#1

Steinbruchmorgenluft (Haiku)

in Minimallyrik 16.08.2017 23:52
von Artbeck Feierabend | 119 Beiträge | 72 Punkte

Steinbruchmorgenluft
die Kinder klopfen leise
Atemzüge frei

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#2

RE: Steinbruchmorgenluft (Haiku)

in Minimallyrik 18.08.2017 05:26
von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte

hallo Art

Zitat von Artbeck Feierabend im Beitrag #1
Steinbruchmorgenluft
die Kinder klopfen leise
Atemzüge frei
das funktioniert bei mir nicht. es entsteht zwar ein Bild, ein schönes und originelles sogar (Kinder, die selbstversunken in einem Steinbruch, in freigelegten Schieferplatten, nach Dino-Knochen oder Haizähnen suchen und bereit sind jeden Ammonitenabdruck und bald jeden in Frage kommenden Steinsplitter, zu solchen zu erklären), aber es zerstiebt mir alleine schon dadurch, dass ich mich dann frage, ob dieser Atemzug jetzt eine Metapher sein soll, und wenn ja, wofür? und soll ich jetzt dieses „leise“ als Apokoinu, also doppelt lesen, oder nicht?

auch vermisse ich einen engeren jahreszeitlichen Bezug. die Atemluft kann ja, bei entsprechender Luftfeuchtigkeit, ab 14-15 Grad Celsius abwärts, kondensieren und sichtbar werden. das ist morgens, bei uns in Mitteleuropa, an mindestens 9, wenn nicht 10 Monaten im Jahr möglich.

Gruß
Alcedo


e-Gut
zuletzt bearbeitet 18.08.2017 05:26 | nach oben

#3

RE: Steinbruchmorgenluft (Haiku)

in Minimallyrik 18.08.2017 13:38
von chip | 433 Beiträge | 461 Punkte

wenn du es mir erklärst, alcedo, fängt der text fast an, mir zu gefallen.
aber die zeilen funktionieren für mich auch mit hart arbeitenden erwachsenen. tschüs chip

über dem klopfen
kondensierte Atemluft
morgens im Steinbruch

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#4

RE: Steinbruchmorgenluft (Haiku)

in Minimallyrik 20.08.2017 12:10
von Artbeck Feierabend | 119 Beiträge | 72 Punkte

Guten Morgen, Alcedo!

Ja, du hast Recht – das „Freiklopfen der Atemzüge“ war als offene Metapher gedacht und es freut mich, dass sich bei dir ein Bild von „Kindern, die selbstversunken“ nach Fossilien suchen, einstellte, denn so war es auch intendiert. In der Fantasie der Kinder werden die Versteinerungen durch das Freilegen lebendig, sie atmen wieder und diese Spannung liegt in der Luft …

… aber hier fange ich an, zu erklären, wo es doch gerade im Haiku selbsterklärend sein soll. Im Nachhinein stimme ich deinen Einwänden zu! Wenn es ein Haiku sein soll (und meins hier ist wohl nur ein „Grenzgänger“...), dann gehört eine (solche) Metapher dort wohl nicht hin; da muss ich in Zukunft mit konkreteren Naturbildern arbeiten und sie effektiver gegenüberstellen.

Was den von dir angesprochenen „engeren jahreszeitlichen Bezug“ betrifft, bin ich mir nicht sicher, wie „streng“ dies noch zu berücksichtigen gilt, solange Naturphänomene im Mittelpunkt stehen; glaube, es gibt unterschiedliche Strömungen, aber da stehe ich auf wackeligen Füßen. Deine Anregungen möchte ich jedenfalls gerne in Zukunft umsetzten und dazulernen.

Vielen Dank für deine Auseinandersetzung mit dem Text!

Gruß,
Artbeck

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#5

RE: Steinbruchmorgenluft (Haiku)

in Minimallyrik 20.08.2017 12:31
von Artbeck Feierabend | 119 Beiträge | 72 Punkte

Guten Morgen, Chip!

Deine Version gefällt mir sehr gut - sie ist, im Sinne eines Haikus, das ist mir jetzt klar, bildlich viel konkreter angelegt, auch wenn es offen bleibt, ob es Kinder oder Erwachsene sind, die da hämmern.

Vielen Dank für deinen Beitrag!

Gruß,
Artbeck

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#6

RE: Steinbruchmorgenluft (Haiku)

in Minimallyrik 03.09.2017 08:15
von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte

hallo Art

von mir wirst du ein: „das geht nicht“, was Metaphern bei der Materie betrifft, nicht hören. im Gegenteil - ich finde es mutig, richtig und konsequent dass du es ausprobierst. die wenigsten wissen wahrscheinlich, dass sich bereits Rilke* an der Quadratur des metaphorischen Kreises bei Hai-Kais (den Begriff Haiku gab es damals noch nicht) versucht hatte. er war so angetan von dieser extrem verdichteten Naturlyrik, die aus dem Land der aufgehenden Sonne in unser dunkles Abendland geschwappt war, dass er sogar verfügt hatte, einen selbst gestalteten Haiku-Versuch auf seinen Grabstein meisseln zu lassen. ich hatte den seinerzeit hier festgehalten: Rainer Maria Rilke (1875 - 1926) (3)
freilich ist es nicht das stärkste Stück Lyrik aus Rilkes Repertoire geworden, aber ich möchte gar nicht wissen, wie sehr der Steinmetz die Zeilenumbrüche noch verhunzt hätte, wenn er eines seiner Sonette in den hellen Stein hätte meisseln müssen. Platz genug wäre ja da gewesen . zumindest die letzte Zeile aus dem „Archaïscher Torso Apollos“ wäre, so verhunzt umgebrochen wie diese Raron-Rosen auf dem Grabstein, wohl nicht ohne Witz gewesen.
Die fünf besten Sonette

ein Kigo halte ich für hilfreich bei der Verdichtung und es fokussiert mir eine eventuell entstehende Bilderflut. mir hilft so ein starkes Kigo oft dabei die Bilderflut zu sammeln, um sie erst im breiten Mündungsdelta des Nachhalls, nach und nach lebendig Wirkung entfalten zu lassen.
komm, Art, machen wir doch mal hier die Probe aufs Exempel. nehmen wir doch mal ein starkes abendländisches Kigo und versuchen es hier bei deinem Steinbruchexperiment einzubauen:
was würde sich denn anbieten: Schafskälte, Allerheiligen, Vatertag? jepp

Kondensierte Atemluft
über dem Klopfen 🔨
Vatertag im Steinbruch


na also, hat doch was, finde ich. wie würdest du das finden, Art? und ja, ich mag es sehr Piktogramme einzubauen. kommt mir viel besser als ein dröger Bindestrich zum Beispiel. es entspräche mir hier dem sogenannten Schneidewort (Kireji / 切れ字). da lässt sich sicher auch noch was optisch besseres, schlichteres, schwarzweißes finden.
@chip:
gute Vorarbeit! war so frei, mich einfach daraus zu bedienen.
Dankeschön.

jeder, der sich mit Lyrik befasst, denke ich, wird früher oder später beim Haiku landen, da es sich schlicht um die komprimierteste, verdichtetste Form derselben handelt, speziell der Naturlyrik. Du bist da relativ früh dran, Art, und das gefällt mir. das ist sicher auch einer der Gründe weshalb ich deine Lyrik schätze und liebe und deshalb weiter im Auge behalten werde.

Grüße
Alcedo

http://www.farbspektrum.ch/index.php/rei...1834cc7fe52/jpg

* In einem Brief an Gudi Nölke (verfasst 1920, in Genf) schreibt Rainer Maria über seine Entdeckung des Haiku folgendes: "Kennen Sie die kleine japanische (dreizeilige) Strophe, die "Hai-Kais" heißt?"

edit:
jetzt hast du mich angeregt, eine Definition dazu zu versuchen, Art: Definition: Haiku


e-Gut
zuletzt bearbeitet 03.09.2017 08:53 | nach oben

#7

RE: Steinbruchmorgenluft (Haiku)

in Minimallyrik 08.09.2017 10:00
von Artbeck Feierabend | 119 Beiträge | 72 Punkte

Guten Morgen, Alcedo!

Den von dir vorgestellten - und mir noch neuen - Begriff des Kigos (deutsch „Jahreszeitenwort“) finde ich spannend und hilfreich, weil es offensichtlich darum geht, sich sehr kurz zu fassen, viele Gedankenkomplexe im Zusammenhang mit Jahreszeiten zu evozieren, gleichzeitig aber diese „Bilderflut“ zunächst sinnvoll zu kanalisieren:

Zitat
Alcedo: ... ein Kigo halte ich für hilfreich bei der Verdichtung und es fokussiert mir eine eventuell entstehende Bilderflut. mir hilft so ein starkes Kigo oft dabei die Bilderflut zu sammeln, um sie erst im breiten Mündungsdelta des Nachhalls, nach und nach lebendig Wirkung entfalten zu lassen.


Dein Vorschlag des Kigos „Vatertag“ im Steinbruch beinhaltet all das: Assoziationen, die sich nach und nach einstellen, Verknüpfungen mit dem späten Frühjahr, eine Feiertagstimmung, die Freude eines Vaters und seiner Kinder, wie sie im Flow gemeinsamer Aktivität aufgehen… ja, gefällt mir sehr gut! Auch die Idee mit dem Piktogramm.

Interessant vielleicht ein Vergleich: sehr ähnlich und doch anders das Konzept „des Bildes“ der angelsächsischen Imagisten (die auch von der japanischen Lyrik inspiriert wurden) vor über hundert Jahren, das, wie das Kigo, gleichzeitig auf sprachliche Ökonomie und assoziative Komplexität abzielt, nur dass das „Image“ sich nicht explizit auf eine Jahreszeit beziehen muss, sondern offener angelegt ist und seinen Effekt aus einer überraschenden Gegenüberstellung unterschiedlicher (thematischer) Gegenstände erzielt. Auch wird nicht fokussiert:

Zitat
„An Image is that which presents an intellectual and emotional complex in an instant of time.[…] It is the presentation of such a complex instantaneously which gives that sense of sudden liberation; that sense of freedom from time limits and space limits; that sense of sudden growth, which we experience in the presence of the greatest works of art. It is better to present one Image in a lifetime than to produce voluminous works.“ […] (from Poetry March 1913, A Few Don’ts By An Imagiste, Peter Jones: Imagist Poetry, Penguin 1972)


Insgesamt weist die Naturlyrik der Imagisten eine große Nähe zum Haiku und anderen japanischen Lyrikformen auf, was z. B. die Sprachökonomie betrifft. Es lohnt sich bestimmt, an anderer Stelle noch einmal einen genaueren Blick darauf zu werfen, Beispiele zu finden und zu übersetzen.

Ganz herzlichen Dank, Alcedo, für deine motivierenden und anspornenden Worte sowie die Ausführungen zu Rilke!

Gruß,
Artbeck

zuletzt bearbeitet 08.09.2017 14:10 | nach oben


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