#1

Holz

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 21.04.2006 01:19
von Roderich (gelöscht)
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[b]Holz[/b]


Ich öffne die Augen und kann dennoch nichts sehen. Nach einem kurzen Moment, während dem ich angestrengt ins Schwarz starre, schließe ich die Augen wieder um sie erneut zu öffnen. Das gleiche Resultat: Ich sehe nichts.
Ich bin blind.

Dann wird mir meine Position bewusst – ich liege. Es fühlt sich weich an, als wäre ich in dem Inneren eines großen, flauschigen Pullovers. Meine Hand tastet sich voran, ertastet den weichen Untergrund. Samt. Das könnte es sein. Ich taste mich weiter, stoße weiter rechts auf eine Wand. Sie ist hart – und kälter. Nicht aus Beton. Vorsichtig klopfe ich mit meinen Knöcheln dagegen, es hallt dumpf. Und vertraut. Holz. Eine Holzwand. Und weiter geht die blinde Reise, hinauf, die Holzwand entlang. Ich bin vorsichtig, berühre das Holz kaum. Es ist glatt lackiert, dennoch habe ich Angst, mir einen Splitter einzuziehen. Man kann nie wissen.

Eine Holzdecke. Über mir. Ich kann meinen Arm nicht ausstrecken, sofort stoße ich auf die Decke.

Ich bin in einer Kiste.

Und nun verstehe ich auch, warum ich nichts sehen kann. Ich bin nicht blind. Erleichterung, auch wenn ich trotzdem gerne etwas gesehen hätte. Aber wenigstens werde ich wieder etwas sehen können, sobald ich aus dieser Kiste gestiegen bin. Doch wie soll ich das anstellen? Ich kann keinen Griff ertasten, kein Schloss. Alle Wände scheinen nahtlos ineinander über zu gehen. Ein beunruhigendes Gefühl. Ich weiß, dass es irgendwo eine Öffnung geben muss – wie bin ich sonst in diese Kiste hinein geraten? – aber wo? Hier ist alles so dunkel, ich kann nichts sehen, alle Wände sind glatt, der Boden ist samtig, der Boden ist

Ich bin in einem Sarg.

Ich bin in einem Sarg!

Welcher Idiot hat mich hier hineingesteckt? Tobi? Wahrscheinlich Tobi. Er hat immer die Ideen. Die anderen sind lediglich seine willigen Instrumente. Hammer und Meißel. Besen und Schaufel. Alle erwachsene Männer und doch Kinder geblieben. Wahrscheinlich stehen sie draußen vor dem Sarg und lachen sich halb krumm.
Wieso spielen sie immer mir diese üblen Scherze? Wie damals bei der Weihnachtsfeier meiner Firma. Ich erinnere mich, dass …

[i]... Ich gehe nur kurz auf die Toilette. Alle haben schon ein bisschen über den Durst getrunken, ich bin hier keine Ausnahme. Eigentlich geht es mir sogar grottenschlecht. Ab einem gewissen Alter sollte man nicht mehr so viel trinken. Mitte Zwanzig und schon hat man die Bestform hinter sich. Eigentlich unglaublich. Ich hantele mich weiter, von Türgriff zu Türgriff, alles dreht sich, fast ist es zu spät, als ich endlich die Toilette erreiche.
Ich hänge seit etwa zehn Minuten über der Schüssel, als ich ein Klacken hinter mir höre, das Einschnappen eines Schlosses. Und dann ein Kichern. So schnell es mir mein Kopf erlaubt ohne aufgrund der Rotationsbewegung neuerlich k.o. zu gehen, drehe ich mich um. Die Tür ist zu. Der Schlüssel, der vorhin noch auf meiner Seite steckte, ist weg. Wo er nun steckt, kann ich leicht erraten – selbst in meinem Zustand.
Eingesperrt auf dem Häusel! Es gibt nichts Schöneres! Ich rufe nach draußen, höre nur noch das Kichern von Tobi und Marlen und sich entfernende tapsende, unsichere Schritte. Und dann bin ich allein. Überall der Gestank meines Erbrochenen, der Raum klein (wenigstens brennt das Licht), die Wände kahl und dreckbeschmutzt. Jetzt, wo ich genauer hinschaue, sehe ich auch noch Spuren von Scheiße am Toilettenrand ...[/i]

Ich bin fast drei Stunden dort drinnen gesessen und habe die Ansprache meines Chefs verpasst, was mir gleich einmal einen ordentlichen Malus für das beginnende neue Jahr bei ihm verschafft hat. Erst nach meinem Weihnachtsurlaub habe ich erfahren, dass Tobi ein „Außer Betrieb“-Schild an die Toilettentür gehängt hat. Den Schlüssel hat er natürlich entfernt und versteckt. Erst als er gegangen ist, hat er mir den Schlüssel unter dem Türschlitz durchgeschoben. Als es mir mit meinen vor Wut zitternden Fingern endlich gelungen war, die verdammte Tür aufzusperren, war er schon weg. Und ich war im Urlaub.

Genau die gleiche, dämliche Aktion wie heute. Manche Geschichten wiederholen sich immer wieder. Doch dass er mich jetzt in einen Sarg gesteckt hat, übertrumpft alles. Das ist die größte Sauerei von allen, die er bis jetzt mit mir angestellt hat. Wenn ich nicht so ein gutmütiger Kerl wäre, ich hätte ihn schon längst zu Brei geschlagen. Er hat natürlich immer seinen Spaß mit seinen „Scherzchen“, wie er die Quälerei nennt, aber was ich dabei empfinde, kümmert ihn nicht im geringsten. Überhaupt scheint sich niemand für meine Gefühle zu interessieren. Das war immer schon immer so. Wie damals, als ich ...

[i]... Ich spiele Fangen mit meinen Freunden. Am Schulhof, in der Pause. Wie jeden Tag. Das Wetter ist schön. Die Sonne scheint. Es ist schön hier. Keine Schule, nur Pause. Nur Fangen spielen. Das mag ich. Ich laufe. Ich bin dran. Ich kann nicht so schnell laufen, wie die anderen Kinder. Günter ist der Schnellste. Ich laufe ganz schnell. Vielleicht schaffe ich es heute, Günter zu fangen. Das habe ich noch nie geschafft. Er ist immer schneller. Ich stolpere über eine Wurzel. Blöde Wurzel. Und dann falle ich hin. Es tut weh. Mein Knie tut ganz weh. Ich schreie und weine, aber die anderen spielen weiter. Dann kommt die Frau Lehrerin. Sie bringt mich zum Doktor. Sie nimmt mich bei der Hand. Ich drehe mich noch einmal um. Jetzt ist Karin dran ...[/i]

War das wirklich meine Kindheit? Ist das die einzige Erinnerung, die mir von meinen ersten sechs, sieben Lebensjahren geblieben ist? Habe ich alle anderen verdrängt? So sehr ich mich auch bemühe, Fetzen meiner Kindheit aus meinem Unterbewusstsein hervorzukramen – es gelingt mir nicht. War es wirklich so schlimm? Wo sind all die schönen Erinnerungen an endlose Sommer, an Eistüten, so hoch wie Berge, an die schönen Geschenke zu Weihnachten? Mein erstes Weihnachtsgeschenk, an das ich mich erinnern kann, ist ...

[i]... Was soll das? Ist das wirklich alles? Ich habe mir doch so sehr die neue Legoburg gewünscht. Ich muss lächeln und mich freuen. „Danke Mama, danke Papa! Ja, ich freue mich wirklich darüber. Das wollte ich immer schon haben.“ Ich will heulen. Nein, ich bin ein großer Junge. Ich will nicht heulen. Aber eigentlich will ich es doch. Ich war mir sicher, dass in diesem Packerl die Legoburg ist. Deshalb habe ich mir das Packerl auch bis ganz zum Schluss aufgehoben. Und jetzt ist da so ein blödes Mikroskop. Mit dem man tote Fliegen anschauen kann. Ich will keine toten Fliegen anschauen, ich will meine Ritterburg! Das verstehen sie nicht. Niemand versteht mich. Aber ich habe es ihnen gesagt. Ich will die Ritterburg, habe ich gesagt. Ich habe es extra auf einen Zettel geschrieben. Und jetzt habe ich nur so Mikroskop ...[/i]

Ich war schon ein undankbarer Fratz, wenn ich mich zurück erinnere. Meine Eltern haben dieses Geschenk für mich mit Bedacht ausgewählt, haben lange überlegt. Das haben sie mir vor einigen Jahren erzählt, als wir bei einem Gläschen Wein zusammen gesessen sind. Sie waren überzeugt, dass ein Mikroskop mich geistig stimulieren könnte, dass damit mein Forscherdrang geweckt werden könnte. Im Nachhinein stimme ich Ihnen völlig zu, aber damals, als Kind, war das eine Tragödie. Ich weiß noch, dass ich mich viele Jahre lang nicht auf Weihnachten gefreut habe, weil ich der Ansicht war, dass ich ohnehin nicht das bekommen würde, was ich mir wünschte. Erst mit den Jahren kommt die Einsicht und die Erkenntnis, dass Weihnachten mehr bedeutet als nur Geschenke. Als Kind kann man das nicht verstehen. Ich weiß nicht, wie viele Kinder noch von unerfüllten Weihnachtswünschen traumatisiert sind. Denn ja, solche Erlebnisse, wie banal sie als Erwachsener auch zu sein scheinen, graben sich tief im Unterbewusstsein des Kindes ein wie ein fetter Wurm, der dir die Gehirnwindungen verstopft.

Doch was nützen mir all die Erinnerungen und die schönen Erkenntnisse, die ich daraus ziehe, wenn doch mein vorrangiges Ziel sein muss, aus diesem vermaledeiten Sarg herauszukommen. Von Tobi ist anscheinend keine Gnade zu erwarten, immerhin liege ich nun schon eine Weile hier. Wie lange kann ich nicht sagen, da meine Uhr kein Leuchtziffernblatt hat, aber mir kommt es wie eine Ewigkeit vor. Wahrscheinlich werden es in Wirklichkeit ein paar Minuten sein. In der Dunkelheit verliert man das Zeitgefühl.

Ich hatte eigentlich nie Angst vor der Dunkelheit. Ich habe mich immer wohl gefühlt in ihr, sie als schützende Hülle betrachtet. Oft bin ich in der Nacht vor dem Badezimmerspiegel gestanden, habe hineingestarrt und war froh, nichts gesehen zu haben. Nur Schemen. Die Andeutung eines Kopfes, eines Halses. Mehr brauchte ich nicht zu sehen, mehr wollte ich nicht sehen. Die Dunkelheit war mein ureigenes Metier. Doch nun, gefangen in dieser Dunkelheit ohne Fluchtmöglichkeit, sieht die Sache anders aus. Ganz anders.

Es kann nicht Tobi gewesen sein.

Die Erkenntnis trifft mich wie der sprichwörtliche Blitz. Bei mir äußert sich das in einem Zusammenziehen aller Bauchmuskeln.

Er ist in München bei unserem Lieferanten.

Es war nicht Tobi.

Wer sonst?

Warum?

Ich liege hier in einem Sarg und habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich hier hineingekommen bin. Die einzige plausible Möglichkeit hat sich gerade verabschiedet.

Was mich am meisten quält: Warum?

Ich muss hier raus!

Ich erinnere mich an den Film Kill Bill von Quentin Tarantino, als Uma Thurman, die Braut, sich mit Hilfe ihrer asiatischen Kampfkünste aus einem Sarg boxen hat können. Ich versuche zwei, drei Schläge, doch weder kann ich asiatische Kampfkünste noch ist der Sarg, in dem ich liege, eine ähnlich instabile Holzkiste wie der in dem Film. Nein, dieser hier ist massiv. Teuer. Ein Sarg, der gebaut wurde, damit das, was drinnen liegt, auch drinnen bleibt.

Angst.

Zerfetzen.

Das erste Mal. So richtig.

Nerven.

Beruhige dich, beruhige dich. Noch ist nichts verloren. Das alles wird sich schon noch klären, keine Bange! Du bleibst hier nicht lange liegen. Es kommt sicher wer, um dich hier herauszuholen. Sind bestimmt schon unterwegs. Mit Schaufeln. Und Kränen. Gleich, nur noch einen Moment. Entspanne dich. Spare deine Kräfte. Damit du dann allen die Hand schütteln kannst. Einen Burger essen. Danach. Hast du dir verdient, wirklich. Vergiss die Diät, heute ist ein Burger dran. So ein richtig großer. Menü. Natürlich, mit Pommes und Cola. Scheiß auf die Kalorien. Wenn du wieder draußen bist, musst du feiern. Feiern. Feiern. Feiern. Fei ...

[i]... Es ist gleich fünf Uhr. Heute höre ich pünktlich um fünf auf. Nur noch wenige Minuten. Tick tack, tick tack. Herrlich – wie die Sekunden sausen! Tick tack. Nur habe ich mich immer noch nicht entschieden. Insofern ist es nicht gut, dass die Zeit so schnell vergeht. Sage ich es ihnen? Wie nur? Einfach ein lockeres „Kommt ihr morgen eigentlich zu mir? Ich habe heute Geburtstag, morgen können wir uns bei mir ein wenig zusammensetzen, ein bisschen feiern, ihr wisst schon. Oder seid ihr am Samstag schon verplant?“ Kommt auch nicht gut. Die lockere Nummer habe ich einfach nicht drauf. Das kann ich vergessen. Überhaupt: Will ich wirklich, dass die alle morgen in meine Wohnung stürmen? Die meisten sind ohnehin Arschlöcher. Tobi. Max. Frau Zeidt. Die haben mich ja schon zu Weihnachten schief angeschaut, als ich ihnen ein frohes Fest gewünscht habe. Nein, die brauche ich nicht in meiner Wohnung. Wirklich nicht! Aber wie nur die anderen einladen? Von Tür zu Tür gehen? Aber diejenigen, die ich nicht einlade, werden sich bestimmt gekränkt fühlen. Wir sind schließlich Kollegen und unter Kollegen lädt man sich ein. Andererseits würden sie wahrscheinlich eh nicht kommen. Oder es kommen nur die, die ich eigentlich gar nicht dabei haben möchte. Gratis saufen. Die Anständigen, mit denen man reden kann, haben ja alle Familie, die haben sicher schon was vor. Garantiert! Mit den Kindern in den Zoo oder schwimmen gehen. Die haben sicherlich keine Zeit für mich.
Es ist schon fünf Uhr? Dann wurde mir die Entscheidung ja abgenommen – ich habe keine Zeit mehr, die Leute zu fragen. Ich gehe nach Hause. Heute um Punkt fünf, weil mein Geburtstag ist. Keine einzige Minute länger – an meinem Geburtstag mache ich doch keine Überstunden ...[/i]

Am Abend bin ich allein zu Hause gesessen und habe mir einen Film angeschaut. Dazu ein Bier getrunken, zur Feier des Tages. Auch am Samstag war ich allein. Am Sonntag dann Kaffee und Kuchen bei meinen Eltern. Die alljährliche Langeweile am Geburtstag. Ich war wenigstens wieder rechtzeitig zum Hauptabendprogramm zu Hause.

Der mieseste Geburtstag, den ich bisher hatte – sogar für meine Verhältnisse unglaublich.

Was habe ich mir dabei gedacht? Wieso einfach nicht den Mund aufmachen und ein paar Kollegen fragen? Hätte ja nicht weh getan. Aber so eine Geheimniskrämerei um meinen Geburtstag machen. Niemand in der Firma weiß, wann ich Geburtstag habe, bis auf den Personalchef, da es in meiner Akte vermerkt ist. Interessant ist nur, dass mich niemand jemals auf meinen Geburtstag angesprochen hat. Niemand.

Ich muss das unbedingt ändern, wenn ich hier wieder draußen bin. Einfach meinen Geburtstag im Outlook eintragen, dann sieht es jeder. So wie die anderes es auch machen. Kann ja nicht das Problem sein.

Wie lange reicht eigentlich

Ja, das werde ich morgen machen, gleich in der Früh.

die Luft?

Verdammt, jetzt habe ich mir selbst einen Floh ins Ohr gesetzt. Luft. Das habe ich nötig, dass ich mich jetzt selbst in Panik versetze. Luft. Wird schon reichen. Bin ohnehin bald wieder an der frischen

Luft.

Außerdem habe ich noch genug, denn ich weiß, dass ...

[i]... „Das Atemzugvolumen des Menschen beträgt bei einem normalen Erwachsenen zwischen 0,5 und 0,8 Liter. Hermann, was gibt es hier zu tuscheln? Ich bitte um Ruhe! Also, zwischen 0,5 und 0,8 Liter, wie gesagt. Ein Erwachsener atmet etwa 12 mal in der Minute ...“
Mein Gott, ist mir langweilig. Wenigstens muss ich beim Mitschreiben nicht Mitdenken. Ist sowieso sinnlos. Zwei Wochen nach der Prüfung habe ich den Stoff eh wieder vergessen.
„... und das heißt, dass ein normaler Mensch pro Minute zwischen sechs und zehn Litern veratmet ...“[/i]

Ich habe die letzten Minuten sehr schnell geatmet, auch sehr tief. Natürlich, die Angst. Sagen wir, dass ich etwa zehn Liter in der Minute geatmet habe. Das sind 0,1 Kubikmeter. Wie groß wird die Kiste eigentlich sein? Zwei Meter ist sie sicherlich lang, vermutlich länger. 2 Meter 30. Wahrscheinlich. Nehmen wir es mal an. Und hoch? Nicht einmal einen Meter. Da bin ich mir sicher. Ich kann meine Arme nicht ausstrecken. Vielleicht 80 Zentimeter. Und genau so breit. Also 0,8 Meter mal 0,8 Meter mal 2,3 Meter. Ergibt

also

Warum bin ich im Kopfrechnen so schwach? Das gibt es doch nicht!

0,8 mal 0,8 ist noch leicht – das ist 0,64. Aber das multipliziert mit 2,3. Runden wir halt. So genau muss es nicht sein. Ein bisschen mehr als die Hälfte von 2,3, also ungefähr 1,4 bis 1,5. Das müsste hinkommen. 1,5 Kubikmeter Luft. 15 Stunden.

Genug Zeit. Genug Luft. Alles kein Problem. Entspanne dich! Denk an was Schönes. Denk an ... denk an ... Julia ...

[i]... Meine Hand streicht über ihren nackten Körper, ihren schlanken Bauch, ihre festen Brüste, die feinen Halslinien entlang, bis zu ihrem Mund. Wie schön sie ist! Drei Monate sind es schon und immer noch entdecke ich jeden Tag eine neue Kleinigkeit, die mir vorhin nicht aufgefallen ist. Heute: Dass ihre Lippen die gleiche Farbe wie ihre Brustwarzen haben.
Sie lächelt und küsst meine Fingerspitzen.
„Hast du mich denn nicht schon satt?“
Sie tut so, als ob sie überlegen würde, dann schüttelst sie vehement den Kopf. „Nö. Aber halte dich ran, dass sich das nicht ändert.“
Dann lachen wir beide.
Es tut gut, zu lachen. Ich habe so viel gelacht in den letzten drei Monaten, so viel. Als könnte ich gar nicht mehr aufhören damit. Als müsste es immer so weitergehen. Dann beuge ich ... mich ... zu ihr hinab, küsse ... sie ... zärtlich ... ich fühle mich einfach wohl ... einfach wohl ... ge ... bor ... gen ... woh ...[/i]

Verdammt! Das gibt es doch nicht! Wie kann man nur so blöd sein? Eingeschlafen bin ich, eingeschlafen! Ich weiß nicht einmal, wie lange ich gepennt habe. Ich kann ja nicht auf die Uhr blicken. Aber ich fühle mich, als hätte ich Tage geschlafen. Total steif. Gliederschmerzen. Ich reibe meine Augen, versuche, krampfhaft, ein Gähnen zu vermeiden. Da liegt er, fällt es mir ein, da liegt er in seiner gemütlichen Kiste, reckt sich und streckt sich.

Gehen wir zusammen in die Kiste?

Was ist los mit mir? Drehe ich jetzt völlig durch? Das kann doch nicht sein! Wach auf, wach auf!

Wakey, wakey, eggs and bacey.

Schnauze! Konzentration! Das ist nicht zum Spaßen hier, das ist nicht lustig. Ich vermodere in einem Sarg und anstelle mich darauf zu konzentrieren, wie ich hier wieder raus kann, reiße ich blöde Witze.

Aber es lacht ja keiner darüber. Bist schließlich nur du hier. Und du erzählst die Witze ja.

Aus! Das reicht. Halt die Klappe! Bin ich etwa schon ein Schizo? Ich führe Selbstgespräche, mein Gott! Ja, ich habe früher auch schon immer viel gedacht und manchmal auch laut gedacht. Aber so was? Nein, ich bin doch kein Schizo! Ich nicht! Soweit wird es noch kommen, oder was? Runter mit dem Puls. Vernünftig denken. Streng dich an, Mann

oh, ein Reim!

und versuche, hier wieder raus zu kommen. Aber erst einmal wieder beruhigen. Abkühlen. Woran habe ich eigentlich gedacht, als ich eingeschlafen bin? Ach ja, Julia. Es ist klar, dass ich eingeschlafen bin. Bei der Schnarchnase! Bin froh, dass es vorbei ist. Ist schon wieder eine Zeit her, drei, vier Jahre vielleicht. Mittlerweile habe ich mich ja wieder ganz gut erholt. Aber diese Julia ... Tut heute noch so, als wäre sie es gewesen, die Schluss gemacht hat. Dabei hat sie einfach kein Feuer gehabt, keinen Zunder. Mir ist es langweilig geworden mit ihr. Dann habe ich einen Schlussstrich gezogen. Das kann man natürlich auslegen, wie man will, aber faktisch bin ich es gewesen, der die Geschichte beendet hat. Das „Es ist aus zwischen uns“ ist dann nur der letzte, formale Akt. Die Unterschrift sozusagen, die eine gescheiterte Beziehung besiegelt.

Und schon ist er wieder oben, der gute Puls. Nicht an Julia denken! Blöde Idee. Das regt dich nur wieder auf.

Nein, da stehe ich drüber. Ist schließlich schon vier Jahre her. Was interessiert mich das, was vor vielen Jahren mal war?

Du liebst sie immer noch, stimmt’s?

Ach, was weißt denn du? Groß daherreden, das kannst du! Aber in Wirklichkeit hast du keinen blassen Schimmer, wie es in mir aussieht!

Ich [i]bin [/i]in dir.

Geh weg, du dummer Schizo! Quatsch mir nicht drein, lass mich in Ruhe.

Ja, Ruhe. Das hast du schließlich so gerne. Das [i]brauchst [/i]du. Hast du nicht damals auf dem Klo genug Ruhe gehabt? Das war doch wunderbar, oder? Und als du nicht mehr mit den blöden Kindern spielen musstest? Im Krankenzimmer war es so ruhig. Genau das hattest du nötig. In der Schule warst du auch immer der Ruhigste. Immer brav mitgeschrieben. Kannst nun Volumen berechnen. Das ist schön. Und dieser herrlich ruhige Geburtstag, den du gehabt hast! Und hast du dich nicht über die Maßen gefreut, als du endlich Julia aus deiner Wohnung weg hattest und du wieder allein ruhige Abende verbringen konntest? Ja, du brauchst die Ruhe. Das ist deine Heimat.

Halte endlich die Schnauze!

Mein Armer, ich weiß, du hättest es jetzt gerne wieder so ruhig wie damals – und, ehrlich gesagt, sind die äußeren Umstände dafür ja mehr als gut. Du liegst drei Meter unter der Erde in einem Sarg. Kannst du dir ein ruhigeres Plätzchen auf Erden vorstellen? Aber ich lasse mir nicht den Mund verbieten, nicht heute! Ich will es mal so ausdrücken: Du kannst mir nicht entkommen, denn hier und jetzt gibt es nur uns. Drei Meter unter der Erde. Das ist meine Gelegenheit.

Ich höre dir nicht zu!

Doch, du hörst mir zu. Denn du selbst bist es, der gerade diese Gedanken ausformuliert. Das ist das Tolle an dieser Situation – du musst das, was du hier hörst, auch noch auf deine eigene Kappe nehmen. So, wie du auch dein ständiges Scheitern auf deine eigene Kappe nehmen musst. Nur du allein darfst dich verantwortlich fühlen für den Verlauf deines Lebens. Du selbst. Du hast dich in einen Sarg gesperrt, dein ganzes Leben lang. Und nun wunderst du dich, dass dich niemand aus dem Sarg befreit? Sie glauben alle, dass du tot bist! Denn du hast niemals gelebt. Nun liegst du wirklich in so einer Kiste – und fühlst dich beengt? Du müsstest dich heimisch fühlen, mein Freund, denn das ist deine natürliche Umgebung. Holz. Das Material, aus dem du geschnitzt bist. 15 Kubikmeter Luft. Der Raum, in dem du dich bewegst.
Ich weiß nicht, wie du hier hineingeraten bist, ich weiß auch nicht, wie du hier wieder raus kommst. Aber ich weiß eines: Eigentlich warst du schon immer in diesem Sarg.
Und ich verrate dir ein kleines Geheimnis: Du wirst auch in diesem Sarg sterben. Und wenn irgendjemand aus irgendeinem Grund irgendwann einmal diesen Sarg öffnen sollte, so wird er eine vermoderte Leiche finden, die ihre Arme verkrampft nach oben gestreckt hat und am Sargdeckel finden sich Kratzspuren im Holz.
Und jetzt schlafe noch ein bisschen. Spare dir deine Kräfte für deine letzten Atemzüge. Nicht, dass du dich vorher schon verausgabst. Warte auf den Showdown, wenn die Luft ausgeht – und dann gib noch einmal alles, was du hast! Ich will etwas zu lachen haben.

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#2

Holz

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 27.04.2006 18:00
von Olaf Piecho (gelöscht)
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da war wohl da thema etwas zu "unlecker". Ansonsten kann ich mir nicht erklären, warum noch niemand auf den Text reagierte. Sehr gelungen ist der Text...und - wer wollte es bestreiten - hier kann jemand richtig spannend erzählen! Sehr interessant und gut - der Text.

Grüße von Olaf

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#3

Holz

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 27.04.2006 23:25
von Roderich (gelöscht)
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Hallo Olaf,

ich danke dir sehr für dein Lob und dass dir die Geschichte nicht zu "unlecker" war. Freut mich, wenn ich unterhalten konnte.

Grüße

Thomas

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#4

Holz

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 29.04.2006 19:50
von Gemini • Long Dong Silver | 3.094 Beiträge | 3130 Punkte
Hi Rod

Der einzige Grund, warum die Geschichte nicht so viele Kommentare erhält, kann nur an der für das Internet ungünstigen Länge liegen, denn dies ist bestimmt eine der besten Geschichten, die ich jemals von dir gelesen habe. Zuerst belächelte ich deinen Versuch, so eine Situation darzustellen, da ich mir erwartete, dass es eine platte Angelegenheit werden würde, in der jedes Klischee bedient wird.
Aber als ich mich in die Story hineingelesen hatte, gab es kein Zurück mehr für mich. Der Schluss hat mich begeistert!
Gratuliere dir. Da ist dir eine sehr tolle Geschichte gelungen.

LG Gem

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#5

Holz

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 29.04.2006 20:03
von kein Name angegeben • ( Gast )
Hab sie jetzt erst gelesen, bei mir ist es ähnlich wie bei Gemini; mir ging es beim Lesen wie einem Ertrinkenden auf hoher See: die ersten 2 m kann er noch nach oben schwimmen, danach wird er unerbittlich zum Grund gezogen - diese Geschichte gab einen nicht frei bis man unten angekommen war.

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#6

Holz

in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 09.05.2006 23:29
von Roderich (gelöscht)
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Hallo ihr zwei,

sorry fürs späte Melding, aber ihr wisst schon. War noch nicht flügge. Oder so was in der Art. (So ein Jetlag geht ganz schön aufs Gehirn ...)

@ Gem: Vielen Dank für dein Lob. Mann, da bin ich ja ganz hin und weg! Was soll ich da noch sagen? Freut mich ungemein, wenn es dir trotz der Länge so gut gefallen hat.

@ Swann: Auch dir ein Riesendankeschön für deine Worte. Allerdings muss ich sagen, dass ich schon ein bisschen ein schlechtes Gefühl habe, wenn ich dich so jämmerlich absaufen habe lassen.

Viele Grüße euch beiden

Thomas

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