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Karl & Carlito - Way of Weh
Karl & Carlito - Way of Weh
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 30.08.2012 23:42von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte
Karls Weh
Karl richtet ein letztes Mal seinen Krawattenknoten. Dann streicht er mit festem Druck mit den Handflächen über sein Gesicht, von der Nase bis zu den Ohren, wo er die nun gestraffte Haut festhält. Es ist nicht so, dass da nur Falten und Furchen sind, wenn er sich ins Gesicht sieht. Da ist so viel mehr zu sehen! Hm. Er betrachtet seine gestrafften Züge, lässt los und - sieht wieder aus wie vorher. So ist es, nicht, nur Falten und Furchen? Ein elegant gekleideter Mann mit etwas, das nennt er den "Schrumpfkopf eines Hochbetagten" auf den Schultern.
Eine Formulierung, die "das müde und traurige Lächeln eines Mannes im Spätherbst seines Lebens" hervorlockt. Eine Zielperson, mit der Karl entgegen der Statuten eine lose Beziehung unterhält, sagt, er benenne sich in Grund und Boden, er tausche die Beziehung zu seinem zerfallenden Körper gegen Comic-Phrasen. Er berücksichtigt diese Einschätzung, verdächtigt aber ihren klugen Klang. Vllt nur Scheiße aus Schlau, die oben schwimmt, auf den Sprachströmen. Verblende mich, ich blende dich. Als er noch Menschen kennen lernte, fragten die bisweilen, ob dieser oder jener Satz ein Zitat war. "Klar." Seine Standard-Antwort auf die Standard-Frage.
"Kenne deinen Feind", murmelt Karl, nimmt einen Wodka aus der Minibar, prostet seinem Spiegelbild zu, trinkt das Schnäpsken in einem langen Schluck leer, wickelt mit leicht zittriger Hand einen Werthers Echte aus, steckt es sich in den Mund und lutscht. Lutscht konzentriert und hingebungsvoll, als wäre es eine Mission.
Rewind
Müsste er wählen zwischen Wodka und Lutschbonbons, würde er nicht lang überlegen. Auch früher, als er mit seinen Süßen noch Hand in Hand ging, lag auf seiner Zunge stets ein süßes Bonbon, ein Sweetie, wie sie damals sagten. Man zog ihn damit auf, dass er nie genug bekomme. Als ob er sich für die Damen krumm gemacht hätte! Doch das behielt er für sich, wohl wissend, dass es eigentlich nicht um seine Gier ging. Insgeheim beneideten ihn viele, Freunde ohne Freundinnen, die allein zu Tanzabenden kamen, ihre Sehnsucht zur Schau stellten, und allein wieder gingen. Diese Vielen ertrugen ihre Ledigkeit nur, mit einer Haltung, die dem Betrachter vermittelte, Zeuge einer öffentlichen Schande zu sein. Einige stellten sich irgendwann die Fragen, ob das noch tapfer war oder bereits masochistische Züge trug, ob man es mal mit Inseraten versuchen sollte oder mit käuflichem Sex. Manchmal ahnte Karl ihre Bitterkeit, die durch vermeintlich blickdichte Sätze schimmerte. Und überlegte, was den Unterschied ausmachte. Und auch seine weniger erfolgreichen oder traurigerweise in Gänze erfolglosen Freunde, fragten, wenn sie ordentlich einen im Turm hatten: Karl, was ist dein Geheimnis? So verzweifelt waren sie. Und er hat ihnen zuliebe da viel rumgedacht. Verschiedenes angenommen und verworfen, war der Sache heiß auf der Spur, und manchmal, jawohl, manchmal, da war's: Ganz knapp. Und flugs, entfernte es sich.
Auch nicht schlecht, erzählenswert, durchaus, die Geschichte seines Aufderspurseins. Während dessen er konzentriert und seriös Unmengen Bonbons lutschte, weswegen ihn Frauen, sekundenweise hingerissen, leicht losgelöst, manchmal keck in die Wange kniffen, damals, in seiner schneidigen Zeit. Und, nun ja.
Jedenfalls, das Ergebnis, in aufrichtiger Kürze: Er hat es nie verstanden. Und weil er es vermied, etwas zu behaupten, wovon er nicht überzeugt war, weil er sich selbst zu Spekulationen nur äußerst ungern hinreißen ließ, konnte er seinen Freunden kein Geheimrezept liefern. Wenigstens einen klugen Rat? Wollte er nicht geben. Was den Unterschied ausmachte? Es war natürlich seine ernsthafte und konzentrierte Art, Süßigkeiten zu vernaschen. Die einer Frau alles über einen Mann verrät, wenigstens all das, was zu wissen sich lohnt.
Seitdem sind viele Jahre vergangen. Irgendwann fand doch noch jeder den Eimer, der auf seinen Arsch passt. Machte ihr ein Kind, baute ihr ein Haus, fütterte sie fett. Und ein Jeder vergaß die verzweifelten Fragen im Suff, mit denen Karl gelöchert wurde. Nur Karl nicht. Der konnte die traurigen Augen nicht vergessen, die so satt davon waren, sich die Nackten kaufen zu müssen, die sich so sehr einer anderen Frau als ihrer Mama anvertrauen wollten. Er trainierte sich ab, eine Süße an seiner Seite haben zu wollen, verbot sich die alten Gelüste und Herzenswünsche, und suchte sich neue, vernünftigere. Und siehe da: dem disziplinierten Geist ist das Fleisch Untertan. Eine Woche oder so lutschte er Bonbons wie ein Weltmeister, bis er sich zwang, mit dem alten Niveau auszukommen.
Play
Jetzt lutscht er ohne Zuschauer. Nicht dass seine Konzentration darunter gelitten hätte: Nebenbei gelingt Anderes, gerade zieht er die Zimmertür zu, schließt nicht ab, den altersmüden Aufzug ignoriert er mit leichtem Bedauern, vllt einem Hauch Solidarität, und geht, mit sorgfältig gesetzten Schritten, die Treppe hinunter.
Wie so oft erfasst ihn Befremden beim Durchqueren der Straßen seiner Kindheit, in denen nichts mehr ist, wie es einst war. Modelleisenbahn-Fachgeschäft, Schuster und Fischverkäufer, Friseure, Fleischer und Eisenwaren-Handel: Karl weiß noch genau, in welchem Haus welche Läden waren, obwohl keiner den Wandel der Zeiten überdauerte; sogar die meisten Namen der Straßen änderten sich mit dem Wechsel der Diktaturen.
Als er jung und schneidig war, flanierte er mit den Schönen über den Adolf-Hitler-Platz; später, als er weniger begehrt war, aber besser verdiente, lud er gereifte Damen zu einem Abendessen im Kerzenlicht auf dem Stalin-Forum; jetzt beschäftigt er sich vornehmlich mit der Struktur des historischen Kopfsteinpflasters, erstaunlich, wie unterschiedlich diese Steine sind! Karl spürt da eine Aversion, auf dem Marktplatz zu stürzen. Das war auch neu: Anhaltendes Interesse für Bodenbeläge.
Sonstige Umgebung betrachtet er kaum. Obwohl viel mehr Reklame und Schaufensterwerbung gezeigt wird, als in seinen guten Zeiten. Seine Freunde, damals, fanden Werbung aufdringlich und vulgär. Karl war stets aufrichtig interessiert. Doch diese Neugier erlahmte mit dem Zeitverlauf. Vielleicht liegt es an mir, denkt Karl. Obwohl bunter und vielfältiger geworben wird als früher, scheint es ihm hinter der Oberfläche öde und leer zu sein, wie nie zuvor. Stabreime, Binnen- und Endreime, holperndes Metrum, Assonanzen: So wird die Lyrik auf Taschenspielertricks reduziert, dachte er mal, die täten alles, um Inuit Eis und Schnee zu verkaufen, billige Slogans für chillige Hogans, mehr sinnvoll wie Dada: ein Dodo, ja, aber insgesamt? tendenziell unseriös, hohle Versbrechungen für Menschen, in deren Bedürfnisse Karl sich nicht mehr hinein zu versetzen traut.
Nur an dem Eckhaus, das seit zwanzig Jahren leer steht und zerfällt, weil sich die Erbengemeinschaft nicht einigt, wirft er einen Blick nach oben: Bauarbeiten legten Bilder aus alten Tagen frei. Rauchwaren Köhler: in ziselierten Lettern über einem Plakat im Jugendstil, auf dem ein Pfeifenraucher im Profil zu sehen ist. Lincoln, der Tabak für den Mann von Welt. Karl lächelt wehmütig. Geraucht hat er nie, weil es ihm einfach nicht schmeckt, aber diese elegante Werbung vermittelte ihm damals den Impuls: sich Pfeife und Tabak anschaffen! Um abends, nach einem Essen mit Freunden, wenn schwerer Wein zu gewichtigen Diskussionen mit Kirchenfreunden führte, die Argumente der weltfernen Pfaffen mit weltmännischem Paffen einzunebeln. Wir haben dem rhetorischen Nebelwerfer auch keine Pause gegönnt, denkt er, doch wir wussten was wir taten, und wir wussten auch, wann Schluss ist. Ach, wilde Jugend!
Da gibt es eine Beobachtung: je mehr er sich dem Leben ausliefert, desto stärker drängt sich das bereits Erlebte auf, aber auch all das, was normalerweise unter der Oberfläche des Tages mitschwimmt. Er will das nicht, will nicht, dass die Welt der Vorstellung die Welt der Tat verdrängt. Lieber lebend sterben, als sterbend leben. Oder so, ungefähr.
Karl biegt in eine Nebenstraße ein, die von dem Marktplatz abgeht. Mit einem Mal gibt es kein Gedränge mehr, dem er ausweichen muss, und anstelle schön anzusehender, aber schwierig zu begehender Pflastersteine liegen Bürgersteigplatten unter seinen Füßen. Jetzt ist es nicht mehr weit. Er könnte den Rest des Weges mit geschlossenen Lidern gehen. Aber Karl ist keiner, der das Glück herausfordert. Doch etwas schneller schreitet er aus, achtet etwas weniger auf die vor ihm liegende Strecke, der Gehstock ist nicht mehr nur drittes Bein, sondern ein unter den Arm geklemmtes flottes Accessoire, dessen silberner Knauf mit der Uhrkette korrespondiert. "Der Eisenwaren-Handel meiner Kindheit lebt nur noch in meiner Erinnerung", flüstert Karl, "aber ich gehöre noch lange nicht zum alten Eisen."
Beschwingt, die letzten Meter zu seinem Ziel, einem unauffälligen Mehrfamilienhaus. Er liest das Schild sorgfältig, bevor er klingelnd seinen Besuch ankündigt. Kirche der letzten Tage e.v. Albern findet Karl diesen Namen, albern, albern, albern. Doch mittlerweile amüsieren ihn diese Kindereien nur noch. Vage und etwas ungläubig erinnert er sich an einen Karl, den mangelnder Ernst entrüstete. Der es persönlich nahm, wenn Spaßmacher Welt und Leben entweihten.
Im Inneren des Hauses gibt es einen Großen Saal, dessen Inneres ähnelt einem Kirchenschiff. Und auch die Möblierung, wenn man so sagen darf. Da sind ein Altar, Sitzbänke, goldgerahmte Gemälde mit sakral anmutender Malerei, sogar eine Kanzel befindet sich gut zwei Meter über dem Boden, auf dem sind Farbenspiele der durch die Buntglasfenster fallenden Sonnenstrahlen. Dieser Ort ist gleich geblieben, all die Jahre hindurch.
Rewind
Karl warf jahrelang bei jedem Besuch einen neugierigen Blick auf das große schwere Buch, das auf dem Stehpult liegt. Schnell stellte er fest, dass es immer an derselben Stelle aufgeschlagen ist. Zwei Seiten, die großzügig mit kyrillischer Kalligraphie und flächiger Goldrand-Illustration ausgestaltet sind. Es gibt ein fünfminütiges Zeitfenster zwischen Einlass und Erscheinen des Auftraggebers. Es dauerte Jahre, bis er den Mut aufbrachte, die Seite umzuschlagen.
Folgendes geschah: Nachdem er sich gebärdete wie ein Ladendieb vor dem ersten Mal, sich also mehrmals umdrehte und jeden Winkel des Saales mit den Augen erforschte, erkannte er, außer dem Donnerschlag seines Herzens weist nichts auf die Anwesenheit eines lebenden Wesens hin. Karl blätterte mit fahrigen Fingern das Pergament um: Die nächste Seite war leer. Das leere Blatt steigerte seine Aufregung noch. Mit wild pochendem Herz und schwitzigen Fingerkuppen blätterte Karl weiter. Nicht nur die Seite, das ganze Buch war leer. "Ein leeres Buch", sagte er leise und fassungslos. Hallte sein Flüstern durch das Nichtkirchenschiff? Verdattert öffnete er das Werk wieder an der Stelle, an der es seit Jahr und Tag geöffnet lag. Und wäre vor Aufregung fast gestürzt, als er auf dem Weg zum Beichtstuhl über die Ecke einer Kirchenbank stolperte.
Wie immer erschien der Auftraggeber erst, als Karl im Beichtstuhl saß – er bekam seinen Auftraggeber nie zu Gesicht. Karl weiß nicht einmal, ob es über die Jahrzehnte hinweg der gleiche oder ob es verschiedene Männer waren, die im Flüsterton, teils in abstrus schlechtem Schulenglisch, über die zuletzt vollendete Mission sprachen und danach eine kurze Einführung in die nächste, zu vollendende Mission gaben. Es war stets der gleiche Ablauf. Ein für Karl nicht endender Quell von Zufriedenheit: Er wusste genau, wenn ein Umschlag unter dem Holzgitter durchgeschoben wurde, in dem sich nähere Erläuterungen zur nächsten Mission und die Bezahlung der letzten Mission befanden, war der Monolog des Auftraggebers fast beendet. Abschließend folgte nur noch die gemurmelte Formel: "Sonstwer sei mit dir. / Geh mit Sonstwem, Filius, aber geh. / Möge Sonstwer über deine Schritte wachen."
Trotz der immergleichen Abläufe entdeckte Karl bis zu seinem letzten Besuch vor drei Monaten stets etwas Neues: Dass die zu der Kanzel führende "Tür" aufgemalt ist, war ihm tatsächlich erst nach mehr als zwanzig Jahren aufgefallen.
Karl fasste das als Beweise für die zunehmende Schärfe seiner Adleraugen und die anhaltende Rätselhaftigkeit dieses Ortes auf und war mit leichtem inneren Kopfschütteln von hinnen gegangen. Zwei Straßen weiter musste er lachen, so offenherzig und tiefenvergnügt, fast wäre ein zufällig in der Nähe weilender böser Geist aus Missgunst an Schluckauf erstickt. Eine weitere Straße später, fast vor der Tür seines Hotels (Zimmer mit Farbfernseher, Fernsprecher und Kleinkühlschrank. Preis: VHB) war er aus dem Lachen ins Grübeln geraten. Die Missionen seiner Auftraggeber waren in seinen Augen durchaus keine Schelmenstücke, er vermochte zwar häufig nicht zu erkennen, an welchem Bild er ein Puzzelstück anzusetzen oder zu manipulieren hatte, denn seine Missionen waren meist Teil eines größeren Ganzen, aber die wenigen Male, in denen er einen direkten Zusammenhang zwischen einer Mission und bspw der vorherigen Mission oder zB Ereignissen der Lokalnachrichten herstellen konnte, wurde mehr als deutlich, dass die Motive seiner Auftraggeber sehr weltlicher Natur waren.
Meistens schien es sich darum zu drehen, auf alle möglichen Arten Geld zu verdienen. Nicht besonders aufregend oder erhebend, fand er, aber nachvollziehbar und im Grunde okay. Eigentlich kein großes Ding. In Karls Weltbild jedoch, das bereits festgefügt war, als er zu der Nicht-Kirche stieß, hatten sich Menschen seriös zu geben, wenn sie vor allem die Absicht haben, Geld zu verdienen. Und einen besonders seriösen Eindruck machten seine Auftraggeber nicht. Das war mal klar.
Diese Seltsamkeit mag der Auslöser gewesen sein von Karls seltsamer Idee und Hoffnung, die seinen erneuten Besuch an diesem Tag veranlassten. Ein Besuch, der von seinen Auftraggebern wahrscheinlich nicht vorgesehen war. Sie hatten ihn nämlich nach der letzten Mission, die - leider - scheiterte, gefeuert. Klar können Missionen mal scheitern. Formtiefs gehören dazu, es kommen wieder bessere Zeiten. Doch Karl war alt, zu gebrechlich für viele Missionen, man lehnte Aufträge ab, obwohl Karl frei war, das dürfe nicht sein, ja, da argumentierte einer betriebswirtschaftlich - und das Alter bewege sich eben nur in eine Richtung, führte der Auftraggeber weiter aus, der Karls Entlassung bei der Team-Sitzung zur Sprache brachte. Mehr brauchte es nicht, um die sentimentale Anwandlung eines anderen Auftraggebers beiseite zu wischen. Sie feuerten ihn und verschwendeten keinen Gedanken mehr an den Ehemaligen, wie es sich gehört. Bis heute.
Ihre Kirche, die keine Kirche ist, war nicht als Ort geplant, zu dem ehemalige Auftragnehmer zurückkehren. Es gibt keine Alumni-Gartenfeste, keine Ehemaligen-Treffen, es wird auch keine Neujahrsmesse gelesen. Es gibt nur einen Grund, die Nichtkirche zu betreten, und der lautet, sich eine Mission zu holen. Aber Missionen werden von angestellten Auftragnehmern erledigt, nicht von entlassenen Auftragnehmern. Es gibt keine heilige Vereinsschrift oder über dem Eingang montierte Zehn Gebote, auf denen diese Regel fixiert ist. Wahrscheinlich denken die Auftraggeber, diese informelle Regel verstehe sich von selbst. Bisher war das auch so. Mehrere sind entlassen worden. Karl ist der einzige, der zurück kam.
Play
Jetztzeit: Eben jener Karl sitzt im Beichtstuhl und sagt, er brauche eine Mission. Missionen würden nicht gebraucht, sondern ausgegeben, antwortet ein Auftraggeber, der sich das erste Mal in jahrzehntelangem Mummenschanz tatsächlich fühlt, wie ein Seelenhirte fühlen mag. Er spürt Flüssigkeit aus seiner Haut austreten. Gefällt ihm nicht. Von dieser Antwort ist Karl nicht überrascht. "Ich möchte eine Mission aufgeben", sagt er und schiebt einen Umschlag unter dem hölzernen Gatter hindurch. Der Auftraggeber<->Auftragnehmer nimmt ihn auf, öffnet und liest. "Ungewöhnlich. Aber wir können das leisten. Sicher, dass Sie suchen wollen? Wir könnten Sie finden lassen." Karl denkt das durch. "Ich will nichts Aufregendes, einfach noch ein wenig ... rumtingeln? Machen Sie das möglich bitte." Kurze Pause. Dreiundzwanzig, zweiundzwanzig, einundzwanzig, zwanzig
"Verstehe. Einen Moment bitte." Karl hört einen billigen Kugelschreiber über Recyclingpapier kratzen. Ein Umschlag wird unter dem hölzernen Gatter hindurchgeschoben. Karl nimmt ihn auf, öffnet und liest. "Zielperson finden. In der dunklen Ecke eines wilden Viertels? Nachtbars und so, vllt sogar Nacktbars. Verstehe. Da ist ein Ort angegeben, von dem aus die Nachforschung beginnen könnte. Mehr nicht. Klingt nach einem harten Job. Aber jemand muss es ja machen. Jemand mit Erfahrung. Auftraggeber, ich erledige das."
"Unser Auftraggeber verlässt sich auf uns. Wir verlassen uns auf Sie."
Karl wartet, bis der Auftraggeber den Beichtstuhl verlässt und kurz darauf den Saal. Und verlässt wenig später den Beichtstuhl und kurz darauf den Saal.
Aber beide gehen in verschiedene Richtungen.
Der Auftraggeber, im Büro, öffnet einen Ordner im Notebook. Fotos verschiedener Schriftzüge auf menschlicher Haut: Man kann wählen aus Fertig-Sprüchen und vorgegebenen Schriftarten, oder sich Spruch und Schrift selbst zusammen stellen. Die groben Züge skizzierte er eben in dem Beichtstuhl, jetzt kümmert er sich um die Details. Karls Anliegen ist zwar ungewöhnlich, es spricht aber nichts dagegen. "Der Auftrag wird ihm gefallen. Ist mal was ganz anderes. Eine Herausforderung." Er wählt ein vorgegebenes Wort aus und erprobt die Wirkung, indem er es auf verschiedene Hautstellen seines Avatars projeziert – Schulter, Schlüssel- und Schambein. Gefällt alles nicht, mttlw fiel ihm auch ein besseres Wort ein. Dass er doch wieder auf die Stirn "tätowieren" wird. Nirgendwo schindet ein Etikett größeren Eindruck.
Carlitos Way
Wieder im Feld. Karl spürt den Aufwind. Den Stock ließ er gleich im Hotel. Dann ging er durch die Gegend, suchte nach etwas unbestimmtem, einem Ort oder einem Mensch, oder nach einer Idee, wie er anfangen könnte.
Nach einer Weile trifft er jemanden am Hauptbahnhof, der aussieht, als könnte er etwas wissen, und gibt ihm etliche Biers aus. Karl will ins Gespräch kommen und formuliert komplizierte Fragesätze, deren letzte drei Segmente sämtlich an seinem Gesprächspartner, der sich "Das" nennt, vorbeirauschen. Karl irritiert Das <-> das irritiert Karl. Kürzere Sätze kann er nicht. Milljöh-Milieu, ist schon was anderes. Nichtkönnen, das ist Pein. Aus der Peinlichkeit flüchtet er, wie es seinen Talenten entspricht. In Bewunderung. Karl ist sehr findig im Bewundern anderer Menschen.
Dass er bei seinem Gesprächspartner lange keine Eigenschaft findet, die der wertschätzenden Erwähnung wert scheint, verstärkt die Irritation. Das, der nach fünf Biers geistige Startposition einnimmt, versteht das Problem nicht, vor dem sein Spender steht. Leidet aber mit Karl, auf nonverbaler Ebene, während Karl sich stetig weiter mit sich selbst verwirrt.
Der Trinker nickt, grunzt und ahat, voller Rätsel, die er traditionell und mit gutem Gewissen ungelöst lässt. Saugt die Flaschen leer und streckt die Pfote aus, in die verlässlich neue Silberlinge für neue Plörre gelegt wird. Karl wird bewusst, sein potentieller Informant war seit drei oder sogar dreieinhalb Litern nicht bei den "örtlichen Wasserspielen". Na also! Bewunderung ergießt sich wie durch einen gebrochenen Damm über den Biertrinker. Der seine Blase mit dem famosen Fassungsvermögen eines Riesendudelsacks in alle Himmel gelobt hört.
Von diesem Erfolg beflügelt gelingt Karl die komplizierte Operation, seine Sätze auf Boulevard-Niveau rückzubauen. Der Schönheit entbehrende Infovehikel, auf Kufen aus übertriebener Freundlichkeit geschnallt. Dafür rafft sein Gegenüber endlich, wovon der Geck die ganze Zeit schwafelt. Ja, geschnallt! Er winkt 'nen Kumpel ran, der auf diesem Gebiete öfter & öffentlich schlaumeiert -> es folgt eine geraffte Version -> die Dinge nehmen ihren Lauf über eisige Pisten des Schwafelns -> der Bewanderte schickt Karl in eine Absturzkneipe. Lokalisierung des Kontaktorts: eine Stichstraße, die von der Geilen Meile abgeht. Kontaktperson: weibliche Servicekraft.
Die wisse was. Lasse sich die Information aber bezahlen.
Das sei kein Problem, sagt Karl, so liefen die Dinge eben. Macht ein Gesicht, von dem er hofft, es sehe aus, als wisse er, wie solche Dinge laufen. Der Informierer nickt verständig und hält eine Hand auf, in die Karl weitere Silberlinge für ein weiteres Bier abzählt.
Dafür gibt's nen Zettel, den er seiner Kontaktperson aushändigen soll. Laufen die Dinge hier auf diese Art, sind Halbweltler derart organisiert? Sind das echte Halbweltler, oder nur Leute, die Leute kennen? Faszinierende Fragen, die ihn auf dem Weg zum beschriebenen Ort im Nachtleben (Nacktleben) beschäftigen.
Vollgestopfte Kaschemme. Zum Eingang drängelt er sich durch, unablässig um Entschuldigung bittend. Ein Strom Menschen fließt aus dem Laden heraus, ein anderer hinein. Karl spürt bei jedem Schritt seine Sohlen am Fußboden kleben.
Vierstündige Happy Hour, Kurze und Shots für einen Euro: steht in kindlich runder Kreideschrift auf einer großen Tafel. Musik wird gespielt. Schlager oder Techno. Oder Schlager auf Techno-Beats. Es ist so laut, dass er den Eindruck bekommt, es sei unmöglich, jemanden zu verstehen, sich selbst eingeschlossen. Trotzdem reden alle. Okay, sie schreien sich an. Verbringen die Menschen so ihre freien Abende? Freiwillig? Karl staunt, entscheidet aber, sich der Lust nicht zu verschließen, sollte sie in Karl einen Wirt sehen. Doch zu allererst die Mission -> Erspäht wird die von seinem Kontakt beschriebene Barfrau! Jedoch die Theke ist von einem dreifachen Menschenband belagert. Geduldig nutzt Karl jede Gelegenheit, sich näher heranzuschieben und wächst an dem Gefühl, eine Prüfung bestanden zu haben, als er eine halbe Stunde später einen Platz erobert. Von dem aus er die Barfrau heranwinkt, was niemanden interessiert.
Stattdessen: Barmann eilt heran und fragt: "Wunsch?" Karl sagt, mit wem er zu sprechen wünsche. Ein verärgerter Barmann schnauzt ihn an, dass er etwas bestellen oder den Platz räumen solle. Hier gebe es keine Extrawürste. Karl versteht nicht, oder tut, als verstehe er nicht. Würste?
"Biatch, bestell was, oder – räume diesen Platz!"
Da fährt ein herber Schreck in seine Glieder nieder! Karl beruhigt sich mit inneren Zählübungen, um beim Antworten nicht ins Stress-Stottern zu geraten. Nach Sekunden fängt er sich. Und macht - höflich aber bestimmt - darauf aufmerksam, er werde bestellen, aber nur bei dieser bestimmten Dame. Barmann sieht ihn scharf an und nickt fast unmerklich. Karl spürt ein Ziehen und weiß, eine Schublade öffnet sich im anderen und saugt ein Image von Karl an, das flugs aus Karl herausfliegt. Barmann sieht aus, als hätte er davon nix mitgekriegt, was der Wahrheit entspricht. Schüttelt endlich den Kopf und ruft :"Tikki, komm bei mir bei, Digger. Dein Typ wird verlangt!"
Sie dreht ihren Kopf, macht einen großen Schritt. Sie sieht, öffnet den Mund und spricht: "Was kann ich für dich tun?" Karl schiebt das Papier rüber, "wie es mir geheißen ward." Tikki überfliegt den Zettel und betrachtet Karl mit hochgezogenen Augenbrauen, bevor sie die Rückseite beschreibt und die Rechnung zieht. "Sieht teuer aus, ist aber billig. Rabatt, Alder, Mann. Erinnerst mich an Polgar. Kennst ihn? Fühlt sich bisweilen so alt, wie du aussiehst. Wird später sicher so'n Schildkrötenkopf kriegen, wie du ihn hast, Alder, Mann." Karl studiert die Rechnung aufmerksam: Drink, eingeschlossen geheime Information: zwanzig Euro. "Ich bevorzuge es, von 'Schrumpfkopf auf Hochbetagtenhals' zu sprechen." Karl immer so hoheitsvoll gegenüber jungen Dingern, seitdem klar ist, es besteht nicht mal Promille-Chance, dieses oder jenes Küken nackig zu machen.
Sie zieht in Zeitlupenmanier die rechte Oberlippe nach oben. Verachtung, denkt Karl. Und fühlt sich zutiefst und schnörkellos verstanden. Kein Hauch von Skepsis und Abwägen, die seit unvordenklichen Zeiten seine Beziehung zu dem jungen Ding an sich überschatten. Ihm wird ganz warm. Ja! Als verstehe sie und wolle der gemeinen Welt in seinem Namen ihre reinweißen Reißzähne zeigen. Tikki schiebt ein doppelseitig beschriebenes Papier über den Tresen. Lehnt sich nach vorn und ermöglicht busenbezüglichen Einblick, den Karl routiniert ignoriert. Er lehnt sich ihr entgegen, ganz sanft und weich im Inneren. Als sie ihn anschreit, erschrickt er kaum.
Trotz ihres Schreiens fühlt er sich so intim mit ihr. Hmmm, Babe, dein Honigtopf. Da ist der Duft ihres Haars, der ihm in die Nase steigt, der so lebendige Hauch von Zigaretten & Bier aus ihrem Mund! Ja, denkt Karl, als wären wir zwei die letzten Übellebenden einer vergessenen Welt, die sich auf einer Bergspitze im geflüsterten Dialekt ihres Zwergtals vergessene Bergzwerg-Gedichtfragmente zuraunen, um sich scharfzumachen für den unvermeidbaren Sex-Marathon, den sie für den Fortbestand ihrer Art zu absolvieren haben. Kaum getrübt wird diese Vision, als Karl erkennt, die Handlung ist in weiten Teilen einem Porno entnommen der Reihe Die Schöne Und Der Alte. Ficken Für Fortbestand. Er meint bereits das Rütteln des Vibrators zu spüren, den sie während seiner tapferen Besteigung im Rahmen einer Doppelpenetration in ihren Hintern einführt. "Ey!", ruft sie und schüttelt ihn aus der Porno-Poesie. "Carlito nennt er sich, der Poser", schreit sie gegen ein Techno-Lied der Schlümpfe an. "Wahrscheinlich so ein Spleen, von Carlitos Way geklaut, sein Name. Egal. Also: Du fragst nach Carlito, capito?!" Karl nickt, versucht das Kunststück, gleichzeitig zu rufen und dankbar und freundlich-höflich und souverän-bestimmt und geheimnisvoll-verführerisch zu wirken: "Soso! ... Kind, wo hast du bloß deine wunderschönen Augen her?" Tikki greift sich unwillkürlich an ihre Titten und sagt, dass praktisch ihre gesamte Ausstattung von ihrer Großmutter stamme, verwitwet, mit ordentlichem Sparstrumpf, stets auf poetischen Mehrwert bedacht und originellen Pornos gegenüber aufgeschlossen. "Sie hat gerade keinen Macker." Karl hängt an ihren Lippen wie hypnotisiert. Das ist ein Gedicht in seinen Ohren! Er nimmt die Visitenkarte, zieht dem schnarchenden Tresennachbarn dessen Handy aus der Tasche und tippt sogleich Omis Nummer ein. "Männer!" Tikki rollt genervt mit den Augen, macht den Besitzerwechsel des Mobiltelefons rückgängig und sagt, ihre Großmutter habe ihr ganzes Leben gewartet, da komme es auf ein paar Stunden nicht an. Karl fasst sich an die Stirn und lacht - "da sind die Pferde mit mir durchgegangen!"
Sie schenkt ihm einen schnellen Wangenkuss, lächelt schmallippig, und in ihrem Lächeln, da liegt ihm alles, was es noch zu hoffen gibt auf dieser Welt. Tikki huscht zu einem anderen Teil der Theke.
Karl probiert seinen Drink, stellt ihn schneller zurück, als er ihn nahm, und reiht sich in die Karawane nach draußen ein. Wo er tief Luft holt und die Rückseite liest. Neue Koordinaten. Nächstes Missionsziel erreicht.
Die Rückseite des Zettels.
Vier Rechtschreibfehler, ein falscher Bezug. Sehr ungleichmäßige Schriftführung. Mehrere Flecken. Flecken, unseriös, denkt Karl, trotzdem, es gilt etwas anderes: Konzentration auf den Inhalt!
Eine Adresse, drei Straßen weiter, Tage und Uhrzeiten. Eine Personenbeschreibung. Wie sieht ein Pork-Pie-Hut aus? Den soll der Nächste nämlich tragen. Kontaktperson: Carlito.
Karl rätselt eine Weile, bis er entscheidet, dass eine 'tätowierte Fresse' eindeutig genug sein müsse. Lächelt auf dem Rückweg der einzigen Person zu, die seinen Blick sucht.
Burger-King-Nutte interpretiert Lächeln typischerweise als dringliches Bedrüfnis nach sofortigem Beischlaf. Schleift ihn einen halben Straßenzug weiter, wo er sich kurz vor dem Beischlafhotel, als die Stimmung von lustig-ernst zu ernst-ernst kippt, aus ihrem Griff befreit. Wofür er Schimpfworte erntet.
Man muss sich doch schon sehr wundern, denkt Karl, während er den Kragen seines Jacketts ordnet. Der weitere Rückzug führt durch Nebenstraßen.
Zurück im Hostel, sieht er aus dem Fenster seines Zehnmannzimmers. Es könnte so einfach sein. Wenn's einfach einfach wäre. Doch wann ist es schon mal einfach? Einfach nie, antwortet sich Karl.
Variationen dieses Gedankens begleiten ihn auf dem Weg in den Schlaf. Aus dem er mehrmals durch zurückkehrende Nachtschwärmer gerissen wird. Um vier, fünf und sieben. Italiener, Griechen und Schwaben, was die Stimmen der Silhouetten verraten, die ihm im Halbschlaf als sprechende Nachtgespenster erscheinen. Wie wundersam, dieses Beisammensein, denkt er auf dem Weg zurück in Morpheus Arme.
Der beginnende Tag: schwüle Wärme im übelriechenden Raum. Dessen Fenster aus irgendwelchen Gründen, die in Karls Augen nur unzureichend von sieben Piktogrammen erklärt werden, nicht zu öffnen sind. Nach einem Schlurfgang zum Klo ekeln ihn die Ausdünstungen seines Zimmers so sehr, dass er beschließt, zum Frühstück zu gehen. Karl schlürft Kaffe und erhofft sich davon so etwas wie innere Reinigung und Erfrischung, wie stets nach quasidurchwachten Nächten, erfolglos, wie stets. Und versucht, das Tuscheln und Kichern der Barbies am Nebentisch nicht auf sich zu beziehen. Nicht auf das zerknautschte Gesicht, die tiefen Nasolabialfalten, die dahingegangene Attraktivität. Natürlich sprechen sie nicht von ihm. Er bemüht sich sehr, ihr Getratsche nicht auf seine anachronistische Kleidung zu beziehen, die, mit Selbstbewusstsein getragen, als vorweggenommener Retrotrend der übernächsten Saison durchginge. Von ihm ist keine Rede.
Einen Tag muss er noch rumkriegen. Die gesichtstätowierte Person mit dem Pork-Pie-Hut wird sich erst am Montag zwischen dreizehn und siebzehn Uhr am beschriebenen Ort aufhalten. Karl stellt sich eine graugesichtige Gestalt, mit gelb-grauen Zähnen und hohlen Wangen vor, die in dem dünnen Falsett des Leibhaftigen nach seinem Begehr fragt.
Carlitos Weh, denkt er, den Titel des Films vor sich hersagend, den die Tresenfee mit den reinweißen Reißzähnen erwähnte. Der Schmerz des kleinen Karls. Brüderchen, was ist dir bloß geschehen? Umsonst wird er diesen Namen nicht gewählt haben. Karl ahnt einen tiefen Schmerz in seinem Namensvetterchen, der die Größe besitzt, ihn durch seinen Namen nach außen zu tragen, ohne wehleidig darauf herumzureiten. Die edle Trauer des argentinischen Gauchos im europäischen Exil, der unter dem silbernen Mond der mecklenburgischen Pampa so tiefe wie schlichte Gedichte auf altes Zeitungspapier schreibt, dessen Silhouette in der Dunkelheit kaum zu erkennen ist. Und seine Galloway-Rinder schlafen, träumen von Rinderliebe und saftigen Wiesen, voller Vertrauen. Sie lieben ihn. Die Rinder lieben den Gaucho. Und das ist richtig und schön.
Karl bedenkt die Verwicklungen, die mit den Verzwickungen zusammenhängen, all die Schwierigkeiten und Hemmnisse, die kleine Karls unentspannt machen. In dieser Welt werden viel zu viele in ein Leben gezwungen, das unzufrieden und dauerverspannt macht. Verantwortlich sind feindliche Mächte aka die Große Maschine: presst all die kleinen Schraubendreher in schwierige Arbeitssituationen, in denen sie verharren müssen, manchmal einfach nur, weil sie vergessen wurden. Manchmal wird der Darm stark gedrückt oder gar umgeknickt. Stundenlang. Ist das denn ein Leben? Es gibt Schraubendreher, die wochenlang keinen befriedigenden Stuhlgang haben. Und was tun wir dagegen? Genau. Und mit dieser Erkenntnis kommt die Wut.
Karl will aufspringen und die schnatternden Mädchen an den Schultern rütteln – wir müssen aufspringen und etwas ändern. Engagement, jetzt.
Aber er muss seine Ausrufezeichen verlegt haben.
Tastet seine Taschen ab, nichts zu machen. Keines da.
Fragezeichen findet er mehrere Hand voll, aber mit denen will er keine Revolution versuchen. Karl sagt die knorrigen Wahrheiten vor sich her, hält die Glut am Leben, und stellt sich der Herausforderung, die den nächsten Teil seiner Mission, wahrscheinlich den vorletzten, wie er annimmt, beherrschen wird: Einen Tag rumkriegen.
Solcherart sind seine Gedanken, mit denen er sich durch die Cafékultur des Viertels treiben lässt. Schmale Gedichtbände in den Manteltaschen, falls es ihm nach Zerstreuung gelüstet. Karl bekommt zu hellen Kaffee und – trinkt ihn trotzdem. Gerät in Gesellschaft<->Untiefen und eine Diskussion und platziert einen Kommentar zum Thema Euro-Bonds, was ihn etliche Minuten und Wortwechsel später erinnern lässt, warum er keinen Anteil mehr an derartigen Meinungsaustauschen nehmen will. Im nächsten Café liest er demonstrativ Gedichte von Rimbaud und Baudelaire, die er natürlich nicht in einem Atemzug nennen würde, oh nein, und wird glücklicherweise nicht mehr von Gesellschaft belästigt. Vereinzelung, Gottseidank.
In den Blumen des Bösen finden sich einige Stellen, die ihn bezüglich seines Vorhabens bestärken und neugierig machen. Ach, wenn es schon so weit wäre, seufzt er. Und beobachtet dicke ältliche Männer, wie sie junge Rumänen oder Bulgaren aushalten, die sie offen betätscheln und beschmusen. Ein paar Küsse werden getauscht, mindestens einer ist feucht, wie ein etwas unangenehm berührter Karl feststellt, der sich schnell wieder in das baudelairesche Versmaß vertieft, bevor er zur Abwechslung nach uneigentlichen Sprachfiguren sucht.
Abends kehrt er in das Hostel zurück und stellt fest, dass das Partyvolk ohne Nachfolger ausgezogen ist.
Diese Nacht schläft er durch. Am Morgen steht er auf. Und geht, nach dem Ankleiden, zum Frühstück hinunter. Über dem Kaffee legt er eine Route fest: Eine halbe Stunde nach dreizehn Uhr geht er die taghelle Geile Meile entlang. Gar nicht so uninteressant, denkt er. Am Tag lässt sie sich in Ruhe betrachten und bedenken. Wie es ein besonderer Ort verdient, gerade so ein geiler Fickschlitten. 'Uneigentliche Sprachfigur', denkt Karl, der den F. durch die Variable ersetzt. Wie geil uneigentlich.
Darüber ein paar Meter machend, bemerkt er die gesuchte Straße gerade noch rechtzeitig, bevor er ein paar Meter zurücklaufen müsste. Biegt links ab, geht an irgendeiner schweineberühmten Polizeiwache vorbei. Ungläubig vergleicht er die Adresse mit der auf seinem Zettel. Doch, er ist richtig. Am angegebenen Platz hocken ein paar Leute auf Treppenstufen, stehen herum, trinken Bier oder halten wenigstens entsprechende Flaschen. Niemand barhäuptig, registriert Karl und diesen Pork-Pie – er machte sich zwischendurch, in einem unbeobachteten Moment, schlau – tragen mehrere. Anscheinend gerade Mode, denkt Karl. Was alles Mode werden kann, nichts und niemand ist davor gefeit. Es könnte selbst mich treffen.
Er wechselt die Straßenseite und geht an der Gruppe Hutträger und schlimmeres vorüber, als wäre er ein Spaziergänger, der sich in diese Gegend verirrte. Dreht um, als er eine kleine Kreuzung erreicht. Hört seine Muffen sausen. Auf dem Rückweg legt er sich Worte zurecht, mehrmals, verwirft sie, ebenso oft. Vor lauter Anspannung ertaubt er sekundenkurz, spürt aber seine Muffen sausen, was ihn beruhigt.
Karl überlegt, unverrichteter Dinge zurückzufahren.
Doch schon tauchen enttäuschte Gesichter auf. Unbekannte Auftraggeber mit unbestimmten Gesichtszügen, aber bestimmt mit Augenringen, vom Weinen. Die ihn so schwermütig machen, dass er sich einen Ruck gibt und auf die Gruppe zusteuert. Landstreicher, Straßenkinder, Schwere Jungs, wie nennt sich diese Personengruppe heutzutage – und wie spricht man sie an, ohne unangenehm aufzufallen? Er weiß es nicht, auf einmal spürt er sein Alter, entscheidet aber, es einfach zu versuchen. Auf ein Geschick vertrauend, das ihm die richtigen Worte in den Mund legen wird.
Und quert entschlossen die leere Straße! Und sieht!, wie sich die Köpfe unisono zu ihm herumdrehen. Und ist froh!, mit keinem Blumenstrauß oder sonstigem Präsent bestückt zu sein. Mit einem Mal ist die Welt voller Ausrufezeichen, die niemand bestellte.
Karl versucht Gesichter zu lesen. Doch da sind keine Geschichten. Verwitterte Flächen wie vor langer Zeit in Stein gemeißelte Allegorien von Untugenden. Freie Liebe!, will er rufen. Verbrecher! Revolution! Schweinebande! Vergebung! Strafe! Tourette-Roulette!
Schnell wird klar, wer seine Zielperson ist - sogar in dieser Gesellschaft ist das volltätowierte Gesicht ein besonderes Merkmal. Niemand fragt: Wie sieht das erst aus, wenn du alt bist? Karl unterdrückt aufkeimendes Mitleid und zwingt sich, emotionslos einen Schriftzug zu lesen, der auf der Stirn steht.
Störfaktor. Herrje, denkt er und sagt: "Durchaus ansprechende Majuskeln."
"Carlito", sagt sein Gegenüber und reicht Karl die Hand. "Glückwunsch. Sie haben mich gefunden. Unser Auftraggeber wird erfreut sein."
Die umstehenden Personen stellen ihre Bierflaschen zu Boden und klatschen. Karl lächelt gerührt und lüpft den Hut mit einer Anmut wie zu seinen besten Zeiten. Ja, denkt er, das glauche ich auch.
RE: Karl & Carlito - Way of Weh
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 02.09.2012 12:13von alba • | 645 Beiträge | 720 Punkte
das war nicht langweilig zu lesen kjub aber irgendwie wirr
der protagonist ist mit selbstbespiegelung beschäftigt wie eingangs verdeutlicht. hat er viel zeit seit er
gechasst wurde dann schreib das am anfang. das bringt ihm mehr mitgefühl ein als diese anzüglichen
geschmacksträger bonbons. du versäumst ihn sympathisch zu machen.
dein sprachlicher stil mag unübertroffen sein. sex ist kein heilmittel gegen alt werden aber unreif bleiben.
lesern einen handlungsfaden zu geben täte der geschichte gut weil sie so lang ist bezogen auf netzkultur.
du verlangst bedingungslose gefolgschaft obwohl der text über den monitorrand hinunter zieht. du weißt
genau dass dabei immer welche verloren gehen.
user die der karl nicht mögen begleiten ihn nicht auf seiner suche nach einem unerkannten ziel wie gestört
auch immer. die geschichte verstehe ich als allegorie oder sowas. den aufbau finde ich problematisch. auch
metaphern sollen in sich stimmig sein und der plot ist für mein verständnis unscharf gezeichnet. miau alba
RE: Karl & Carlito - Way of Weh
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 03.09.2012 11:16von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte
hallo alba,
ist es denn besser, eine figur aus taktischen erwägungen heraus sympathisch zu machen? damit der leser so was wie mitgefühl entwickelt und dabei bleiben will?
roter faden sollte schon vorhanden sein, wird aber immer verschoben. wenn du die geschichte wirr findest, dann ist er vllt einmal zu oft verschoben und damit versteckt worden.
du kannst ja noch mal beschreiben, was du mit unscharfem aufbau meinst und unstimmigen metaphern, das würde mich interessieren.
danke für den kommentar,
kjub
RE: Karl & Carlito - Way of Weh
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 04.09.2012 20:24von salz (gelöscht)
Hi Kjub,
wenn ich einen Plot gefunden hätte, wäre ich mit der Story schon weiter.
Der Bonbonlutscher ist sowenig scharf, daß Prahlerei mit seinen Erfolgen bei den Girls unglaubwürdig rüberkommt.
Was tut der denn eigentlich?
Erzähle mir keiner, der könnte beim Geheimdienst Verwendung finden. Die Jungs da sind schon aufmerksam und befassen sich nicht die ganze Zeit wehleidig mit sich selber. Treffen sich auch nicht in Theaterkulissen. Was soll das für eine komische Kirche sein? Jeder Gemüsestand auf dem Markt täte es besser und billiger.
Soll das als eine etwas langweilig geratene Allegorie gemeint sein, wie s.o. meint?
Bedeutet Werthers Echte schmatzen, für Originalität eintreten, oder ist Karl symbolisch als so ne Art Spamschutzfilter unterwegs? Ist deshalb fast jede Raumausstattung entweder eklig oder hohl?
Der Text redet ständig von etwas anderem und am Ende weiß ich nicht, was das alles sollte.
Aber ich hätte noch einen Tipp: Wohlerzogene Typen mit guter Schuldbildung und regelmäßigem Einkommen, die versuchen über die Szene zu schreiben, übertreiben meistens hemmungslos. Auch einfache Männer suchen manchmal eine zum Quatschen. Und wenn dein Karl ein alter Fuchs ist, weiß er sich zu schützen. Wer überleben will, hat gelernt, wann du in Deckung bleiben mußt. Dein Held liefert sich viel zu sehr aus.
Jetzt bist du wahrscheinlich sauer. Aber immerhin habe ich das durchgehalten und zuende gelesen. Salzige Grüße
RE: Karl & Carlito - Way of Weh
in Kurzgeschichten, Erzählungen, Novellen und Dramen. 05.09.2012 07:35von Kjub • 498 Beiträge | 499 Punkte
Nee, sauer bin ich nicht. interessant war es!
ja, es ist als Allegorie zu verstehen. also das war wenigstens die Absicht. ;-)
die Prahlerei, na ja, die sollte sich nicht in erster Linie darum drehen, zu zeigen, was er für ein geiler Typ ist, sondern den Plot noch mal verschieben, weil er ja meint, am Ende des einen Absatzes, er wäre fertig damit, obwohl er dann halt im Verlauf der Handlung zeigt, dass es nicht so ist.
Zitat
Wohlerzogene Typen mit guter Schuldbildung und regelmäßigem Einkommen, die versuchen über die Szene zu schreiben, übertreiben meistens hemmungslos.
von welcher Szene bitte redest du? das ist sozusagen die Trash-Variante einer Szene. wenn du darauf nicht kommst, tja, dann ist schwierig. man weiß ja immer gar nicht, wie man so was erklären soll.
ich lass es einfach.
es ist doch eigentlich nicht so schwer zu verstehen! ich versteh nicht, dass man nicht versteht, worum es sich hier dreht. wenn ich das jetzt noch sage, mach ich auch nichts besser.
vielleicht ist die Geschichte einfach misslungen.
es bedankt sich für deinen salzigen Beitrag,
Musterschüler Kjub
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