage für die Zeile, die so trefflich passt wie Milch im Mokka
- das Wüten der Menschenhasser: wirkt mit der Akklamation wie ein aus dem Moor geborgenes „Guernica“ auf den Betrachter - als erschütterndes Statement gegen Gleichgültigkeit und für Humanität.
- Ergründe: Versuch der Aufschlüsselung, rechtsmedizinischer Aufklärung von Verbrechen in der vorletzten Zeile

aus dem Rahmen fallen mir hingegen folgende Bilder:

- gleich in der Überschrift: Seide hadert mir hier mit der später heraufbeschworenen Wolle. warum nicht gleich das Ganze Wollgrassonett nennen? oder Wollgras-Sonett um die drei Konsonantendoppelungen zu vermeiden.

- Glocken? versenkte Kirchturmglocken? auch wenn sie sich tatsächlich mal im Moor befinden (was wurde da nicht versenkt?), sie evozieren eine weitere, zusätzliche religiöse Ebene, die mich von Tollundmann, Uchter-Moor-Mädchen und übertötetem Old-Croghan-Mann zeitlich entfernen. und warum lässt du die Glocken zudem auch noch anklingen? in „Moll“? reicht die Wollgrassynthese denn nicht schon völlig als Anklage? musst du das schon in der Darstellung und der Gegendarstellung (mit „Die Alten“) auffächern?

- Äonen? das ist erstens auch ein theologischer Begriff und geologisch dann doch nicht passgenau genug, denke ich. diese Moorleichen sind doch lediglich einige Jahrtausende alt. für Erdzeitalter-Maßstäbe doch eher wenig. willst du die Äonen da wirklich haben?

- Erdfallwasser <= erschließt sich mir nicht spontan. möglicherweise habe aber auch nur ich Probleme damit. hatte da an unterspülte Erdrutsche denken müssen oder an trichterförmige Karstversickerungen, sogenannte Dolinen. hm, ja, vermutlich ist schlicht versickerndes Regenwasser gemeint. und es klingt ja tatsächlich besser als „Sickerwasser“. also gut, vergiss das bitte wieder.

- Blütenbücher: das ist einmal schön als botanisches Herbarium, beisst sich mir aber insofern ich ja auch keine Käfer ins Herbarium pressen möchte, oder Moorleichenteile.

- Brüder? es könnten doch auch Schwestern sein. schlimmer aber der moralische Schwitzkasten der sich mir beim Lesen anbiedert durch diese „Verbrüderung“. das ist viel zu wertend für mich.

gute Textarbeit habt ihr bisher gemacht. zusätzlich dazu noch ein Vorschlag gegen die Verbrüderung und um das Metrum in der vorletzten Zeile zu halten:
statt
Ergründe deiner Brüder letzte Gedanken

vielleicht so:
Ergründe dieser Menschen Endgedanken

oder so:
Ergründe dieser Menschen Schlussgedanken

dann müsste aber auch die vorherige Zeile geändert werden, wegen der Menschen. wie wäre denn da dann der Bruder:
Wie lange wüten schon die Bruderhasser!

Ergründe dieser Menschen Schlussgedanken

Und lies vom Schmerz, gepresst in Wollgrasbüchern.


Gruß
Alcedo


e-Gut
zuletzt bearbeitet 24.06.2017 17:10 | nach oben

#7

RE: Wolkenseidenmeer

in Natur 25.06.2017 18:15
von Artbeck Feierabend | 119 Beiträge | 72 Punkte

Hallo, Alcedo!

Ganz herzlichen Dank für deine detaillierte Rückmeldung! Weiß den Aufwand sehr zu schätzen!

Stimme dir zu, vielleicht wird zu viel auf einmal angerissen. Beim nächsten Sonett werde ich versuchen, das Thema stärker zu fokussieren. Jetzt möchte ich auf deine konstruktiven Vorschläge eingehen:

- Seide und Wolle sind nicht wirklich kompatibel, aber ich habe mich so für den Titel entschieden, weil er eingangs den Blick auf die Totale, den Horizont lenken soll; „Wollgras-Sonett“ klingt etwas enger gefasst, deswegen würde ich den Titel (fürs Erste) so belassen.

- Über die versunkenen „Glocken“ habe ich auch lange nachgedacht (aus den gleichen Gründen wie du), habe sie aber beibehalten, weil sie für mich so etwas wie eine Brücke zwischen Bronzezeit und Moderne symbolisieren (dunkles Mittelalter, Dreißigjähriger Krieg…). Das ist vielleicht zu viel gewollt.

- Die Äonen:

Zitat
Äonen? das ist erstens auch ein theologischer Begriff und geologisch dann doch nicht passgenau genug, denke ich. diese Moorleichen sind doch lediglich einige Jahrtausende alt. für Erdzeitalter-Maßstäbe doch eher wenig. willst du die Äonen da wirklich haben?

Hatte mir das gleichbedeutend mit „seit Menschengedenken“ zurechtgelegt, möchte aber nicht auf diesen Begriff beharren … Danke für den Hinweis!

Alles, was du zu den Blütenbüchern und den Brüdern geschrieben hast, kann ich gut nachvollziehen.
Dein Vorschlag fürs letzte Terzett gefällt mir richtig gut, besonders aus den Gründen, die du oben genannt hast und der metrische „Stolperer“ ist dann auch ausgebügelt:

Zitat
dann müsste aber auch die vorherige Zeile geändert werden, wegen der Menschen. wie wäre denn da dann der Bruder:
Wie lange wüten schon die Bruderhasser!

Ergründe dieser Menschen Schlussgedanken

Und lies vom Schmerz, gepresst in Wollgrasbüchern.


Das werde ich jetzt so ändern. Insbesondere über deine Bezüge und Assoziationen zur Kunst habe ich mich sehr gefreut. Danke auch für den Hermann Löns-Link – interessant und schön morbide die letzte Strophe!

Gestern lief zufällig (!) auf Arte eine Sendung mit dem Titel „Moorleiche“(die habe ich verpasst und noch nie gesehen, aber es gibt noch Wiederholungen): http://programm.ard.de/TV/Programm/Jetzt...=28724151443429

Gruß,
Artbeck

zuletzt bearbeitet 25.06.2017 18:24 | nach oben

#8

RE: Wolkenseidenmeer

in Natur 29.06.2017 06:37
von Wilhelm Pfusch • Administrator | 2.006 Beiträge | 2043 Punkte

Hallöchen, ich muss vorwegnehmen, mir gefällt dieses Gedicht sehr, und umso mehr, ist mein Zugang darauf beschränkt, es in andere Gefilde abzulenken; wofür ich mich entschuldigen möchte.

Es steckt sehr viel drin, gerade das gefällt mir, das ist starke Verdichtung. Meine Gedanken dazu möchte ich so anlehnen:

Wolkenseidenmeer
Falkenscheidenpier

Am Rande mokkadunkler Mooresflächen Im Stande ockerdunkle Meeresflecken,
Erzittern windzerzupfte Sommerflocken Bezwitschert wie zerrupfte Nonnenglucken,
Im stillen Moll versunk‘ner Kirchturmglocken. Vertäut und toll betrunken gradzurücken -
Das Wolkenseidenmeer bezeugt Verbrechen. Der Falkenscheidenpier betreut Erwecken.

Die Alten pflegten hier den Torf zu stechen, Wir wollten, wagten hier, das Dorf zu schrecken,
Und was sie fanden, lässt den Atem stocken. Wie wir uns wanden, nässt des Watens Lücken -
Im Geiste leg ich nun die Sümpfe trocken Im Fenn, wo wir die Trümpfe gerne zücken,
Und höre nachts im Traum das Wollgras sprechen: Und stören, wach im Traum, des Wagens Ecken:

Wir woben seit Äonen Leichentücher Wir loben dreist Trillionen weiche Bücher,
Aus unsren Toten - eure Opfer sanken, Aus unsr'en Schloten - teure Töpfer tranken,
Wir balsamierten sie im Erdfallwasser. Die allfalls gierten, bis in Weltallmassen.

Wie lange wüten schon die Bruderhasser! Zur Stange! Wo die Luder sich verprassen!
Ergründe dieser Menschen Schlussgedanken Entgründe dieser Marsche Flussbetanken
Und lies vom Schmerz, gepresst in Wollgrasbüchern. Und gieß ins Herz, vergiss doch deinen Riecher.




E-LITEratum: reimt Laute - traut Meile - Mut elitaer - eitel Armut - Traum leite - Eile tut Arm - Reimtet lau - Laut Metier - Maul eitert - Team Urteil
zuletzt bearbeitet 29.06.2017 18:42 | nach oben

#9

RE: Wolkenseidenmeer

in Natur 02.07.2017 01:43
von Artbeck Feierabend | 119 Beiträge | 72 Punkte

Hallo, Wilhelm Pfusch!

Freut mich, dich auf diesem Wege kennenzulernen!

Schön, dass du durch dein Parallelgedicht Humor in die Bierernsthaftigkeit hineinbringst und sich so viele Assoziationen einstellen! Besonders schmunzeln musste ich über deinen Vers

Zitat
Bezwitschert wie zerrupfte Nonnenglucken


Interessant: Den Begriff “ocker...“ wollte ich tatsächlich ursprünglich verwenden!

Vielen Dank fürs Ablenken “in andere Gefilde“!

Man hört und liest!

Gruß,
Artbeck

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