#1

Verharren

in Liebe und Leidenschaft 09.10.2005 20:45
von Richard III | 868 Beiträge | 871 Punkte
Verharren

I.
Du bist nur eine vage Geste - flüchtig leicht,
ein kurzer Augenblick, ein Lider senken - zart.
Ich habe einen Flügelschlag lang nur verharrt:
Du bist ein Schatten, ein Gedanke – unerreicht.

Doch dies Verharren war, als stünde alle Zeit,
als klängen Lieder mir und alle Welt wär taub.
Es war, als wäre der Moment die Ewigkeit
und neben mir zerfiele alles Sein zu Staub.

II.
Ich drehte mich und trat in Trümmer dieser Welt:
Es schwieg nun alles still, kein Laut mehr, der mir singt -
Nur leises Weh, ein Ruf, der aus der Kehle dringt,
verzagt verklingt und jedes Licht in Schatten stellt.

Dein Schemen flog und wisperte mir ein Gedicht -
Geübte Hand umfing mein Sehnen sanft und weich,
entfloh mit mildem Griff und rief der Nacht das Licht,
erschuf in eisgetränktem Hauch ein warmes Reich.

Du hast getrunken, ich war trunken und ertrank
und ließ verfallen, was noch leuchtete und glomm,
zerfiel in tiefste Schluchten, zog dich mit mir - Komm!
hieß meine Stimme dir, bevor mein Klang versank.

III.
Was war es, das mir flammend zu zerstören bot?
Ich wähnte mich im Himmel, war der Flammen blind,
der schwelend Feuer, drängend in frostigem Wind -
Du fuhrst hindurch, so schön und botest mir nur Tot.

Nun fällt mein Wesen in die Asche, die ich schuf,
bezahlt für einen Blick, ein Lider senken – zart;
Nie wieder fühl ich Schönheit, nie mehr deinen Ruf;
Ich habe einen Flügelschlag zu lang verharrt.

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#2

Verharren

in Liebe und Leidenschaft 10.10.2005 11:00
von GerateWohl • Mitglied | 2.015 Beiträge | 2015 Punkte
Hallo Ric,

Hach, warum nur verharrt das Glück stets nur Augenblicke?
An den ersten Teil erinnere ich mich gut. Das Sein zerfällt am Ende zu meinem Leidwesen immernoch zu Staub und bildet nach meinem Gefühl eine ungewollte Parallele zu der Asche am Schluß, durch die das dort Ich watet. Dashalb gefällt mir das Zerfallen des Seins zu Beginn nach wie vor nicht so gut, da sich das Zerfallen ja erst in negativer Weise danach vollzieht.
Ansonsten schaffst Du es das hohe Niveau der sprachlichen Bilder der ersten Strophen problemlos zu halten.

Die ersten Beiden Strophen beschreiben für mich wunderbar einen Glücksmoment, ds perfekte Gleichgewicht zwischen Nähe und Ferne, Realität und Fantasie, Gewissheit und Zweifel, und das Ich nimmt diesen Augenblick bewusst wahr, wodurch es diesen Sekundenbruchteil voll auskosten kann.

Teil 2 beschreibt keine Zweifel, keine Fantasie, sondern nur die Realität und Gewissheit der Ruinen der Beziehung, die den oben beschriebenen Glücksmoment enthielt. Das Ich steht in den Trümmern und vermisst die vergangene, glückliche Zeit. Die zweite Strophe des zweiten Teils beschreibt, wie die Liebe begann. Davor war das Ich ebenfalls wie jetzt auch von kalter Dunkelheit umgeben, die durch das Du erhellt und erwärmt wurde. Wie schon im ersten Teil wird hier die Sanftheit der Verbindung, die zu dieser großen Erfüllung und dem bewußten Glück führte beschrieben. In der dritten Strophe wird angedeutet, dass das Ich von dieser Verbindung im Gegensatz zum Du überwältigt war. Das Ich fiel in ein Loch, in das es das Du hineinziehen wollte, wohin dieses ihm aber nicht gefolgt ist. Ich denke, das Ich nimmt hier die Schuld für das Scheitern der Verbindung auf sich. Möglicherweise hat das Ich geklammert, wollte diese zarten, flüchtigen Glücksmomente festhalten und hat sie dabei zerdrückt. So wandelt sich die zarte Wärme in zerstörerische Flammen. Das Du bekommt im dritten Teil dann doch noch sein Fett weg, da es den Flammen nichts entgegensetzt, sondern seine Distanz wahrt. So verstehe ich zumindest den vierten Vers der ersten strophe.

Insgesamt hätte ich mir von dem sanften Flügelschlag des ersten Teils einen etwas sanfteren Übergang zu der Asche am Ende gewünscht, also, dass man nicht gleich zu Beginn des 2. Teils in Trümmern steht, denn so ist es ein bißchen wie beim gucken von The Matrix. Teil 2 und 3 sind actionreicher und gehören eigentlich zusammen.
Keine Ahnung übrigens wieso ich Deine Gedichte neuerdings immer mit Filmen vergleiche.
Sprachlich sind die verse jedenfalls ein absolutes Fest. Ich hätte mir als alter Romantiker natürlich einen optimistischeren Schluß gewünscht. Aber wie soll ein ein Moment unhaltbaren Glücks schon enden.

Sehr schön.
GerateWohl

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#3

Verharren

in Liebe und Leidenschaft 10.10.2005 15:48
von Richard III | 868 Beiträge | 871 Punkte
Lieber GerateWohl,

ich danke Dir sehr für deine einfühlsame und sehr stimmige Interpretation und natürlich fühle ich mich sehr geehrt von deinem Lob.
Im 3. Teil bekommt allerdings das lyrische Du nicht vollkommen sein Fett weg, denn das lyr. Ich erwartet ja gar nicht, daß das lyr. Du etwas entgegenzusetzen hat.
Es tut jedenfalls gut, verstanden zu werden und das ist doch etwas, was ich wohl selten fabriziere.
Ein optimistischerer Schluß ist tatsächlich in der hier von mir dargestellten Situation kaum möglich - aber wer weiß - vielleicht ist dieses Gedicht ja auch noch nicht beendet.
Dank dir viel tausend Mal!

Liebe Grüße
Ric

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#4

Verharren

in Liebe und Leidenschaft 13.10.2005 17:24
von Mattes | 1.141 Beiträge | 1141 Punkte
Hallo Ricarda!

Als ich noch durch die Gegend muhte, bezeichnete ich Teil I. des jetzt in Gänze vorliegenden Triptychons als wunderschönes Liebesgedicht, allerdings so recht ohne Anfang und Ende. Beide Aussagen kann man jetzt korrigieren.

Ein wuchtiges Gedicht über Aufstieg, Erkenntnis und Fall des lyrischen Ich liegt mittlerweile vor und ich akzeptiere zur Not die Rubrizierung unter Leidenschaft, ein Liebesgedicht ist das nach meinem Empfinden nicht mehr, denn Ikarus liebte nicht die Sonne, die ihm die Flügeln versengte, sondern das Fliegen bzw. die Freiheit. Es gibt ein paar Stellen in deinem Werk, die mir dieses Bild einprägten und ich werde es seitdem nicht mehr los. Generell scheint mir das Gedicht übertragbar auf das menschliche Streben nach höheren und höchsten Zielen, das zwangsläufige Scheitern daran und die Erkenntnis, dass es für die Suchenden unter uns trotzdem alternativlos ist. Dabei ist austauschbar, wonach wir suchen und das macht die Güte eines/dieses Gedichtes bzw. der Kunst aus, wenn jeder seinen Teil daraus mit nach Hause nehmen kann. Wir sprachen unlängst über den Unterschied zwischen Gebrauchslyrik und echter Posie: Hier hast du ihn.

I.
Der Auftakt zeigt bereits deutlich, worum es geht: „der Mensch in seinem Wahn“ (Schiller), dem flüchtigste Gesten und Schatten ausreichen, um sich in diesen seinen zu stürzen. Verharrt er nur einen Moment, ist es schon zu spät. „Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt...“ (Kafka) Natürlich ist das lyrische Ich überzeugt, einer großen Idee, einer Eingebung zu folgen und geradezu zwanghaft wird diese überhöht. Allerdings wird die Erkenntnis hier bereits vorbereitet: Das lyrische Du ist unerreicht. Der Mensch wächst aber an seiner Aufgabe, alles andere schrumpft oder zerfällt sogar zu Staub. Strophe 2 ist eine wundervoll gelungene, poetische Umschreibung krankhaft übersteigerten Wahns. An Teil I. ist auch weiterhin nichts auszusetzen.

II.
Der Mittelteil zeigt die Erkenntnis des Protagonisten, dass das hohe Ideal nur die eine Seite der Medaille ist. Brachial und gleich mit dem ersten (wunderbaren) Satz und einer insgesamt bemerkenswerten ersten Strophe wird hier das Elend des Verführten deutlich. Ich stolperte ein paar Mal über das in den Schatten gestellte Licht, bis auch mir endlich ein solches aufging: Diese Phrase steht i.A. für das Übertreffen einer Sache/eines anderen. Wenn ich Licht in den Schatten stelle, dann strahle ich vermutlich heller als tausend Sonnen und spätestens an dieser Stelle funkte es bei mir, dass sich das Werk eben auch als Allegorie auf jedes menschliche Streben nach Erkenntnis anwenden lässt: Wie oft schon hat der Mensch die Büchse Pandoras geöffnet, weil es eben in seiner Natur liegt, und wie oft hat er es bedauert?

Im Moment, in dem die Szenerie in meiner Lesart vom lyr. Du überstrahlt wird, täten die Schemen (=Schattenbilder) eigentlich noch besser daran, zu fliehen (das Fliegen wäre besser in Zeile 3 unterzubringen), meinetwegen fliegen sie aber auch davon: Das falsche Bild, welches sich das lyr. Ich gemacht hatte, wird jetzt korrigiert, die Verführung wird deutlich (die Betonung auf dem letzten E des Wisperns irritiert metrisch ein wenig). Dennoch verharrt (!) das lyrische Ich noch bei seinem Wunschbild: In Zeile 3 dieser 2. Strophe sollte es allerdings nicht mit, sondern besser dem milden Griff entfliehen aber auf jeden Fall realisiert es, dass es selbst das Licht gerufen hatte und sogar dem eiskalten Atem des lyr. Du noch Wärme zugestanden hat. Ich gebe gerne zu, dass meine Interpretation an dieser Stelle am brüchigsten ist, was aber wiederum zum Bruch in der Geschichte passen würde.

Jedenfalls wird jetzt abgestürzt, wobei ich die erste Zeile der dritten Strophe sehr gelungen finde: Das lyrische Du hat dem benebelten lyr. Ich den Nektar abgesaugt und nicht etwa umgekehrt; die Sucht/der Wahn hat zugenommen (getrunken) und in tiefste Schluchten untergehen und zwar allein muss darüber das lyr. Ich, wobei das Zerfallen in etwas hinein mir sprachlich sehr gewöhnungsbedürftig erscheint. Das lyr. Ich versucht noch, das lyr. Du mit in den Untergang zu ziehen aber der Klang und damit auch der Nachhall des lyr. Ichs versinkt.

III.
Schuld und Sühne, das lyr. Ich hadert mit dem Schicksal und seiner Schuld. Im Moment der Ernüchterung ist zwar noch die Erkenntnis präsent, wie verführerisch das lyr. Du war, doch wie es die Gefahr übersehen konnte, ist unklar. Zeile 3 der ersten Strophe ist leider der (einzige) Tiefounkt des langen Werks: zum einen wegen der übertriebenen Elision bei den schwelenden Feuern und – noch mehr – bei dem harten Metrikbruch in frostigem Wind. Vielleicht beckmesserisch aber mich fröstelt es da auch. Auch Zeile 4 erscheint mir verbesserungsfähig: Ich begreife zwar, dass die Schönheit des lyr. Du vom Fahrstil getrennt werden musste aber die gefundene Lösung empfinde ich als suboptimal. (Bitte beim Tod noch den Tippfehler korrigieren)

Strophe 2 dagegen greift die Einleitung sehr schön wieder auf und schließt den Kreis. Ein Augenblick, ein Flügelschlag genügt, um sich vom Wahn verführen zu lassen. Die Wehklage ist zum Glück nicht weinerlich geraten, sondern der Ernüchterung angemessen und die eigene Verstrickung bleibt auch erwähnt. Das lässt auch den Schluss zu, dass das lyrische Ich seinen Untergang als alternativlos akzeptiert, da man zwar fliegen soll und muss, dabei, also in diesem Hochgefühl, in dieser Trunkenheit aber eben nicht verharren darf.

So, das ist mir jetzt ein wenig ausgeufert und ich entschuldige mich für etwaige Wiederholungen und/oder überflüssige Ausschweifungen. Ich habe dir dabei noch vieles erspart . Man mag meinen Überschwang für eben so abenteuerlich übertrieben erachten, wie die eventuell vorliegende, geradezu sensationell überzogene Beschreibung einer simplen Verliebtheit, möge aber ins Kalkül ziehen, dass ich interpretatorisch eher bei Otto Hahn und der Entdeckung der Kernspaltung und der daraus mehr oder weniger direkt entstandenen Atombombenentwicklung bin, deren Explosion von Augenzeugen zuweilen als „heller als tausend Sonnen“ beschrieben wird.

Na ja, nächstes Mal schreibe ich besser nur, dass es mir wirklich gut gefällt, das reicht vermutlich auch.

Digitally Yours

Mattes

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#5

Verharren

in Liebe und Leidenschaft 13.10.2005 18:15
von Richard III | 868 Beiträge | 871 Punkte
Lieber Mattes,

Nun, daß dir meine Zeilen gefallen,ist nicht wirklich klar zu erkennen. Ich danke dir sehr für diese ausführliche Kritik und Interpretation. Nur muß ich in mehr als einer Hinsicht widersprechen, wenn ich auch weiß, daß Interpretation immer im Auge des Betrachters liegt – Gebrauchslyrik eben.
Dieser Ikarus liebt tatsächlich nicht die Sonne, die ihm die Flügel verbrennt, sondern eben gerade die Freiheit des Fliegens, die ihn jedoch zu Fall bringt. Hier wird etwas herausgefordert, was nicht existiert. So wie Ikarus zu sehr auf sich selbst und seine selbstgebauten Flügel vertraut, so vertraut das lyrische Ich zu sehr auf seine eigene Urteilskraft und scheitert daran. Eine Form von Wahnsinn, sich zu sehr auf den eigenen Verstand zu verlassen und darauf zu vertrauen, alles unter Kontrolle zu haben. In diesem Wahnsinn beginnt dieses Gedicht und das lyrische Ich erkennt sein Fehl und die Trümmer, die er selbst schuf. Trotz dieser Trümmer verharrt es und stürzt sich damit vollends in den Ruin. Die Erkenntnis, sich diesen selbst geschaffen zu haben ist ernüchternd. Das ist alles und das ist das Ende – bislang!
Ich erkläre meine Gedichte auch nicht gerne, aber deine Interpretation hatte mir zuviel Überhöhung, wenn sie für mich auch niederschmetternd ist, denn soviel Ehre für meine Zeilen machen mich sehr verlegen!
Deine formalen Kritikpunkte sind nicht anzugreifen und ich werde sie versuchen in geeigneter Weise zu berücksichtigen.
Noch einmal danke ich dir für diese Auseinandersetzung und verbleibe schuldbewußt zurück, daß ich nicht genug danken kann, da mir einfach die Worte fehlen.

Liebste Grüße
Ric

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