#41

Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

in Rumpelkammer 22.11.2007 16:32
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
Eine von den Alten
(Paris)


Abends manchmal (weißt du, wie das tut?)
wenn sie plötzlich stehn und rückwärts nicken
und ein Lächeln, wie aus lauter Flicken,
zeigen unter ihrem halben Hut.

Neben ihnen ist dann ein Gebäude,
endlos, und sie locken dich entlang
mit dem Rätsel ihrer Räude,
mit dem Hut, dem Umhang und dem Gang.

Mit der Hand, die hinten unterm Kragen
heimlich wartet und verlangt nach dir:
wie um deine Hände einzuschlagen
in ein aufgehobenes Papier.


Die Frau in Rot

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#42

Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

in Rumpelkammer 22.11.2007 22:57
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
Ein Frauenschicksal

So wie der König auf der Jagd ein Glas
ergreift, daraus zu trinken, irgendeines, -
und wie hernach der welcher es besaß
es fortstellt und verwahrt als wär es keines:

so hob vielleicht das Schicksal, durstig auch,
bisweilen Eine an den Mund und trank,
die dann ein kleines Leben, viel zu bang
sie zu zerbrechen, abseits vom Gebrauch

hinstellte in die ängstliche Vitrine,
in welcher seine Kostbarkeiten sind
(oder die Dinge, die für kostbar gelten).

Da stand sie fremd wie eine Fortgeliehne
und wurde einfach alt und wurde blind
und war nicht kostbar und war niemals selten.

Die Frau in Rot

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#43

Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

in Rumpelkammer 29.11.2007 16:00
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
Die Einsamkeit

aus dem Buch der Bilder


Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.

Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig von einander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:

dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen...

Die Frau in Rot

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#44

Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

in Rumpelkammer 01.12.2007 10:13
von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte

Das Karussell

Jardin du Luxembourg

Mit einem Dach und seinem Schatten dreht
sich eine kleine Weile der Bestand
von bunten Pferden, alle aus dem Land,
das lange zögert, eh es untergeht.
Zwar manche sind an Wagen angespannt,
doch alle haben Mut in ihren Mienen;
ein böser Löwe geht mit ihnen
und dann und wann ein weißer Elefant.

Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald,
nur dass er einen Sattel trägt und drüber
ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.

Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge
und hält sich mit der kleinen heißen Hand
dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge.

Und dann und wann ein weißer Elefant.

Und auf den Pferden kommen sie vorüber,
auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge
fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge
schauen sie auf, irgend wohin, herüber -

Und dann und wann ein weißer Elefant.

Und das geht hin und eilt sich, dass es endet,
und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.
Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,
ein kleines kaum begonnenes Profil -.
Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,
ein seliges, das blendet und verschwendet
an dieses atemlose blinde Spiel . . .



Rainer Maria Rilke, Juni 1906, Paris


e-Gut
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#45

Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

in Rumpelkammer 06.12.2007 14:47
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
Vor dem Sommerregen



Auf einmal ist aus allem Grün im Park
man weiß nicht was, ein Etwas, fortgenommen;
man fühlt ihn näher an die Fenster kommen
und schweigsam sein. Inständig nur und stark

ertönt aus dem Gehölz der Regenpfeifer,
man denkt an einen Hieronymus:
so sehr steigt irgend Einsamkeit und Eifer
aus dieser einen Stimme, die der Guß

erhören wird. Des Saales Wände sind
mit ihren Bildern von uns fortgetreten,
als dürften sie nicht hören was wir sagen.

Es spiegeln die verblichenen Tapeten
das ungewisse Licht von Nachmittagen,
in denen man sich fürchtete als Kind.


Aus: Neue Gedichte (1907)

Die Frau in Rot

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#46

Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

in Rumpelkammer 06.12.2007 15:15
von Maya (gelöscht)
avatar
Der Einsame


Wie einer, der auf fremden Meeren fuhr,
so bin ich bei den ewig Einheimischen;
die vollen Tage stehn auf ihren Tischen,
mir aber ist die Ferne voll Figur.

In mein Gesicht reicht eine Welt herein,
die vielleicht unbewohnt ist wie ein Mond,
sie aber lassen kein Gefühl allein,
und alle ihre Worte sind bewohnt.

Die Dinge, die ich weither mit mir nahm,
sehn selten aus, gehalten an das Ihre -:
in ihrer großen Heimat sind sie Tiere,
hier halten sie den Atem an vor Scham.


(Aus: Das Buch der Bilder)
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#47

Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

in Rumpelkammer 06.12.2007 17:13
von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte

KANN mir einer sagen, wohin
ich mit meinem Leben reiche?
Ob ich nicht auch noch im Sturme streiche
und als Welle wohne im Teiche,
und ob ich nicht selbst noch die blasse, bleiche
frühlingsfrierende Birke bin?


Rainer Maria Rilke, 11.1.1898, Berlin-Wilmersdorf

e-Gut
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#48

Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

in Rumpelkammer 12.12.2007 00:03
von bipontina (gelöscht)
avatar


Erneue ihn mit einer reinen Speise,
mit Tau, mit ungetötetem Gericht,
mit jenem Leben, das wie Andacht leise
und warm wie Atem aus den Feldern bricht.

"Das Stundenbuch" (Auszug)
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#49

Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

in Rumpelkammer 12.12.2007 12:34
von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte
FÜRCHTE dich nicht, sind die Astern auch alt,
streut der Sturm auch den welkenden Wald
in den Gleichmut des Sees, -
die Schönheit wächst aus der engen Gestalt;
sie wurde reif, und mit milder Gewalt
zerbricht sie das alte Gefäß.

Sie kommt aus den Bäumen
in mich und in dich,
nicht um zu ruhn;
der Sommer ward ihr zu feierlich.
Aus vollen Früchten flüchtet sie sich
und steigt aus betäubenden Träumen
arm ins tägliche Tun.



Rainer Maria Rilke, um 1900

e-Gut
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#50

Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

in Rumpelkammer 16.01.2008 00:56
von bas[ti]an (gelöscht)
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durch den anderen Faden von Tucholsky...war ich veranlasst noch ein bissle rumzustöbern und das ist jawohl ggg...

Der Magier

Er ruft es an. Es schrickt zusamm und steht.
Was steht? Das Andre; alles, was nicht er ist,
wird Wesen. Und das ganze Wesen dreht
ein raschgemachtes Antlitz her, das mehr ist.

Oh Magier, halt aus, halt aus, halt aus!
Schaff Gleichgewicht. Steh ruhig auf der Waage,
damit sie einerseits dich und das Haus
und drüben jenes Angewachsne trage.

Entscheidung fällt. Die Bindung stellt sich her.
Er weiß, der Anruf überwog das Weigern.
Doch sein Gesicht, wie mit gedeckten Zeigern,
hat Mitternacht. Gebunden ist auch er.
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#51

Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

in Rumpelkammer 06.04.2008 00:35
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte
Der Auszug des verlorenen Sohnes

Nun fortzugehn von alledem Verworrnen,
das unser ist und uns doch nicht gehört,
das, wie das Wasser in den alten Bornen,
uns zitternd spiegelt und das Bild zerstört;
von allem diesen, das sich wie mit Dornen
noch einmal an uns anhängt - fortzugehn
und Das und Den,
die man schon nicht mehr sah
(so täglich waren sie und so gewöhnlich),
auf einmal anzuschauen: sanft, versöhnlich
und wie an einem Anfang und von nah;
und ahnend einzusehn, wie unpersönlich,
wie über alle hin das Leid geschah,
von dem die Kindheit voll war bis zum Rand -:
Und dann doch fortzugehen, Hand aus Hand,
als ob man ein Geheiltes neu zerrisse,
und fortzugehn: wohin? Ins Ungewisse,
weit in ein unverwandtes warmes Land,
das hinter allem Handeln wie Kulisse
gleichgültig sein wird: Garten oder Wand;
und fortzugehn: warum? Aus Drang, aus Artung,
aus Ungeduld, aus dunkler Erwartung,
aus Unverständlichkeit und Unverstand:

Dies alles auf sich nehmen und vergebens
vielleicht Gehaltnes fallen lassen, um
allein zu sterben, wissend nicht warum -

Ist das der Eingang eines neuen Lebens?

(aus ‚ Neue Gedichte‘)

Die Frau in Rot

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#52

Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

in Rumpelkammer 27.07.2008 21:30
von Alcedo • Mitglied | 2.708 Beiträge | 2838 Punkte
Auf dem Friedhof des Bergdorfes Raron in der Schweiz steht auf Rilkes Grabstein, die von ihm, in seinem Testament vom 27. Oktober 1925, festgelegte Inschrift:

Rose, oh reiner Widerspruch, Lust,
Niemandes Schlaf zu sein unter soviel
Lidern.

e-Gut
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#53

Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

in Rumpelkammer 06.09.2008 20:12
von axolotl
Fragmente aus verlorenen Tagen

Wie Vögel, welche sich gewöhnt ans Gehn
und immer schwerer werden, wie im Fallen:
die Erde saugt aus ihren langen Krallen
die mutige Erinnerung von allen
den großen Dingen, welche hoch geschehn,
und macht sie fast zu Blättern, die sich dicht
am Boden halten, -
wie Gewächse, die,
kaum aufwärts wachsend, in die Erde kriechen,
in schwarzen Schollen unlebendig licht
und weich und feucht versinken und versiechen, -
wie irre Kinder, - wie ein Angesicht
in einem Sarg, - wie frohe Hände, welche
unschlüssig werden, weil im vollen Kelche
sich Dinge spiegeln, die nicht nahe sind, -
wie Hülferufe, die im Abendwind
begegnen vielen dunklen großen Glocken, -
wie Zimmerblumen, die seit Tagen trocken,
wie Gassen, die verrufen sind, - wie Locken,
darinnen Edelsteine blind geworden sind, -
wie Morgen im April
vor allen vielen Fenstern des Spitales:
die Kranken drängen sich am Saum des Saales
und schaun: die Gnade eines frühen Strahles
macht alle Gassen frühlinglich und weit;
sie sehen nur die helle Herrlichkeit,
welche die Häuser jung und lachend macht,
und wissen nicht, dass schon die ganze Nacht
ein Sturm die Kleider von den Himmeln reißt,
ein Sturm von Wassern, wo die Welt noch eist,
ein Sturm, der jetzt noch durch die Gassen braust
und der den Dingen alle Bürde
von ihren Schultern nimmt, -
dass Etwas draußen groß ist und ergrimmt,
dass draußen die Gewalt geht, eine Faust,
die jeden von den Kranken würgen würde
inmitten dieses Glanzes, dem sie glauben. -
...... Wie lange Nächte in verwelkten Lauben,
die schon zerrissen sind auf allen Seiten
und viel zu weit, um noch mit einem Zweiten,
den man sehr liebt, zusammen drin zu weinen, -
wie nackte Mädchen, kommend über Steine,
wie Trunkene in einem Birkenhaine, -
wie Worte, welche nichts Bestimmtes meinen
und dennoch gehn, ins Ohr hineingehn, weiter
ins Hirn und heimlich auf der Nervenleiter
durch alle Glieder Sprung um Sprung versuchen, -
wie Greise, welche ihr Geschlecht verfluchen
und dann versterben, so dass keiner je
abwenden könnte das verhängte Weh,
wie volle Rosen, künstlich aufgezogen
im blauen Treibhaus, wo die Lüfte logen,
und dann vom Übermut in großem Bogen
hinausgestreut in den verwehten Schnee, -
wie eine Erde, die nicht kreisen kann,
weil zuviel Tote ihr Gefühl beschweren,
wie ein erschlagener verscharrter Mann,
dem sich die Hände gegen Wurzeln wehren, -
wie eine von den hohen, schlanken, roten
Hochsommerblumen, welche unerlöst
ganz plötzlich stirbt im Lieblingswind der Wiesen,
weil ihre Wurzel unten an Türkisen
im Ohrgehänge einer Toten
stößt.

Und mancher Tage Stunden waren so.
Als formte wer mein Abbild irgendwo,
um es mit Nadeln langsam zu misshandeln.
Ich spürte jede Spitze seiner Spiele,
und war, als ob ein Regen auf mich fiele,
in welchem alle Dinge sich verwandeln.


[Rainer Maria Rilke, 7.11.1900, Berlin-Schmargendorf]
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#54

Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

in Rumpelkammer 26.01.2009 00:25
von Gast 1 (gelöscht)
avatar
.


ABEND

Der Abend wechselt langsam die Gewänder,
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;
du schaust: und vor dir scheiden sich die Länder,
ein himmelfahrendes und eins, das fällt;

und lassen dich, zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt -

und lassen dir (unsäglich zu entwirrn)
dein Leben bang und riesenhaft und reifend,
so daß es, bald begrenzt und bald begreifend,
abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.


.
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#55

RE: Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

in Rumpelkammer 28.03.2009 15:05
von Gast 1 (gelöscht)
avatar

.


Du darfst nicht warten, bis Gott zu dir geht
und sagt: Ich bin.
Ein Gott, der seine Stärke eingesteht,
hat keinen Sinn.
Da mußt du wissen, daß dich Gott durchweht
seit Anbeginn,
und wenn dein Herz dir glüht und nichts verrät,
dann schafft er drin.


.

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#56

RE: Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

in Rumpelkammer 16.01.2010 11:02
von Margot • Mitglied | 3.054 Beiträge | 3055 Punkte

Der Abend ist mein Buch. Ihm prangen
die Deckel purpurn in Damast.
Ich löse seine goldnen Spangen
mit kühlen Händen, ohne Hast.
Und lese seine erste Seite,
beglückt durch den vertrauten Ton, -
und lese leiser seine zweite,
und seine dritte träum ich schon.


aus 'Dir zur Feier' 1897/1998]


Die Frau in Rot

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#57

RE: Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

in Rumpelkammer 05.02.2010 21:03
von Katerchen | 170 Beiträge | 170 Punkte

.

Aus dem Umkreis: Nächte

Gestirne der Nacht, die ich erwachter gewahre,
überspannen sie nur das heutige, meine Gesicht,
oder zugleich das ganze Gesicht meiner Jahre,
diese Brücken, die ruhen auf Pfeilern von Licht?

Wer will dort wandeln? Für wen bin ich Abgrund und
Bachbett,

daß er mich so im weitesten Kreis übergeht-,
mich überspringt und mich nimmt wie den Läufer im
Schachbrett

und auf seinem Siege besteht?


Rainer Maria Rilke - Gedichte an die Nacht
Muzot, Ende September 1924
Variante nach Vorlage




("Nach 1914 tritt das Motiv über Jahre hin seltsam zurück,
ehe es die letzte Nachtdichtung ab 1924 verstärkt wieder
aufgreift und zu einer Höhe führt, die ihre gültige
Entsprechung wohl erst in der Lyrik eines Paul Celan
finden wird." -Carl Sieber-)











.


->perhaps there is nothing in this universe but I self<-

zuletzt bearbeitet 06.02.2010 09:54 | nach oben


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