#1

Sonnenmorgen

in Natur 14.02.2005 20:56
von kein Name angegeben • ( Gast )
Sonnenmorgen

Goldwabernd
hinter dem kahlgeschorenen Schwarzwinterwald
steigt glitzerndes Gleißlicht zum Grauhimmel.

Schnellfließende schnobernde Wolkenschiffe
ziehen mit zärtlicher Gebärde gen Norden.
Es riecht nach Schnee.

Die weiträumig in Wasser getauchte Wiese
spiegelt den saumseligen Sonnenauftritt:
doppelte Vergoldung der Wintervögel,
die weiß gurrende Taube auf dem Dach
und die schwarz glänzende Amsel im Gesträuch
werden zu Lichtboten des dämmernden Alltags.

Doch ach!
Fahler Winterhimmel
vereinnahmt die verwegene Lichtbringerin
und grau wird grauenhaft.

Winter, harter Herrscher und Prüfstein alles Lebendigen,
lichtarm und der Sonne abhold,
wer dich übersteht,
hat gute Karten für den Frühling.

Wir aber verharren sonnenfern.

C.: Bettina M. Januar 2003








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#2

Sonnenmorgen

in Natur 17.02.2005 13:56
von levampyre (gelöscht)
avatar
Hi Bettina,

dann werde ich mal versuchen, mich deinem Text anzunehmen und ein wenig mit dir darüber zu plaudern, weil ich mich mit diesem Stil, in dem du schreibst, noch nicht so gut auskenne. Ich hoffe also zu profitieren.

Den "Natureingang" finde ich sehr gelungen, was die Erzeugung einer eindringlichen Atmosphäre betrifft. Das Goldwabern möchte einen förmlich durchfließen, so daß es sich ebenso anfühlt, wie wenn man in einer winterlichen Atmosphäre von Sonne überflutet wird. Wirklich gelungen.

Leider hält der Text diese Eindringlichkeit des schönen Winters nicht durch. Die Antithese, die du anschließend gestaltest, erlaubt es mir nicht, mich in das Bild hineinzubegeben. Woran genau das liegt, kann ich noch nicht sagen. Ich vermute, es spielen mehrere Gründe zusammen.
1. Die Antithese ist nicht gut vorbereitet und wirft einen erstmal vorschlaghammerartig vom Stuhl. (So schnell kann man gar nicht umschalten.)
2. Die Allegorien häufen sich und schaffen ein distanziertes und abstraktes Bild ("Lichtbegleiterin", "harter Herrscher").
3. Der Text überläßt ab dieser Stelle die Wertung der Szenerie nicht mehr dem Leser, da er eindeutig negativ konnotierte Wörter nutzt. ("fahl", "grauenhaft")
4. Der Text ist schon zu diesem Zeitpunkt zu lang und durch die anschließend ausufernde Gestaltung einer Antithese verliert er zusätzlich an Kompaktheit/Komprimierung.

Nun hatte ich oben schon etwas zu deinem Stil gesagt, was ich meine, weißt du sicher. Nach meiner Erfahrung gibt es 3 Möglichkeiten, Form zu erzeugen.
1. metrisch (also mit den phonetischen Möglichkeiten der Sprache: Reim, Rhythmus, Kadenz, etc.)
2. syntaktisch (also mit den grammatischen Möglichkeiten der Sprache: Sätze, Phrasen, Wörter, etc.)
3. semantisch (also mit den inhaltlichen Möglichkeiten der Sprache: Wortbedeutung, Bedeutungskategorien)
Alle drei Möglichkeiten sind mir von praktischer Seite durchaus bekannt und ich wende sie an und zwar alle drei in unterschiedlichem Maß. Du wendest nur zwei Möglichkeiten an, nämlich die dritte und z.T. die zweite und gestaltest damit eine grundlegende Dreiteiligkeit des Textes: A-Teil: These (schöner Winter), B-Teil: Antithese (harter Winter), C-Teil: Sentenz ("wer dich übersieht, hat gute Karten ...").

Auch deine Absätze sind inhaltlich, sowie grammatisch abgesichert. Was ich nicht verstehe, ist Folgendes:
Was bedingt deine Zeilenumbrüche. Sie scheinen willkürlich gesetzt und reizen damit lediglich optisch. Beinahe jeder Zeilenumbruch stellt ein Enjambement dar. Das Enjambement bewirkt, daß die Pause, die am Zeilenumbruch entsteht, mehr Gewicht auf die Worte am Anfang der nächsten Zeile legt. Nun haben wir hier nur Zeilenanfänge, die wichtig tönen und das wirkt doch etwas übertrieben. Es hat ungefähr die Signalwirkung eines roten Warnschildes vor einer roten Wand, sprich, gar keine.
Was bezweckst du damit? Wie soll man diese Technik verstehen?

LG
vamp

ps.: Solche Ansammlungen willkürlicher Zeilenumbrüche wirken auf mich immer unordentlich und, sorry aber, effekthascherisch, weil sie dem Leser vorgaukeln, daß hier irgendein tieferer Sinn sie bedingen würde.
Man muß sich bedenken, daß Absätze und Zeilenumbrüche (auch in der Prosa) immer etwas mit optischer Kenntlichmachung text-interner Stukturen zu tun hat, also eine Art optische Gliederung ist. Sie erleichtert dem Leser zu erkennen, daß es jetzt thematisch um etwas anderes geht, daß jetzt ein neues Argument gebracht wird, daß jetzt eine Einleitung zuende ist, etc.
In lyrischen Texten gab es nur immer so viele Zeilenumbrüche und Absätze, weil hier metrische Strukturen optisch verdeutlicht wurden, nämlich, daß jetzt ein neuer Vers, daß jetzt eine neue Strophe, etc. kommt. Diese helfende Hinweisfunktion habe deine Zeilenumbrüche nicht. Das meine ich, wenn ich sage, sie wirken willkürlich. Sie folgen keiner inneren Logik.


pps.: Sorry, AB!

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#3

Sonnenmorgen

in Natur 17.02.2005 15:55
von Arno Boldt | 2.760 Beiträge | 2760 Punkte
lev, bitte die edit-funktion nicht außer acht lassen.
danke.

grüße.
arno boldt

- administrator -

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#4

Sonnenmorgen

in Natur 27.02.2005 18:16
von kein Name angegeben • ( Gast )
Hi, vamp!

Erstmal THX für deine eingehende Beschäftigung mit meinem Werk. Um etwas mehr Klarheit zu schaffen, möchte ich erzählen, wie dieses Gedicht entstand, dann wird vielleicht auch das bei dir aufgetauchte Problem der Zeilenumbrüche etwas klarer.
Vor etwa einem Jahr saß ich frühmorgens immer noch (nach einer durchwachten Nacht) an der Korrektur einiger Oberstufenhefte, als die Sonne mit viel Pomp winterlich-kalt aber golden aufging. Einige Zeit später zog sich der Wolkenhimmel zu und es wurde grau und trostlos. In der Zwischenzeit nahm ich vor dem Fenster all die dargestellten Natureindrücke wahr. Kurz nach Beendigung der Arbeit schrieb ich meine Sichtweise in Form des vorliegenden Gedichts auf, verbesserte hier und da noch was und fand dann, dass es "fertig" sei. Die Zeilenumbrüche habe ich für das laute Lesen, den ausdrucksvollen Gedichtvortrag gesetzt, sie haben ansonsten keine sinnordnende Funktion. Das ist schon alles. Nun darfst du mich wegen schnöden Pragmatismus' zerreißen!

lg Angel of Berlin

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#5

Sonnenmorgen

in Natur 02.03.2005 02:19
von levampyre (gelöscht)
avatar
Nein, Angel, das hat nichts mit Pragmatismus zu tun, sondern mit vergeudetem Potential. Was denkst du dir? Man labert doch keinen Ticketverkäufer an der Kinokasse an, wenn man ein Gedicht laut vorträgt! Da geht man doch schon mit einer ganz anderen Erwartungshaltung ran. Und selbst wenn es dem ausdrucksstarken Vortrag helfen sollte, so ist dein Vortragender dann immernoch jemand, der gar nicht rafft, worum es in deinem Text eigentlich geht, weil alle grammatischen Sinneinheiten an den willkürlichsten und nicht immer günstigsten Stellen optisch zerstückelt und damit auseinandergerissen sind und der Text also gar nicht in seiner vollen Ausdrucksstärke erfasst werden kann.

(Jetzt bitte laut lesen, um mal ein Gespür für den Effekt zu bekommen: )

Übrigens empfinde ich es
auch
nicht
als besonders ausdrucksstark, wenn
ein Sprecher mitten
in einer Phrase oder einem
Satz
plötzlich eine Sprechpause
macht. Denn das hat
dann immer soetwas
von einem
Sprachfehler. Stottern ist
cool.
Stottern ist...

Also mal ehrlich. Jeder Sprecher legt doch, | wenn er ans Ende einer grammatischen Phrase oder eines Satzes kommt, | sowieso eine natürliche Sprechpause ein. | Die Stimme senkt sich | und für den Bruchteil einer Sekunde herrscht Stille. | Damit wird die Sprache auf völlig natürliche Weise in sinnvolle und überschaubare Sprecheinheiten gegliedert, | die inhaltlich, grammatisch und sprachlich leichter und schneller erfassbar sind. | Damit käme es auf ganz ungezwungene und natürliche Weise zu einem ausdrucksstärkeren Vortrag. | Warum versuchst du es nicht mal damit | und sparst dir die Enjambements | (die bei sparsamem Gebrauch eine unglaublich starke Wirkung entfalten können) | als besonderen Kniff für den Moment auf, | in dem du wirklich mit einem Kracher kommen möchtest.

Lies dir mal dazu mal den Abschnitt "Betonung auf höherer Ebene" in meinem schicken und völlig neu überarbeiteten (*g) Metrikfaden durch! In diesem Diskussions-Faden geht es ab Seite drei oder so auch um das Enjambement.

LG
vamp

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#6

Sonnenmorgen

in Natur 02.03.2005 09:01
von DOCC (gelöscht)
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Hi Angel,
kurz meine Meinung:
1. ein tolles Stimmungsbild, dass sich für mich aus dem Kampf der Farben und Charaktere ergibt.
2. vamp hat Recht, was den Zeilenkram betrifft (finde ich) - da hab ich jetzt auch gleich noch was mitgelernt.
3. wie findest Du nur solche Adjektive? ("kahlgeschorenen Schwarzwinterwald", "schnobernde Wolkenschiffe", "saumseliger Sonnenauftritt" usw.) Respekt!
Liebe Grüße von
DOCC

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#7

Sonnenmorgen

in Natur 06.03.2005 18:44
von kein Name angegeben • ( Gast )
Hi, DOCC!

Schön, dich hier und auch noch bei meinem Gedicht zu treffen. Danke für deine Zeilen. A propos: Ich liebe Adjektive jeder Art, kann gar nicht genug davon kriegen...Dir wünsche ich noch einen angenehmen Tümpelaufenthalt.

Hi, vamp!

Immer die alte Perfektionistin...Nett von dir, dir so viel Mühe zu machen, mich zu überzeugen. Ich überarbeite es gleich, damit du Ruhe gibst und der Ästhetik Genüge getan ist. Wie Recht du doch hast... Was mir einfällt?? Na, Gedichte natürlich!
Ganz herzlich grüßt euch beide
Angel of Berlin/Bettina

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