#1

Helsinki

in Arbeitshügel 10.10.2006 15:51
von Motte (gelöscht)
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Wir schieben uns durch die Stadt über unzählige Schwellen von einer Atmosphäre in die nächste und jedesmal fällt man ein bisschen als hätte man eine Treppenstufe übersehen. Da ist der Park und ich fühle erstmals Herbst, weil ich ihn riechen kann, den Laubschmelz. Die Felsenkirche ist ein Déjà vu, ein schon vorab im Traum erkannter Platz, in den ich nun wirklich erwache.

Im Souvenirladen finde ich mitten im Farbgeklimper Weihnachten, in der Schneekugel, in der ich selbst stehe, weil die Lapplandmütze mich verwandelt in eine Winterreisende. Da ist das Stiefelknirschen und Schneekristalle, die auf Gesichtern zerknistern, das dumpfe Klopfen von Fausthandschuhen aufeinander und schon bin ich in einer Geschichte die Gerda, die Kai sucht und ihr Herz dem Eis entgegenschlägt.

Dann lass ich alles auf den Gehsteigen liegen und hebe neues auf.
In einem Park stehen zwei Statuen nebeneinander entgegengesetzt, rechte an rechte Schulter, die sich nicht berühren und ich laufe um sie herum, dass sie in einer Umarmung verschmelzen und die eine die Stirn der anderen küsst.

Wenn es regnet in dieser Stadt, scheint Wasser in allem zu sein und daraus zu bestehen. Der Regen fällt schwer und voller Geschwindigkeit als müsste er nicht Sorge tragen, sich jemals zu erschöpfen. Er fließt auf die Erde in üppigen Strömen, in andauernder Gleichzeitigkeit. Die Tropfen fallen in Reihen, in militärischem Rhythmus, aneinandergekettet als hätte auf ihrem langen Weg nichts sie abgelenkt, keine Windbö, die sie auseinander reißen könnte. Ein großes Manöver, Geprassel von Geschützen, die zielsicher sind zu 100 Prozent alle Naturgesetze auf ihrer Seite, unmöglich auszuweichen, alles aufweichend. Wie ein Vorhang voller Falten, der sich niemals lichtet. Lebten wir in solchen Wassern, müssten wir kalt sein und undurchlässig.

Ich halte Gesehenes unter meinem Regenschirm gefangen, bedecke die Augen gegen neue Bilder, um die anderen zu verlängern und auf der Netzhaut zu behalten, unter dem Schirm unter dem es auch schon regnet als hätte sich darunter ein eigener Himmel gebildet, denn ein Himmel allein könnte soviel Wetter nicht halten.

Die Stadt kennt meine Widersprüche und nimmt mich nicht als etwas Ganzes auf. Sie sieht mich in Teilen und fährt durch die Bruchstellen. Das Wasser schwemmt die Fäule aus den Ritzen, die Plätze sind bracke Seen der Zivilisation und ich denke an die Dinge, die in mir abgestanden sind.

Dann ragt orthodoxe Gewaltigkeit vom Regen dunkel gestrichen in das Grau, als habe es die Wolken selber angestrahlt. Ich schrumpfe zu etwas kleinem zusammen und nur meine Ehrfurcht behält ihre Größe.

Vorm Ritterhaus dann zündet Kronleuchterlicht eine Gier in meinen Augen an. Es fällt durch Fenstervierecke wie blinkende Almosen, gebrochen wie Brotkrumen vor meine Füße und ahnen lässt sich nur, wie´s im Saal sich voll verteilt, geschlossene, frühere Abendgesellschaften umschien, die Stimmen und ihr Kleiderrauschen heute noch mit sich trägt und den nächsten Gästen wie Geflüster anstiftend ins Ohr legt.

Die Seitengassen dann erholen mich. Ich suche Zigaretten und rauche mich in mich zurück, löse die Verhaftungen, Gedanken, die noch woanders kleben, reiß sie ab und ziehe Ausgespanntes ein, die Fühler der Neugierde bis die Gasse mich plötzlich auf den Domplatz spült. Es regnet nicht mehr, doch ich lasse den aufgespannten Schirm auf meiner Schulter liegen als müsste ich mich vor soviel Himmel aufeinmal schützen.

Der schneeweiße Dom ist klarer, schlichter Glaube, jung und ideal, staubabweisend, neugeboren, von Höckern und Buckeln der Traditionen frei, hochpoliert antik! Als sei die Klassik grad erfunden und sofort vollendet, unreflektiert und stolz ueberzeugt!
Im Innern: warmlichtiges Christentum, zentralbeheizt und feierlich.

Stecke eine Kerze an für dich, um dich neben mich zu stellen und bin tatsächlich betroffen, trotz der vereitelnden Erwartung, die man in solche Rituale legt.
Die Orgeltöne lassen mich wurzeln neben dir. Ich frage mich, mit welchem Teil meines Körpers ich sie höre, weil ich sie nicht orten kann. Sie stellen sich ganz in mich hinein wie Säulen, sie bohren sich tief und entschieden in meine Brust. Sie saugen Demut, bis ich in die Knie will, obwohl ich nicht kann, doch aufrecht fließen die Tränen nicht ab, die sich in mir gebildet haben wie Sonne die Wolken bildet, wenn sie heiß genug scheint und die Wassertropfen einfach von irgendwo in den Himmel versetzt. Sie finden nicht das Ufer der Augen und laufen einmal ganz durch mich hindurch, den großen Kanal der Orgeln.

Ich trete nach draußen und merke wie ruhig und fest der Ort ist, von dem ich gekommen bin, wo das Wirre, Trübe hinabsinkt und zum Bodensatz wird, wo man in den Laachen steht, die aus einem selbst heraus geflossen sind. Ich merke wie die gebotene Sicherheit mich geschwächt hat, denn schon greift der dämmerblaue Wind mich an und rührt mich um, scheint nirgendwo seinen Ursprung zu haben und nur wer einen Körper hat, kann gestoßen werden durch das Dunkel, in dem dich Richtungen versickern.

Und wenn mich vormals Orgeltöne sorgsam und kein Blutäderchen verletzend aufstießen und teilten, zusammenlaufend in einem geraden kühl-klärenden Strahl, der alles Beschämende einfach verbrennt, ohne mich zu stürzen, mir – scheinbar – wirklich etwas zu rauben, ohne mir die Fähigkeit zu nehmen: zu stehen, es nur in die eigene Hand nehmen, mich stehen zu lassen, so merk ich nun, dass nichts unumstößlich ist, dass ich und immer alles schwankt, denn das, was halten kann und Boden hat, steht auch nicht still.

Dort sehe ich ein Haus und etwas ist an ihm wie das, in dem du beinahe gewohnt hättest. Später erfahre ich, dass jenes Haus als einziges den Stadtbrand von 1808 überstand und nun als letztes in eine Zeit zurückreicht, die vor dieser liegt, ehe alles in die Asche ging und etwas anderes aus ihr hervor.
Ich spüre eine vergangene Zeit aufsteigen, in der wir Zukunft in leere Zimmer hineinträumten. Es war die beste Zeit, weil alles sein konnte, die süßeste Zeit wie ein Wein für den mein Gaumen nicht mehr gemacht ist, ein Geschmack, der meine Zunge zwingt, Nerven anzuregen, die schon abgestorben schienen und nun schmerzen, wie ein eingerosteter Körper schmerzen würde, wenn er zu plötzlichen Bewegungen aufgescheucht wird.
Diese Zeit, sie kommt durch das Portalhaus und steigt auf den Domplatz, sie stößt an das Jetzt und schiebt es zur Seite.
Ich bin mir nicht mehr sicher, was real ist: Wenn zwei Wirklichkeiten sich nebeneinander stellen und nicht beide gelten können, dann ist keine mehr ganz wirklich.


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#2

Helsinki

in Arbeitshügel 10.10.2006 16:13
von Arno Boldt | 2.760 Beiträge | 2760 Punkte
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Beste Grüße,

Arno Boldt
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