#1

Literatur aus der forensischen Psychiatrie um 1917 ( von otto)

in Gesellschaft 24.11.2018 16:16
von otto | 637 Beiträge | 645 Punkte

Der nachfolgende Text wurde in einer Anstalt der forensischen Psychiatrie 1917 in einer Patientenakte gefunden:

Vergeige den Schwanz und zähle die Bügel,
entsteige dem Herz mit flattern am Grab,
den Säbel geb`frei für den Kaiser am Hügel,
Soldaten verlocke, ihr Vogel sei Rab`.

Ach sperre den Eingang der Otter, den Sumpf,
befrage die Zeichen, die Farben, den Klang,
im Feld graue Lager, dort säge zum Stumpf,
erlasse die Sünden dem Krieger, sei Dank.

Verpuppe die Rechten, und schächte das Schwein,
so trage die Güte zur Not sei ihr Gang,
zur Hilfe ihr Roten, ihr Lied macht nicht bang!

Und nestle die Schwachen, als kehrten sie heim,
Der Stern heiß dir Rußland, es dröhnt ein Gesang,
beeilt euch Chirurgen- watt mutt dat mutt sein.

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#2

RE: Literatur aus der forensischen Psychiatrie um 1917 ( von otto)

in Gesellschaft 24.11.2018 21:28
von mcberry • Administrator | 3.230 Beiträge | 3490 Punkte

Der Text überzeugt mich nicht wirklich, Otto,

du hast schon bessere verfaßt. Wahrscheinlich bin ich auch etwas voreingenommen.
Die Rahmenhandlung kann bedeuten, daß einem Schreiber nach Ablassen einer Ladung Unsinn wäre.
Soweit legitim, aber diesen Wirrwar als Produkt eines Geisteskranken hinzustellen, mißbraucht diesen.
Worauf willst du hinaus?
Tabus sind out. Wir bedürfen keiner konstruierten Erklärung um eine Menge Blödsinn zu produzieren.
Und obwohl die Unsicherheit einer künstlerischen Existenz Gemütsschwankungen begünstigen dürfte,
sind Begabung und Verrücktsein nicht notwendigerweise vergesellschaftet: Keine ernsthafte Bedrohung.
Das sieht man doch auch an uns, nicht wahr? HG - mcberry

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#3

RE: Literatur aus der forensischen Psychiatrie um 1917 ( von otto)

in Gesellschaft 25.11.2018 00:09
von Wilhelm Pfusch • Administrator | 2.006 Beiträge | 2043 Punkte

Ich sehe einen klaren Zusammenhang mit den kürzlichen Gedenkfeiern zum Ende des ersten Weltkriegs.

Vergeige den Schwanz und zähle die Bügel,
entsteige dem Herz mit flattern am Grab,
den Säbel geb`frei für den Kaiser am Hügel,
Soldaten verlocke, ihr Vogel sei Rab`.


Bezug zu Pferdeschwanz und Steigbügeln. Bilder.
Dem flatterndem Herzen am Grabe entsteigen - frühe Untergangssehnsucht.
Sehnsucht nach Kaiser Wilhelm - unerfüllt.
Der ferne Kaiser auf dem Hügel verlockt die Soldaten, Ihr Wappen (Vogel) sei ein Rabe (nicht tief genug angezeigt, suboptimal).

Ach sperre den Eingang der Otter, den Sumpf,
befrage die Zeichen, die Farben, den Klang,
im Feld graue Lager, dort säge zum Stumpf,
erlasse die Sünden dem Krieger, sei Dank.


Mythisierend: Der Abwärtstrend, der Eingang der Otter in den Sumpf.
Weiter mythisierend: Befrage die Zeichen, Aberglaube im Untergang.
Graue Lager, Amputationen: Die Gräuel des Krieges.
Gefällt mir: Erlasse die Sünden dem Krieger, dem Krieger sei dank - doppeldeutig, verdichtete temporäre Conclusio.


Verpuppe die Rechten, und schächte das Schwein,
so trage die Güte zur Not sei ihr Gang,
zur Hilfe ihr Roten, ihr Lied macht nicht bang!


Verpuppte und später leider wieder schlüpfende Rechte nach dem Krieg (Hindenburg -> Hitler). Das Schwein zu schächten - wieder ein doppeldeutiger Bezug, das osmanische Reich und die Suche nach dem Schuldigen.
Gleich die nächste Doppeldeutigkeit: So trage die Güter zur Not, zur Not sei Ihr Gang - Hinweis auf Mangel, Hinweis auf Not.
Dann zur Hilfe ihr Roten, ihr Lied macht nicht bang! - schwer zu entziffern - Kritik nach Osten? Kritik nach Westen? Sarkasmus gegen den Osten? Denn welches Lied konnte so bang machen, dass es einen gen Osten schielen ließ, der damals bereits besiegt war? Evtl. Bezug auf Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Kommunisten, und alles was in den 20ern und frühen 30ern geschah.

Und nestle die Schwachen, als kehrten sie heim,
Der Stern heiß dir Rußland, es dröhnt ein Gesang,
beeilt euch Chirurgen- watt mutt dat mutt sein.


Nestle - Bezug Schweiz, Bezug Kapitalismus? Die Heimkehr des schwachen Kommunismus nach Westen, den totalen Kapitalismus umarmend? Der nach Russland heissende Stern ist ein klarer Bezug zu den deutschen Kommunisten, die zu Beginn des dritten Reiches untergingen. Jedoch, Fehler: Entweder: Der Stern heißt dir Russland, oder der Stern heiß' dir Russland. Der dröhnende Gesang ist klar.
Die Chirurgen beziehen sich auf die Stümpfe -> 2. Weltkrieg, wieder Verstümmelungen und Tod und Vernichtung.

Dann der angedachte große Kracher: watt mutt dat mutt sein - passend? M.E. nein. Schlüssig? M.E. Ja. Versuch alles lapidar abzuschließen. In diesem Zusammenhang zu leger.

Besser wäre es gewesen, dieses zu strecken. Trennung: Erster, zweiter Weltkrieg, in zwei Sonette. Eines ist für die Bedeutungsebene bzw. den Inhalt zu knapp. Alternativ: Nicht dieses lapidare Ende, sondern ein angemessen düsteres: Statt: "watt mutt dat mutt sein." lieber noch mit reinem Reim: "Erstickt uns im Keim!".




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zuletzt bearbeitet 25.11.2018 00:12 | nach oben

#4

RE: Literatur aus der forensischen Psychiatrie um 1917 ( von otto)

in Gesellschaft 25.11.2018 08:10
von otto | 637 Beiträge | 645 Punkte

Lieber Wilhelm!

Eine schlüsige, brilliante Textanalyse,
Danke Dir, otto

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#5

RE: Literatur aus der forensischen Psychiatrie um 1917 ( von otto)

in Gesellschaft 25.11.2018 08:39
von otto | 637 Beiträge | 645 Punkte

Lieber Mc!

Mein Text entstand in der Folge eines Besuches ( Pratikum) in der Psychiatrie. Hier fand ich die Gelegenheit mit einer Patientin zu sprechen. Aber es ist nicht der von Dir bemängelte Text, den ich danach schrieb, denn der folgt noch. Bei einer Lesung, zu der eine Patientin ( ich nenne sie hierin Ella), die sich noch spontan in Reimen zu ihren Erfahrungen den Therapeutin mitteilte, habe ich nur aufgezeichnet, was ich von ihr verstand. Was Du daraus ableitest wird sich zeigen. Ich stelle das in meinem nächsten Beitrag ein.
Herzlich otto

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#6

RE: Literatur aus der forensischen Psychiatrie um 1917 ( von otto)

in Gesellschaft 02.12.2018 21:39
von Wilhelm Pfusch • Administrator | 2.006 Beiträge | 2043 Punkte

Interessant. Für mich war das glasklar der Bezug zum 1. Weltkrieg. Wie man alles in jedes und jedes in alles interpretieren kann. Was auch immer es ist, diese Patientin, der du begegnet bist, sie hat definitiv etwas zu sagen. Sie hatte sozusagen ein "vexed conundrum" zu äußern, ein verschränktes Rätsel.




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