#1

Aufbruch.

in Diverse 13.06.2008 13:17
von Pog Mo Thon (gelöscht)
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Aufbruch


Ein dunkler Morgen, der nach Abend roch,
sah mich an unbestellten Feldern stehen,
und über diesen eine schwarze Wolke sehen,
die klamm und kalt in meinen Kragen kroch,

mich zittern ließ, zur Eile trieb, jedoch
ich war benommen, zögerte zu gehen,
und wusste doch, es gab kein Wiedersehen
und kein Adieu; was hielt mich also noch

an diesem Ort, dem Dorf? Was kauerte
in dessen Gassen, grinsend, lauerte
mir anderes, als Blasphemie und Spott?

Der Himmel brach, als ich erschauerte,
und fort von dem, was mich ummauerte,
ging ich und ginge ich zu keinem Gott.
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#2

Aufbruch.

in Diverse 13.06.2008 17:49
von Maya (gelöscht)
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Hallo nizza,

zwar las ich den Text schon mal irgendwo, aber - das hört sich jetzt blöd an – erst jetzt weiß ich ihn richtig zu schätzen. Ich kann ja mal eine Interpretation anbieten, die sich vielleicht mehr oder minder mit der Intention deckt:

Ein dunkler Morgen, der nach Abend roch,
sah mich an unbestellten Feldern stehen,
und über diesen eine schwarze Wolke sehen,
die klamm und kalt in meinen Kragen kroch,


In S1 erkenne ich ein lyrI, das sich und die Umwelt verzerrt wahrnimmt. Die pessimistische Einstellung wird anhand der schwarzen Wolke symbolisiert, die nicht wirklich vorhanden ist, sondern nur das Ich sieht. Diese Wolke, die auch für den Tod stehen könnte, kriecht lediglich dem lyrI in den Kragen und hindert es, die Felder zu bestellen. Ein Mensch, der sich selbst im Weg steht und Chancen, seien es berufliche oder andere, ungenutzt verstreichen lässt (unbestellte Felder). Sprachlich finde ich leider auch nichts zu mäkeln.

mich zittern ließ, zur Eile trieb, jedoch
ich war benommen, zögerte zu gehen,
und wusste doch, es gab kein Wiedersehen
und kein Adieu; was hielt mich also noch


In Strophe 2 wirkt das lyrI verloren, es weiß nicht so recht, welchen Weg es einschlagen soll, es zögert und scheint unfähig, eine Entscheidung treffen zu können. Einerseits fühlt es sich getrieben und rastlos, andererseits versteht es in dieser Situation nicht, seine Energie auf ein bestimmtes Ziel zu fokussieren und die Kräfte so zu bündeln, dass es geradewegs in eine Richtung geht. Stattdessen hinterfragt es den Sinn des jetzigen Standorts, der vielleicht auf das bis dato Erreichte abzielt.

an diesem Ort, dem Dorf? Was kauerte
in dessen Gassen, grinsend, lauerte
mir anderes, als Blasphemie und Spott?


Das Dorf sehe ich eher als einen Markierungsstein auf dem Lebensweg – und lyrI zieht hier Bilanz, zweifelt solange, bis es fast verzweifelt, wenn es glaubt, nur noch „Negatives“ vom restlichen Leben erwarten zu können. Gerade in Hinblick auf die letzten beiden Strophen könnte man versucht sein, das ganze Gedicht auf den religiösen Bereich zu übertragen – denn inwiefern hätte ein menschliches Wesen denn Blasphemie, Gotteslästerung, zu befürchten? Ich habe nicht den Eindruck, dass dein lyrI sich für einen Überflieger, eine Art Gott hält.

Der Himmel brach, als ich erschauerte,
und fort von dem, was mich ummauerte,
ging ich und ginge ich zu keinem Gott.


In der letzten Strophe findet das lyrI wieder zu sich selbst. Es lässt jene Dinge zurück, die es ausbremsten, es reißt die Mauern ein, die seiner Entfaltung im Wege standen, wobei nicht einmal ausgeschlossen werden kann, dass es dem eigenen Leben den Rücken kehrt. Man könnte die letzte Strophe positiv oder negativ auslegen, das muss wohl jeder für sich entscheiden, es wird ja nicht näher ausgeführt, was ich aber begrüße, weil jeder mit seinen eigenen Wolken zu kämpfen hat, die ganz anders ausschauen können, als die des lyrI. Ich tendiere aber aufgrund des optimistischen Titels zur positiven Deutung. Und nun taucht abermals Gott auf, und ich verstehe das einfach so, dass – welcher Weg einem auch immer von Gott vorgeschrieben zu sein scheint – man das nicht als Schicksal abtun sollte, wenn man unglücklich ist. Ob Gott den Weg des lyrI anerkennt oder nicht, spielt am Ende keine Rolle mehr, es macht sich frei von dem Gedanken, Gott Rechenschaft über seinen Lebensweg ablegen zu müssen – es geht einfach dahin, wo es glücklich wird.

So, nun ist es doch mehr geworden, als ich zu schreiben beabsichtigte. Gefällt mir, dein Sonett.

Gruß, Maya
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#3

Aufbruch.

in Diverse 13.06.2008 22:05
von Simone • Mitglied | 1.674 Beiträge | 1674 Punkte
Ich hab das irgendwie gar nicht so kompliziert gelesen…
Das LI wird wegen seines Glaubens verachtet, ist unerwünscht. Kann sich aber nicht entscheiden zu gehen weil es an der Heimat hängt. Am Ende geht es, und ist sich seines Glaubens sicher und ist sicher zu Gott zu gehen, weiß aber auch, dass es trotzdem gegangen wäre auch wenn Gott nicht „auf ihn warten“ würde, weil es einfach richtig ist …

Die ersten beiden Zeilen in S1 gefallen mir absolut gut, danach hab ich ein Problem. Der Morgen sieht mich am Feld stehen und sieht wie ich etwas sehe … das ist jetzt nur rein subjektiv, aber mir ist das zu umständlich formuliert.

In S2 finde ich das „doch“ V3 nicht so dolle wegen dem „jedoch“ in V1

Und dann stört mich noch das „grinsend“ in S3 weil es einfach so drangeklatscht ist.

… Was kauerte
dort grinsend in den Gassen, lauerte

würde sich für mich besser anhören.

Ansonsten gefällt es mir gut.

Gruß Simone

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#4

Aufbruch.

in Diverse 16.06.2008 09:52
von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Hallo nizza,

ich kannte das Sonett noch nicht. Es ist atmosphärisch sehr dicht und schafft es trotz der dichten Form sehr gut zu fließen. Rein sprachlich stolpere ich beim letzten Vers, aber dazu später.

Ein dunkler Morgen, der nach Abend roch,

Für mich markiert hier der Abend das Ende von etwas, einem Tag, wobei der Tag mal metaphorisch auch ein Lebensabschnitt sein kann, so im Sinne von "Lebensabend".

sah mich an unbestellten Feldern stehen,

Wie Maya schon sagte. Das lyrI löst sich hier von seinem alten Leben, dem Dorf. Dieser Entschluss scheint lange gereift zu sein, aber doch - vielleicht unbewusst - schon in fernerer Vergangenheit getroffen worden zu sein. Deshalb hatte es schon vor längerem aufgehört, die Felder zu bestellen, da es wusste, dass es zur Ernte eh nicht mehr da sein würde.
Die schwarze Wolke ist für mich die Angst vor der Veränderung die gepaart ist mit der Unsicherheit aufgrund der unbestellten Felder sein altes Leben schon aufgegeben, aber noch kein neues zu haben. Diese Unsicherheit und Furcht treibt es zur Eile, möglichst schnell wieder Grund unter die Füße zu kriegen.

In der zweiten Strophe wird sich das Ich seiner bereits vollzogenen Abnabelung bewusst (und wusste doch, es gab kein Wiedersehen), die Angst und vielleicht vergessen geglaubte positive Heimatgefülle lassen es jedoch zögern.

Was genau dieses Zögern bewirkt, wird in dem ersten Terzett bedacht. "Blasphemie und Spott" scheinen das Ich dem Dorf entfremdet zu haben, wobei ich mich an der Stelle frage, ob es die Blasphemie und der Spott ist, die ein zynisch gewordenes lyrI dem Dorf entgegen bringt und die es los werden will oder ob ein gottfestes lyrI hier der Blasphemie und dem Spott des Dorfes gemeinsam mit seinem Gott entfliehen will.

Darauf gibt das letzte Terzett Auskunft. Es ist auf jeden fall kein zynisches, spöttisches Ich. Aber es muss auf jeden Fall auch nicht streng gläubig sein, bloß weil es die Blasphemie und den Spott nicht länger ertragen kann. Das ist es, dem es entfliehen will. Und selbst wenn es draußen keinen Gott fände, wäre es lieber dort als hier im Dorf, wo Gott verhöhnt wird.

Jetzt verstehe ich auch die Konstruktion des letzten Verses und finde sie sehr gelungen.

Der aufbrechende Himmel bedeutet also das Auseinanderbrechen der Angstwolke. Das macht den Weg frei für den nun folgenden unausweichlichen Aufbruch des Ichs.

Die einzige Stelle, an der die strenge Sonettform durchbrochen wird, ist beim Enjambment zwischen dem zweiten Quartett und dem ersten Terzett. Denn dort begänne meines Erachtens ja der neue Abschnitt der Conclusio, die ja im Prinzip schon bei der Frage "was hielt mich also noch...?" beginnt. So hängt diese Frage zwischen den Abschnitten wie auch das lyrI zwischen seinen Lebensabschnitten.

Dominierend in diesem Aufbruch ist interessanterweise die Rückschau und nicht die ungewisse Zukunft, die nur im letzten Vers kurz angedeutet wird. Das spricht für eine gewisse Zuversicht bzgl. der Zukunft. Das lyrI ist noch sehr im Loslassen verhaftet.

Im Prinzip ist diese hier mit dem Dorf und der Blasphemie beschriebene Situation auf wohl viele einschneide Aufbruchsituationen übertragbar. Gefällt mir jedenfalls sehr gut.

Würde auch gerne mal wieder öfter hier was von Dir lesen.

Grüße,
GW

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